Europäische Verfassungsgeschichte, ausgewählt und hg. v. Willoweit, Dietmar/Seif, Ulrike. Beck, München 2003. LVI, 937 S.

 

Die Verfassungsgeschichte ist in den letzten Jahren wieder vermehrt in das Bewusstsein der Juristen getreten. Die Gründe für die vermehrte Aufmerksamkeit für diese zuweilen vernachlässigte Disziplin sind unterschiedlich. Zum einen ist es die politische Entwicklung, die mit dem Verfassungsprozess in Osteuropa seit 1989 und dem nunmehr gestoppten Verfassungsprozess der Europäischen Union grundlegende Fragen aufgeworfen hat, die man schwerlich anders als (auch) historisch beantworten kann. Zum andern hat sich in der Rechtsgeschichte eine gewisse Auflockerung des zunft- und gewohnheitsmässig behandelten Stoffs ergeben. Sie wird zunehmend umfassend verstanden, eben etwa auch als Strafrechtsgeschichte oder als Geschichte des öffentlichen Rechts und damit auch des Verfassungsrechts. Der Quellenband von Willoweit/Seif ist gerade Ausdruck dieser zu begrüssenden Tendenz.

 

Der Titel weist das Buch nicht als Quellenband aus („Europäische Verfassungsgeschichte“), auch wenn es in der Verlagsreihe ‚Rechtshistorische Texte’ erschienen ist. Zudem ist der Titel insofern fragwürdig, als er die nordamerikanische Entwicklung nicht einschliesst. Insofern wäre eine präzisere Titelgebung zu wünschen gewesen.

 

Der Band wird durch eine fast 50seitige Einleitung der Mitherausgeberin Ulrike Seif eröffnet. Anschließend folgen die Texte in der Originalsprache und gegebenenfalls mit deutscher Übersetzung. Die Texte sind in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil (S. 3–212) werden alteuropäische Staatsgrundgesetze abgedruckt. Darunter finden sich die Magna Charta Libertatum von 1215, die Goldene Bulle Andreas’ II. von Ungarn 1222 oder die englische Petition of Right von 1628. Sodann werden Nachfolgeregelungen, Friedensabkommen zur Beendigung der konfessionellen Auseinandersetzungen sowie Bundesbriefe und Organisationsregelungen, wie etwa für die Schweiz der ewige Bund der drei Waldstätte von 1291, abgedruckt.

 

Im zweiten Teil (S. 215–609) folgen diejenigen Texte, die angesichts des Titels eigentlich zu erwarten sind, nämlich die historischen (oft Verfassungs-) Texte „des konstitutionellen Zeitalters“ seit der Habeas Corpus Akte von 1679. Dieser Teil ist untergliedert u. a. in Menschenrechtserklärungen und in „Vorrevolutionäre Verfassungsdokumente der Aufklärung“. Letzteres steht über der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 (in Kraft seit 1789) und dem Grundrechtekatalog der Amendments I–X (1789, in Kraft 1791). Die hilflose Titelgebung möchte vielleicht darauf aufmerksam machen, dass die amerikanische Unionsverfassung eigentlich gar nicht in diesen Band von Quellen der europäischen Verfassungsgeschichte gehört. Freilich kann das Geschehen in Nordamerika nicht vom geistesgeschichtlichen Kontext in Europa abgesondert werden. Zudem erstaunt es, dass im Band die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die Articles of Confederation fehlen. Die abgedruckte amerikanische Unionsverfassung ist ohne die beiden erwähnten Dokumente schwer zu verstehen. Wiederum zeigt sich, dass den beiden Herausgebern ein gravierender Konzeptfehler unterlaufen ist.

 

Sodann folgen, immer noch im zweiten Teil, die „Verfassungen der Revolutionsepoche“ (Polen 1791, Frankreich 1791, 1795, 1799). Es ist unverständlich, dass die beiden wichtigen verfassungsgeschichtlichen Dokumente Frankreichs von 1793 fehlen: der girondistische Verfassungsentwurf vom 15./16. Februar und die jakobinische oder Montagnard-Verfassung vom 24. Juni 1793. Die Montagnard-Verfassung wurde vom Volk in einem Referendum angenommen, ist dann aber nie in Kraft getreten. Dennoch handelt es sich hier um eine der originellsten Verfassungsschöpfungen der französischen Revolution, die im 19. Jahrhundert einen bedeutenden Einfluss ausübte. Der Gironde-Verfassungsentwurf prägte seinerseits wesentliche Teile der Montagnard-Verfassung. Der Rezensent vermisst ferner wenigstens ein Beispiel einer Verfassung eines französischen Satellitenstaates von 1798. Die übrigen Texte dieses zweiten Teils umfassen die Verfassungen des napoleonischen Zeitalters, die monarchischen Verfassungen und die Bundesverfassungen, wobei der Titel hier wiederum irreführend ist: Bei der deutschen Bundesakte von 1815 und ohnehin der Wiener Schlussakte von 1820 handelt es sich nicht um eigentliche Bundesverfassungen im heutigen Sinne, sondern eher um Verträge. Ausserdem gehörte die weiter hinten abgedruckte schweizerische Bundesverfassung von 1848 hierher.

 

Der dritte Teil (S. 613–717) umfasst die republikanischen Verfassungen, nämlich die schweizerische Bundesverfassung von 1848 oder die Lois constitutionelles der Dritten Republik Frankreichs von 1875, sodann die Weimarer Reichsverfassung (1919), die polnische Verfassung (1921) oder die spanische Verfassung (1931). Es ist nützlich, dass auch die Dokumente der Diktaturen des 20. Jahrhunderts im vierten Teil (S. 721–937) vorgestellt werden.

 

Insgesamt haben die abgedruckten Dokumente dieses Quellenbandes eine beachtliche Spannbreite. Die breite Auswahl ist zweifellos richtig, da die Verfassungsgeschichte auch die Abirrungen und Vorformen der rechtsstaatlichen Verfassung behandeln muss. Ansonsten würde sie ihren Gegenstand verfehlen. Der Nutzen der Dokumente ist freilich unterschiedlich, etliche wurden schon unzählige Male abgedruckt, andere sind auf Internet frei zugänglich und wiederum andere verdienten es, endlich aus der Verschollenheit erlöst zu werden. Die Ursprünge der Übersetzungen werden auf einer Liste (S. LI–LIV) nachgewiesen. Die Herausgeber und ihre Assistenten haben dabei bestehende Übersetzungen benützt und bearbeitet. Dieses Vorgehen ist zweckmässig. In ihm findet sich eine versteckte Hommage an das monumentale Werk von Karl Heinrich Pölitz, Europäische Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis in die allerneueste Zeit, Bände I–III Leipzig 1832, 1833, 1833 mit einem Ergänzungsband von 1841 (jeweils 2. Auflage). Fast alle Übersetzer haben sich an Pölitz orientiert, auch wenn dies früher nicht immer kenntlich gemacht wurde.

 

Die Sammlung wird von Ulrike Seif eingeleitet. Die ersten Sätze bringen die Lesenden zum Fragen: Hat wirklich Emmerich von Vattel 1758 den Begriff Verfassung geprägt? Hat überhaupt ein einzelner Autor den Begriff Verfassung geprägt? – Der Begriff taucht bereits in der oberitalienischen Renaissance auf. Es gibt keinen Autor der den Begriff Verfassung oder Constitution als „erster“ gebraucht hat und „geprägt“ hat. Der moderne Verfassungsbegriff ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von Schriftstellern, Philosophen und Staatsmännern im gemeinschaftlichen Leben der sich herausbildenden Nationalstaaten.

Die Ausführungen zu den Verfassungen im konstitutionellen Zeitalter (zweiter Teil) stellen die geistesgeschichtlichen Hintergründe der zitierten Autoren (Montesquieu, Sieyès, Rousseau, S. XX) ziemlich schmal dar. Die Meinung eines Klassikers kann nicht gestützt auf einen einzigen Beitrag dargestellt werden, wie das die Autorin bei Sieyès mit seinem „Préliminaire de la Constitution ...“ vom 20./21.7.1789 macht: „Dementsprechend ist die Gewaltenteilung auch keine Forderung in Sieyes’ Préliminaire“. Die Aussage ist vor dem Hintergrund seiner Schriften nicht aufrechtzuerhalten (vgl. dazu: Alois Riklin, Emmanuel Joseph Sieyes und die Französische Revolution, Wien/Bern 2001, S. 265 ff.).

 

Die Einleitung enthält weitere Fragwürdigkeiten. Es werden einfache Aussagen gemacht, wo lange historische Prozesse zu beschreiben wären. So wird gesagt, die amerikanische Verfassung von 1787 hätte einen „Bundesstaat mit starker Zentralgewalt“ (S. XXI) installiert. Das war gerade die Frage, die in den Federalist Papers 1788/89 aufgeworfen und diskutiert wurde. Die nachfolgende Geschichte hat die Frage je nach Phase unterschiedlich beantwortet. Die Aussage, beim parlamentarischen Regierungssystem sei die Exekutive der Legislative untergeordnet (S. XXI) mutet gegenüber den geschichtlichen Tatsachen und der Gegenwart merkwürdig an. In England war das Verhältnis von Exekutive und Parlament unterschiedlich, je nach den bestimmenden Parteien und Königen. Vor allem kann man nicht von einer Unterordnung der Krone und des Kabinetts unter das Parlament sprechen, wohl aber von einem Zusammenwirken (Crown in Parliament). Das Kabinett hatte sich später zu einem Ausschuss des Unterhauses entwickelt und der Mehrheitsführer im Unterhaus wurde stets Premierminister. Derartige Ungenauigkeiten finden sich allenthalben und sind ärgerlich.

 

Bei den Verfassungstexten der Schweiz schreibt die Autorin die kollegiale Regierung der „Tradition der alten Eidgenossenschaft“ zu, „als in allen Kantonen Regierungskollegien und nicht monokratische Regierungen die eigentliche Macht ausübten“ (S. XXXIV). Die alte Eidgenossenschaft musste schon oft als bequeme Erklärung für Besonderheiten herhalten, die sie gar nicht aufwies. Die Kantone der alten Eidgenossenschaft waren mit Sicherheit nicht von Kollegialregierungen regiert. Vielmehr handelt es sich bei der Kollegialregierung um ein typisches Aufklärungspostulat, das seinen rechtlichen Ursprung in der Verfassung von Pennsylvania hat. Für diese Verfassung zeichnete Thomas Paine verantwortlich. Von dort brachte es der Berufsrevolutionär Paine nach Frankreich, und über ihn selbst erhielt die Kollegialregierung Eingang in die französische Verfassung von 1793. Sie findet sich ferner in der französischen Direktorialverfassung von 1795 und in der helvetischen Verfassung von 1798. Die schweizerische Regeneration nahm dieses Postulat auf und setzte es in den Verfassungen ab 1830 um.

 

Im „Schweizer Teil“ der Einleitung finden sich weitere Ungenauigkeiten. Es ist dem Rezensenten unerfindlich, wie die folgende Aussage zu Stande kommt: „Die Staatsrechtsliteratur erkennt ein hierarchisches Verhältnis zwischen Bundesversammlung und Bundesrat und verneint eine klare Trennung zwischen Legislative und Exekutive“ (S. XXXIV). Es wäre interessant zu wissen, welche „Staatsrechtsliteratur“ hier gemeint ist. Denn die Trennung von Bundesrat und Bundesversammlung wurde von Anfang an deutlich und strikte durchgeführt (Art. 66, 70 BV 1848 zur personellen Gewaltentrennung), und „die“ Staatsrechtsliteratur hat das nie in Frage gestellt. Schließlich findet sich die Behauptung, das Bundesgericht sei für Streitigkeiten über die Verletzung der durch die Bundesverfassung garantierten Rechte zuständig gewesen (S. XXXV mit Verweis auf Art. 105 BV 1848). Wie der Artikel 105 im Wortlaut zeigt, war das gerade nicht der Regel‑- sondern der Ausnahmefall, der in der Zeit von 1848 bis 1874 nur ein einziges Mal im Fall Dupré (Urteil vom 3. Juli 1852, bei Rudolf Ullmer, Staatsrechtliche Praxis der Schweiz, Bd. I, Zürich 1862, Nr. 375 und ZSR 1853 41 ff.) vorkam.

 

Alles in allem: Es ist eine nützliche Sammlung, die wieder einmal wichtige Texte greif- und erwerbbar macht. Der Sammlung kann man vorwerfen, dass sie auswählt. Das ist aber nicht anders möglich, wenngleich der Rezensent einige Texte vermisst. Bei der Titelgebung und damit verbunden der Behandlung der nordamerikanischen Quellen ist den Herausgebern ein Konzeptfehler unterlaufen, der den Wert des Bandes herabsetzt. Der Einleitung der Mitherausgeberin Ulrike Seif kann man im Gegensatz zur Quellensammlung weniger Gutes abgewinnen. Die abgedruckten Quellen hätten Besseres verdient.

 

Bern                                                                                                              Andreas Kley