Deutscher Oktober 1923. Ein
Revolutionsplan und sein Scheitern, hg. v. Bayerlein, Bernhard
H./Babičenko, Leonid, G./Firsov, Fridrich I./Vatlin, Aleksandr Ju.
Aufbau-Verlag, Berlin 2003. 409 S., 19 Abb.
Wenzel,
Otto, 1923. Die gescheiterte deutsche Oktoberrevolution.
Mit einer Einleitung von Wilke, Martin (= Diktatur und Widerstand 7).
Lit-Verlag, Münster 2003. 374 S.
Beide Bücher
sind schon eine mittlere Sensation. Sie belegen erstmals aus bisher geheim
gehaltenen russischen Akten – z. B. aus dem persönlichen Geheimarchiv Stalins –,
dass es 1923 einen von Moskau direkt – auch militärisch und finanziell –
geleiteten gewaltsamen kommunistischen Aufstandsversuch in Sachsen und
Thüringen gegeben hat – mit allen Details der Bewaffnung, Finanzierung und
Kaderanleitung. Das war bisher in dieser Klarheit und Dichte der Beweise nicht
möglich. Auch für die Kommunistische Partei Deutschlands ist 1923 eine
Wendemarke gewesen: Von da ab gab es keine innerparteiliche Demokratie mehr,
von da ab war sie komplett eine „Agentur einer fremden Macht“, moskauhörig,
moskaugesteuert, moskauuntertan. Und der Aufbau des Sozialismus in der späteren
DDR war nur die zunächst erfolgreichere Wiederholung der Ereignisse des
„Deutschen Oktober 1923“. Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck waren schon 1923
bei der Moskauer Revolutionsplanung führend dabei, Walter Ulbricht zuständig
für Organisation, Wilhelm Pieck für Waffenbeschaffung. Auch die Komintern ist
seit diesem Zeitpunkt nur noch der verlängerte Arm der KPdSU. Für sowjetische,
deutsche und internationale Politik ist diese (an der Reichswehr und dem mangelnden
Revolutionswillen der Sozialdemokratischen partei Deutschlands) gescheiterte
Revolution ein einschneidendes Wendeereignis.
In Deutschland
ist man bei der Erwähnung des Jahres 1923 auf Hitlers Putschversuch an der
Münchner Feldherrenhalle, auf den 9. November 1923 fixiert. Aber an eben diesem
9. November sollte auch die proletarische, bewaffnete, im Wortsinne „gewaltige“
kommunistische Revolution stattfinden, zunächst in Sachsen und Thüringen, dann
in Hamburg (Thälmann-Putsch) und im ganzen Reich. Wenzel (mit Einleitung durch
Manfred Wilke vom „Forschungsverbund SED-Staat“ an der Freien Universität
Berlin) und die Herausgeber der Aufbau-Verlag-Dokumentation (103 größtteils
noch nie publizierte Quellen, vor allem der KPD, KPdSU und der Komintern)
zeigen auf, dass es auch eine außengesteuerte, nach dem Willen des deutschen
Proletariats und des deutschen Volkes ganz und gar nicht fragende Revolution
geben sollte, hinter der eine kommunistische Weltmacht stand, die mehr liefern
konnte als bayerische Nazi-Revoluzzer. Dass der Nationalsozialismus eben auch
eine Reaktion auf den Bolschewismus war, wie Ernst Nolte nicht müde wird zu
betonen, das ergibt sich indirekt auch aus diesen beiden Büchern ganz klar. Man
muss sich einmal vorstellen, dass führende Sozialdemokraten – darunter
Friedrich Ebert – den Einmarsch der Westalliierten ins Reich wünschten, eher
denn der bolschewistischen Revolution das Reich anheim fallen zu lassen.
Otto Wenzels
Buch ist das erstaunliche – mit neuesten Quellen belegte – Buch eines Mannes,
der eben diese rote Oktoberrevolution 1923 in Deutschland schon in seiner
Promotion „Die Kommunistische Partei Deutschlands im Jahre 1923“ aus dem Jahre
1955 – mit den damals zugänglichen Quellen – beschrieben hat. Der vorliegende
Band ist „nur“ (aber das ist eben eine gewaltige Leistung) eine Bestätigung und
Bearbeitung seiner damaligen Erkenntnisse. Es ist zu konstatieren: Der Mann
hatte schon 1955 recht. Aber: Der westdeutsche kommunistische Professor
Wolfgang Abendroth verhinderte 1955 die Veröffentlichung dieser Dissertation in
der Schriftenreihe der „Kommission für Geschichte der Parlamentarismus und der
politischen Parteien“. „Durch Ausblenden“, so Wilke in seiner Einleitung,
„schützte der Ende 1948 aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen
geflohene Politikwissenschaftler ein Parteigeheimnis der SED“ (Seite 4). Und
der KPdSU und der Komintern, muss man hinzufügen. „Einige Kernaussagen Wenzels
von 1955, die in der DDR verschwiegen und in der nichtkommunistischen Literatur
lange als unglaubwürdig galten, konnten sogar Wort für Wort bestätigt werden.“
(Wilke, Einleitung, Seite 5)
Am 10. Oktober
1923 erklärte der Generalsekretär der russischen kommunistischen Partei im
deutschen kommunistischen Zentralorgan „Die Rote Fahne“: Mit dem Sieg des
deutschen Proletariats in der nahe bevorstehenden Revolution werde „sich das
Zentrum der Weltrevolution aus Moskau nach Berlin verlagern“. Unter Stalin
legte die Militärkommission des sowjetischen Zentralkomitees einen
Mobilisierungsplan für die deutschen Kommunisten vor. In diesem Plan hieß es,
bis zu 2,5 Millionen (!) Rotarmisten seien eventuell einzusetzen, „die dem deutschen
Proletariat, falls erforderlich, militärisch zu Hilfe eilen sollten“. Es war
offiziell in diesem Komintern-Papier von der „Machtergreifung“ die Rede.
Zunächst war nur eine „Anschubfinanzierung“ von 500.000 Goldrubel für den
Aufstand in Sachsen und Thüringen vorgesehen. Die Faschisten (= Hitler) solle
man erst einmal agieren lassen, so der Generalsekretär Stalin. Gewännen sie
zunächst die Oberhand, so Stalin weiter, „können die Kommunisten sie dann umso
besser schlagen“. Stalin hatte recht, wenngleich der Preis dafür ungeheuer war.
Otto Wenzel
beschließt seine Darstellung mit den Worten: „Wird das Wirken der KPD im Jahre
1923 … wieder in den Rahmen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts gestellt, so wird die Perspektive verzerrt durch das Geschehen
des Jahres 1933.“
Gewissermaßen
als Quellenband zu Wenzels Darstellung liest sich der „Deutsche Oktober 1923“
des Aufbau-Verlages. Diese Edition ist eine Pionierarbeit einiger russischer,
deutscher, französischer und niederländischer Zeitgeschichtsforscher, die
bisher fehlte. Noch niemals konnte der historisch Interessierte eine solche
Fülle von Originaldokumenten in deutscher Sprache, ja überhaupt lesen. Der
Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU vom 4. Oktober 1923, den 9. November
als Beginn der deutschen proletarischen Revolution festzulegen (Trotzki,
Sinowjew, Bucharin, Molotow, Tscherschinski, Radek, Smirnow und andere waren
anwesend), war „ultrageheim“ (Seite 194, Dokument 31). Und er wurde in einer
Sondermappe – nur handschriftlich – aufbewahrt, die sich heute im Archiv des
Präsidenten Putin befindet.
Alles war in
Moskau über die Revolutionsmöglichkeiten in Deutschland viel zu optimistisch
beurteilt, aber diktatorisch verkündet worden. Im entscheidenden Moment
verweigerte sich die SPD in Deutschland der „Einheitsfront“ und dem
Generalstreik, die Reichsregierung erklärte die sächsische und thüringische
Landesregierung, in die Kommunisten als Minister eingetreten waren, für
abgesetzt und entsandte Reichswehrtruppen. In Hamburg scheiterte der
tatsächlich begonnene Straßenkampf (der Beginn der Thälmann-Legende) am dritten
Tag.
1923, das
zeigen diese beiden wichtigen Bücher, war nicht nur Hochinflation,
Hitler-Putsch, Rheinlandseparatismus, Ruhrgebietsbesetzung durch französische
und belgische Truppen, 1923 war auch der größte und gefährlichste
Revolutionsversuch von links seit 1917, seit der Großen Oktoberrevolution in
Russland. In Deutschland gelang das nicht.
Gratwein Peter
Meier-Bergfeld