Cioli, Monica, Pragmatismus und Ideologie. Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der zweiten Reichsgründung (1878-1884) (= Beiträge zur politischen Wissenschaft 129. Duncker & Humblot, Berlin 2003. 339 S.
Die kluge und
quellennah gehaltene, von Hartmut Ullrich geförderte Dissertation am
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel folgt einer
Perspektive Thomas Nipperdeys, den sie eingangs zitiert: „Die Fragen nach der Krise
des Liberalismus, nach dem Versagen der Parteien während der Weimarer Republik,
in der die Parteien nach Tradition und Bewußtsein noch stark von den
politischen Verhältnissen vor 1918 mitbestimmt waren, die Fragen danach, warum
in Deutschland eine Lösung der Spannung im Verhältnis von Staat und
Gesellschaft, sei es im Sinne einer Integration, sei es im Sinne eines
relativen Gleichgewichts dieser beiden Mächte, nicht gelungen ist – diese
Fragen führen auf die Probleme von Partei und Masse, von Führung und
Integration, von Entpolitisierung oder Durchpolitisierung, eben auf die
Probleme der deutschen Parteiorganisation, deren Erforschung die Beantwortung
jener Fragen vorbereiten kann“.
Vor
dem Hintergrund des Bismarckschen Projekts einer protektionistischen Steuer–
wie Finanzpolitik und der Abkehr des Reichskanzlers von den Liberalen leuchtet
die Autorin die informellen Kanäle zwischen der Leitung und der Basis liberaler
Parteien und die Partizipationsmöglichkeiten aus im Zeichen des föderalen
Gefüges Deutschlands, des Honoratioren– und des Vereinswesens. Den Mittelpunkt
bilden die Verhältnisse im Reichstag: die vorhandenen Nachlässe der liberalen
Parteiführer erlaubten es, das politische Netz zwischen der Parteileitung und
den örtlichen Kräften im Detail zu erkennen. Nach der überzeugend begründeten
Hauptthese des Buches lag die wichtigste Ursache für den allmählichen
Niedergang des deutschen Liberalismus in der unzulänglichen Erneuerung des
Programmes.
Die Monographie
gliedert sich in fünf Kapitel: Das erste erweist die pragmatische Realpolitik
und die vom Bürgertum bevorzugte Organisationsform des Vereins als Merkmale des
deutschen Liberalismus zur Zeit der Reichsgründung. Das zweite Kapitel
beschreibt die Deutsche Fortschrittspartei mit ihrem zentralistischen
Charakter, die ihre Opposition im Staat, nicht gegen den Staat entfaltete. Ihr
Programm sei, so hieß es nach zwanzig Jahren ihres Bestehens 1881, „die
Sicherstellung der bürgerlichen Freiheit, die Hebung der materiellen und
sittlichen Wohlfahrt des Volkes und Stärkung der Volksrechte“.
Dann wendet sich
die Schrift den 1866 durch Abspaltung von den Fortschrittlichen entstandenen
Nationalliberalen zu, der „pragmatischen Partei schlechthin“, einer
„Honoratiorenpartei im wahrsten Sinne des Wortes“, die – eher informell
strukturiert – die Mittelwege suchte. Der wiederum aus einer Absplitterung 1880
hervorgegangenen Liberalen Vereinigung gibt das vierte Kapitel Raum. Diese nach
einer Schrift von Ludwig Bamberger auch Sezession genannte, durchaus homogene Gruppierung
verstand sich als Verein, nicht als Partei des Übergangs zur Gründung einer
liberalen Großpartei. Zu den herausragenden Führungspersönlichkeiten gehörte
wiederum Eduard Lasker, der 1881 programmatisch betonte: „Die stetige
Entwicklung der Freiheit innerhalb des Rechtsstaates, unter einer festen,
geordneten Verwaltung, unter breitester Theilnahme der Selbstverwaltung, die
wahrhafte Gleichberechtigung aller Menschen, die Entfaltung der individuellen
Selbständigkeit und Thatkraft, die Wegräumung aller Hemmnisse auf den Gebieten
des Erwerbes und des Berufes, und über allen diesen Staats- und
gesellschaftlichen Zuständen das Ansehen und die schützende Gewalt eines
mächtigen Deutschen Reiches ...“ (S. 177f.). Im folgenden Abschnitt untersucht
die Autorin die liberalen Vereine, ihre Versammlungsberichte, Mitgliederlisten
und Statuten an den kommunalen Fallbeispielen Berlin und München. Die Arbeit
ermißt die Fähigkeit der Liberalen zur Anpassung ihres Wirkens an die örtlichen
sozialen und politischen Verhältnisse. Das Schlußkapitel unternimmt einen die
deutschen Eigenheiten akzentuierenden kursorischen Vergleich mit dem
italienischen Liberalismus, „der nicht monolithisch, sondern polyzentrisch
strukturiert ist, was den inneren Spannungen der italienischen Gesellschaft und
der italienischen Staatsordnung jener Zeit entspricht“ (S. 259).
Die Dissertation
konzentriert sich auf einen knapp bemessenen Zeitraum, jenen der von Hermann
Oncken so geheißenen „Zweiten Reichsgründung“ mit der „größten inneren
Umwälzung neudeutscher Reichsgeschichte“. Um so eindringlicher und genauer
fällt der Bericht aus: Er zeigt, wie die Liberalen ihr großes Projekt, eine
mächtige Partei der Mitte zu bilden, verfehlten, weniger weil sie es an
organisatorischem Einsatz, als an einem zeitgerechten Programm fehlen ließen.
Die bürgerliche Bewegung konnte mit der sozialen Herausforderung des
heraufziehenden Massenzeitalters nicht fertig werden. Wenn indessen Michael
Epkenhaus seine Rezension (in der FAZ Nr. 97 vom 26. April 2004) mit der Überschrift
versieht: „Verpufftes Engagement“, dann wird er dem Liberalismus und seiner
Wirksamkeit nicht gerecht. Dieser Titel macht die beträchtlichen
rechtspolitischen Leistungen und die Verdienste vergessen, welche die Liberalen
sich beim Aufbau der Rechtsstaaten in Deutschland erwarben und die das Buch im
einzelnen noch stärker hätte betonen können. Im ganzen zeichnet die Abhandlung
ein anschauliches, lebensvolles und anziehendes Bild von den liberalen
Bestrebungen und deren bedeutenden Köpfen in der Reichsgründungszeit.
Heidelberg Adolf
Laufs