Burkhardt, Johannes, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Kohlhammer, Stuttgart 2002. 244 S.
Um es vorweg zu sagen: dieses Buch setzt Maßstäbe. Es ist zudem so flott und unterhaltsam geschrieben, dass man bei der Lektüre fast vergisst, dass es sich um ein wissenschaftliches Werk handelt. Allerdings stellt sich dieses Lesevergnügen nur dann ein, wenn man bereits eine erste Kenntnis der historischen Fakten, der Chronologie der Reformationsgeschichte sowie eine gewisse Vertrautheit mit der neueren Forschung zu Reformation und Konfessionsbildung mitbringt. Denn die Anspielungen und Rekurse respektive Korrekturen und Ergänzungen der bisherigen Forschungsgeschichte und Forschungsansätze sind luzide gesetzt und knapp pointiert. Insofern gilt: es ist kein Buch für Anfänger, was denselben gleichwohl nicht abschrecken soll. Erleichtert wird ihm der Zugang durch das knappe, aber formidable Literaturverzeichnis, welches – über Einzelbelege hinaus – im Stil einer adnotierten Bibliographie den einzelnen Kapiteln des Werkes Quellen und Literatur zuordnet.
Das Bezauberndste und das Neue an diesem Buch ist sein erster Teil, in dem die Anfänge des 16. Jahrhunderts ganz aus der Medienperspektive geschrieben werden. Der Autor, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Augsburg, zieht damit die Konsequenz aus den neueren Tendenzen und Resultaten der Reformationsforschung, die nach der Medien- und Kommunikationssituation fragt und diese nicht mehr nur als technisches Instrument behandelt. Die Reformation, so Burkhardt, hätte ohne die neue Informationstechnologie des Buchdruckes nicht stattfinden können. Dabei bediente sich die Theologie der Reformationszeit nicht nur einer technischen Erfindung zu ihrer Verbreitung, sondern sie legte zudem diese Erfindung in der Sprache der Religion kulturell neu aus. Anders gesagt: „Was Luther sagte, war wichtig, aber wie er es sagte und unter die Leute brachte, war das eigentlich Moderne an der Reformation“. Im zweiten und dritten Teil wird dann die Institutionsbildung als der Kern der frühneuzeitlichen Konfessionsgeschichte vorgestellt.
In Teil 1 (S.16-76) liest der Autor die Reformation als ersten
Anwendungsfall der „Medienrevolution der Neuzeit“. Und auch wenn Burkhardt (wie
Iserloh und andere vor ihm auch) mit dem Mythos des Thesenanschlags aufräumt,
so zeigt er doch den Symbolwert dieses nachgeschobenen Mythos auf, der das
archaische Bild dafür ist, dass und wie die Druckmedien „Öffentlichkeit“
herstellten. Dass der Autor den Auftakt der Neuzeit mit dem Epochenjahr 1517
setzt, ist angesichts des Symbolwertes dieses Datums mehr als plausibel, gerade
weil, so Burkhardt, hier der reformationsgeschichtliche und der
kommunikationsgeschichtliche Einschnitt einunderselbe sind. Erst der Druck
nämlich, so Burkhardt, machte die Reformation möglich. Und erst das religiös
formulierte Schriftprinzip hielt die Druckmaschinen auf Dauer in Bewegung und
gab ihnen einen Sinn. Die Bedeutungserhöhung der Bibel im theologischen
Koordinatensystem (sola scriptura)
schuf eine neue Bedarfssituation. Es gab Bedarf an dem zentralen „Informationsspeicher des Glaubens“: der Bibel als dem
Wort Gottes (in dinglicher Ineinsetzung), die zu der alle verpflichtenden
Argumentationsgrundlage der offenbarungsbezogenen Öffentlichkeit wurde. Die
reformatorische Öffentlichkeit war durchgestützt, der Druck war das Referenzmedium
schlechthin, auch wenn nur 5-10 Prozent der Menschen lesen konnten. Denn die
Massenwirkung entfaltete sich durch Vorlesen der Texte, durch Predigten über
Texte und Diskussion der Texte. Neben der Bibel und der reformatorischen
Predigt über die Bibel waren die Tagesmedien von großer Bedeutung:
Flugschriften (Höhepunkt zwischen 1520 und 1525), Flugblätter, offene Briefe,
das veröffentlichte Bild.
Der Bauernkrieg wird vom Autor als „Medienkrieg“ gelesen. Es handelte sich bei der Erhebung des gemeinen Mannes, so Burkhardt, um die erste gesellschaftliche Massenbewegung, die vom Druckmedium hervorgerufen wurde. Die Bibeldrucke und der „Vorlauf an interpretierenden Flugschriften“ waren die Grundlage für diese „frühbürgerliche (Medien-)Revolution“, die der Autor nicht im sozio-ökonomischen, sondern im kommunikations-wissenschaftlichen Sinn verstanden wissen will. In wenigen Wochen waren die Zwölf Artikel in 25 Auflagen gedruckt und nachgedruckt und haben die Bewegung erst nach Franken und Thüringen verbreitet und ihr eine „überregionale Einheitlichkeit“ gegeben. Die Städtelandschaften des Reiches und die Landgebiete mit urbanen Zentren waren der Kernraum des Bauernkriegs, der damit zusammenfiel mit den an das stadtbürgerliche Handwerk gebundene Druckzentren und deren kommunikativen Strukturen ins Umland.
Die frühbürgerliche Medienrevolution markiert aber nicht nur den Höhepunkt der ersten von einem Schriftmedium hervorgerufenen Massenbewegung, sondern zugleich auch deren Umschlag. Denn die politischen Gewalten griffen alsbald ein und versuchten das Medium ihrem Kontrollanspruch zu unterwerfen. Im Fall des Bauernkrieges hieß das: Der Zugang zu den Medien blieb vielen versperrt und wurde nach Ausbruch der Unruhen restriktiv gehandhabt – bäuerliche Programmschriften blieben ebenso ungedruckt wie Thomas Müntzers grosse Kampfschrift gegen den Wittenberger Reformator, während Luthers Gegenschriften in der gewohnten Auflagenhöhe erschienen und die gedruckte Stimme Müntzers erstickten.
Damit erfolgte eine Zäsur und ein Umschlag: das bislang sich selbst überlassene Kommunikationsmedium wurde nunmehr im Rahmen von zwei Institutionalisierungsprozessen in den Dienst genommen und gesteuert: der Konfessionsbildung und der Staatsbildung. In einem langen Konstituierungs- und Formierungsprozess zwischen Bauernkrieg und Dreissigjährigem Krieg bildeten sich die Konfessionen (Teil 2, S.77-135). Sie übernahmen die Steuerung, Regulierung, Kontrolle und Ablösung der reformatorischen Öffentlichkeit. Dies geschah meist schon in Kooperation mit den Trägern der kommenden Staatsgewalt, wird von Burkhardt aber gleichwohl als eigenständiger Institutionalisierungprozess gewürdigt. Die Formierung, Organisation und Durchsetzung der Konfessionen war der erste frühmoderne Institutionalisierungsprozess mit bleibendem Ergebnis. Der Autor hebt bei der Darstellung und formalen Analyse des neuzeitlichen Prozesses der Konfessionsbildung nicht nur darauf ab, dass es sich dabei um einen „Vereinheitlichungsprozess in Konkurrenz“ (oder „organisierten Pluralismus der Religion in Europa“) handelte, sondern auch, dass er positive Aufbauleistungen aller Konfessionen (nicht nur des Protestantismus, wie Max Weber pointierte) implizierte. Dass die Konfessionsbildung instrumentelle, funktionale und mikrohistorische Gemeinsamkeiten aufweist – Glaubensbekenntnis, Multiplikatoren, Propaganda, Bildungsausbau, Kontrollverfahren, Unterscheidungsriten, Sprachregelungen – ist bekannt. Der Autor beschreibt den dreifachen konfessionellen Institutionalisierungsprozess aber nicht anhand dieser strukturellen Parallelen, sondern entlang der Grundfrage: Welchen Stellenwert haben Lehre und Organisation im jeweiligen konfessionellen System? So kann er dem Primat der Lehre bei den Evangelischen, den Primat der Organisation bei den Katholiken und den Primat der Praxis bei den Reformierten gegenüberstellen. Die Konfessionen sind aber nicht bei diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten ihres Konfessionsaufbaus stehen geblieben, wiewohl diese jeweils das „institutionelle Standbein“ derselben bildeten. Wer bei der Bibel ansetzte, der musste, so Burkhardt, bald einmal einsehen, dass es ohne eine Kirchenorganisation, die den Text pflegte, auch nicht ging; Und wer die Kirchenorganisation betonte, musst am Ende die Textdefinitionen auffüllen und die reformierte Praxis schliesslich verlangte, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.
Der neuzeitlichen Konfessionsbildung wohnte zugleich eine kaum lösbare strukturelle Intoleranz inne. Jede Konfession wähnte sich im vollen und exklusiven Besitz der Wahrheit. Alle drei verstanden sich als die Alleinerben der ganzen alten Religion und sprachen den anderen das religiöse Daseinsrecht ab. Die Überwindung der frühneuzeitlichen Unverträglichkeit der Konfessionen war, so Burkhardt, die größte der nichtintendierten Folgen der Konfessionsbildung, denn die Herausforderung einer gleich dreifachen Wahrheit habe den Aufbau einer Toleranzkultur erzwungen.
Der erste Institutionalisierungsprozess der Konfessionsbildung wurde bald überlagert und überholt vom Prozess der frühmodernen Staatsbildung (Teil 3, S.136-199). Die Konfessionsbildung hat dabei Schrittmacherdienste für den Staatsaufbau geleistet, mehr noch, die Konfessionskirchen wurden nachgerade in den Staatsdienst übernommen. Im 16. Jahrhundert standen sich nicht, so Burkhardt, alte Universalherrschaft und moderne Einzelstaatlichkeit gegenüber, sondern es ging um ein und dieselbe frühe Staatsbildung in unterschiedlichen Größenordnungen. Der Gesamtstaat in der Form der Universalmonarchie wurde aber zunehmend diskreditiert und schließlich durch einen Staatenpluralismus abgelöst. Die habsburgische Dynastie trat selber in Linien auseinander (spanisch-atlantische, deutsch-österreichische) und hielt so in einer „Art kooperativen Arbeitsteilung einen dynastischen Universalismus aufrecht, der noch den Dreißigjährigen Krieg entscheidend mitbestimmte“. Ohne einheitsgebende Herrscherfigur und Zentralkanzlei waren es verschiedene Verwaltungen und schliesslich auch Staaten.
Nach der Lektüre dieses gewichtigen Werkes fühlt man sich als Leser
kundig geführt und angenehm belehrt und dazu noch – was bei wissenschaftlichen
Werken sich eigentlich so gut wie nie einstellt – aufs Beste unterhalten. Es bleibt
lediglich ein leises Bedauern darüber zurück, dass der Autor aus Sorge, zu
„theorielastig“ zu werden und auch, um die Eigenständigkeit des
Institutionellen gelten zu lassen, die Institutionenbildung nicht ebenso
konsequent aus der Kommunikationssituation und ihrem Informationsverhalten
entfaltet hat, wie er dies im ersten Teil über die Reformation getan hat.
Freiburg im Üchtland Elke Pahud de
Mortanges