Böhm, Annett, Arthur Philipp Nikisch – Leben und Wirken (= Schriften zur Rechtsgeschichte 106). Duncker & Humblot, Berlin 2003. Frontispiz, 193 S.
Mit der vorliegenden Arbeit, die von der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig im Jahre 2003 als Dissertation angenommen worden ist, verfolgt die Verfasserin das Ziel, „die Erinnerung an Arthur Nikisch zu bewahren, an einen der ganz Großen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und des Zivilprozessrechts, seine Leistungen als Hochschullehrer zu würdigen, und eine in seltenem Maße ausgeglichene und liebenswürdige Persönlichkeit zu ehren“ (Vorwort, S. 8). Diese Charakterisierung der Persönlichkeit Arthur Nikischs kann der Rezensent, der 1966 als junger Ordinarius nach Kiel berufen wurde und dort den Emeritus Arthur Nikisch persönlich kennen lernen durfte und bis zu dessen Tode 1968 mit ihm in enger Verbindung stand, aus eigenem Erleben voll und ganz bestätigen. Arthur Nikisch war ein zurückhaltend auftretender, feinsinniger Grandseigneur, dessen rechtswissenschaftliche Exzellenz sich mit einer breiten und tiefen Allgemeinbildung und einem engen Verhältnis zu Musik, Kunst und Kultur verband. Den besonderen Kunstsinn verdankte der 1888 in Leipzig geborene Arthur Nikisch vor allem seinem Elternhaus, in dem Musik und Kunst naturgemäß eine große Rolle spielten. Denn sein Vater war der berühmte Dirigent Arthur Nikisch, den man zu Recht einen „Magier des Taktstocks“ und einen „Fürsten im Reiche der Töne“ genannt hat.
Die Verfasserin der vorliegenden Biographie nennt den Sohn - wohl um Verwechslungen mit seinem Vater auszuschließen, die in Leipzig näher liegen dürften als anderswo - nicht nur im Titel, sondern im gesamten Text ihrer Schrift „Arthur Philipp Nikisch“. Dieser selbst hat aber auf seinen zweiten Taufnamen Philipp offenbar weniger Wert gelegt. Seine juristischen Werke sind, wenn ich recht sehe, stets unter dem Namen „Arthur Nikisch“ erschienen. Und auch seine Frau, die frühere Opernsängerin Grete Merrem-Nikisch, mit der er bis zu seinem Tode in glücklicher Ehe lebte, hat 1969 die Lebenserinnerungen von „Arthur Nikisch“ herausgegeben. Diese 235 Buchseiten umfassende Autobiographie ist übrigens, da im Selbstverlag erschienen, einem größeren Publikum unbekannt geblieben. Aus diesem Grunde ist es sehr zu begrüßen, dass die Verfasserin der vorliegenden Schrift den wesentlichen Inhalt dieser Lebenserinnerungen in ihre Darstellung übernommen hat. Es kommt Folgendes hinzu: Bei der unbefangenen Lektüre seiner Lebenserinnerungen könnte man den Eindruck gewinnen, als sei Arthur Nikisch lediglich ein typischer Angehöriger des deutschen Bildungsbürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen. Die Persönlichkeit Arthur Nikischs war aber facettenreicher, als es seine Lebenserinnerungen erkennen lassen. Und weil es dem Naturell Arthur Nikischs widerstrebte, sich selbst zu rühmen, kommen in den Lebenserinnerungen auch seine Verdienste auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft zu kurz. Diese Lücken in der umfassenden Darstellung von Leben und Wirken Arthur Nikischs weitgehend gefüllt zu haben, ist das große Verdienst der Verfasserin.
Sie gliedert ihre Darstellung in vier Teile: Der erste Teil schildert das Leben Arthur Nikischs; der zweite Teil befasst sich mit Nikischs Verhältnis zur Kunst und zu den ihn umgebenden künstlerischen Persönlichkeiten; der dritte Teil ist dem wissenschaftlichen Wirken Nikischs gewidmet und der vierte Teil enthält eine Gesamtwürdigung. In einem Anhang sind - vor einem Stammbaum, einem tabellarischen Lebenslauf sowie einem Veranstaltungs- und Schriftenverzeichnis - Fotografien der Eltern Arthur Nikischs, von Nikischs Ehefrau Grete sowie vom Ehepaar Grete und Arthur Nikisch am Tag ihrer Goldenen Hochzeit 1964 wiedergegeben. Zu bedauern ist, dass die Publikation jedoch keine Porträtaufnahme von Arthur Nikisch selbst enthält, wie sie z. B. als Frontispiz die erwähnten „Lebenserinnerungen“ schmückt. In der Verlagsankündigung der hier zu besprechenden Schrift ist zwar von einem „Frontispiz“ die Rede, in dem mir vorliegenden Rezensionsexemplar findet sich ein solches aber nicht.
Der Rezensent hält es nicht für sinnvoll, den Inhalt der zu besprechenden Schrift im einzelnen nachzuzeichnen. Es seien ihm vielmehr nur wenige sehr persönliche Anmerkungen gestattet:
1. Das 13. Kapitel der Arbeit schildert die „Freundschaft mit Thomas Mann“ (S. 66-70). Mangels anderer Quellen folgt die Verfasserin hier weitgehend den erwähnten Lebenserinnerungen Arthur Nikischs. Allerdings waren Zeitgenossen Nikischs, mit denen ich in meiner Kieler Zeit darüber sprechen konnte, der Meinung, die Darstellung der Freundschaft mit Thomas Mann in den Lebenserinnerungen Nikischs sei stark subjektiv gefärbt. Zwar habe in den 20er Jahren eine Freundschaft mit Thomas Mann durchaus bestanden, diese Freundschaft habe sich aber in der nationalsozialistischen Zeit - in der Thomas Mann emigrierte, Arthur Nikisch sich aber von Verstrickungen in den Nationalsozialismus nicht ganz freihalten konnte (vgl. hierzu die Ausführungen in der zu besprechenden Schrift auf S. 39 - 43) - deutlich abgekühlt. Die Bemühungen des Ehepaars Nikisch, diese Freundschaft nach 1945 wieder zu beleben, seien bei Thomas und Katja Mann zwar nicht auf schroffe Ablehnung, aber doch auf eine deutliche Reserve gestoßen. In der Tat kann man sich, wenn man die diesbezüglichen Darlegungen auf S. 68-70 der Dissertation oder S. 231-235 der „Lebenserinnerungen“ unter diesem Aspekt kritisch liest, des Eindrucks nicht erwehren, dass die mündliche Schilderung der Zeitgenossen im wesentlichen zutreffen dürfte.
2. Als Arbeitsrechtler fand ich es immer besonders bemerkenswert, wie der feinsinnige, hochgebildete Arthur Nikisch in seinen arbeitsrechtlichen Schriften die tatsächlichen Probleme des Arbeitslebens fernab von wirklichkeitsfremden Gedankengebäuden erfasste, nüchtern und schonungslos darstellte und hierfür die passenden juristischen Lösungen aufzeigte. Das markanteste Beispiel hierfür ist die von der Verfasserin (S. 88ff.) zu Recht als „legendär“ bezeichnete „Eingliederungstheorie“, wonach das Arbeitsverhältnis nicht durch den Arbeitsvertrag, sondern durch die tatsächliche Eingliederung des Arbeitnehmers in den Betrieb begründet wird. Nikisch hatte eben schon 1926 sehr klar gesehen, was heute Allgemeingut des Arbeitsrechts ist, dass nämlich bei Nichtigkeit des Arbeitsvertrages schon aus praktischen Gründen eine Rückabwicklung der erbrachten Leistungen nicht nach Bereicherungsrecht (§§ 812ff. BGB) erfolgen kann, so dass man folglich anerkennen muss, dass diese Leistungen ihren Rechtsgrund im (faktisch vollzogenen) Arbeitsverhältnis haben.
Ein weiteres Beispiel für den praktischen Sinn Nikischs sind seine Ausführungen zu der rechtlichen Regelung der Betriebsratswahlen in der Zeitschrift „Recht der Arbeit“ 1962, S. 366, die mich so sehr beeindruckt haben, dass ich sie in meinem „Grundriss des Arbeitsrechts“ von der 1. Auflage 1969 an bis zur 12. Auflage 1998 stets wortwörtlich wiedergegeben habe:
„Wenn man als gelernter Jurist beispielsweise die Vorschriften über das Wahlverfahren mit Mühe und Fleiß studiert, dann kommen einem doch erhebliche Zweifel, ob die Arbeitnehmer im Wahlvorstand nicht überfordert werden, wenn man von ihnen verlangt, dass sie alles richtig verstehen und anwenden. In der Praxis hilft man sich vermutlich mit dem bewährten Konzept, fünf gerade sein zu lassen.“
Schließlich
sei in diesem Zusammenhang auch erwähnt, dass nach Nikischs Meinung
nicht allen Koalitionen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG gleichzeitig auch die
Tariffähigkeit zukommt, sondern dass die Tariffähigkeit von solchen
Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann, die zum Ziel haben, das
Tarifvertragssystem in die staatliche Rechtsordnung einzubinden. Wie in der
hier besprochenen Schrift auf S. 114f. im einzelnen dargelegt wird, ist diese
von Nikisch im Gegensatz zur Auffassung Nipperdeys entwickelte
Auffassung bis heute nicht unumstritten, obgleich die besseren Gründe für sie
sprechen, weil anders die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht gesichert
werden kann.
3. Die Verfasserin der vorliegenden Dissertation hat mit großem Fleiß und Kenntnisreichtum die wissenschaftlichen Arbeiten Arthur Nikischs in ihrer Bedeutung sowohl für die Entstehungszeit als auch für die Gegenwart souverän gewürdigt. Abgesehen von einer offenbaren Unrichtigkeit auf S. 126 - der Arbeitsschutz ist nicht dem „Privatrecht“, sondern dem öffentlichen Recht zuzuordnen - bleiben insoweit keine Wünsche offen. In anderer Beziehung ist das jedoch nicht der Fall: Die Schriften Arthur Nikischs zeichnen sich sowohl durch eine besonders klare, als auch durch eine besonders schöne Sprache aus. In dieser Hinsicht ist die Verfasserin leider keine kongeniale Nachfolgerin des von ihr gerühmten Vorbilds. Wenn sie beispielsweise im Vorwort ihrer Dissertation (S. 8) Arthur Nikisch einen Mann nennt, „der für die deutsche Juristerei Großartiges geleistet hat“, so ist das in der Sache gewiss richtig, aber Arthur Nikisch hätte an einer solch herausragenden Stelle den Ausdruck „Juristerei“ wegen seines abwertenden Beigeschmacks vermieden und statt dessen vermutlich eher von „Rechtswissenschaft“ gesprochen.
Dennoch: Alles in allem ein lesenswertes Buch und eine wertvolle Bereicherung der juristischen Zeitgeschichte!
Giessen
Alfred
Söllner