Berns mutige Zeit. Das 13. und 14. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. Schwinges,
Rainer Christoph, red. v. Gutscher, Charlotte. Stämpfli Stämpfli/Schulverlag
blmv, Bern 2003. 596 S., zahlr. Ill., Kart.
Der großformatige, reich bebilderte und höchst informative Sammelband verdankt seine Entstehung mehreren glücklichen Umständen. Historiker, Kunsthistoriker, Archäologen, Archivare, Bibliothekare, Museumsleiter und Tourismusmanager schlossen sich zu einem Verein „Berner Zeiten“ zusammen. Dieser Verein gibt seit 1999 eine großangelegte Stadt- und Kantonsgeschichte Berns in mehreren Bänden heraus. Die Frage nach historischen Epochen wird dabei ganz formal beantwortet: Es geht um Jahrhunderte, jeweils ein oder zwei Jahrhunderte erhalten einen gleich gestalteten monumentalen Band mit einem werbewirksamen, schon fast unseriösen Schlagwort. Neben „Berns großer Zeit“ (15. Jahrhundert), „Berns mächtiger Zeit“ (16./17. Jh., geplant) und „Berns goldener Zeit“ (18. Jh., geplant) erschien pünktlich zum 650. Jahrestag des Bündnisses Berns mit den übrigen Schweizer Eidgenossen „Berns mutige Zeit“. Das Vermarktungskonzept ging voll auf. Dank zweier Sponsoren können die gewichtigen Bücher zu erstaunlich günstigen Preisen angeboten werden und erreichen damit auch den sprichwörtlichen interessierten Laien. „Berns große Zeit“ erlebte sogar schon die zweite Auflage.
Aber nicht nur die äußeren Umstände sind erfreulich. Auch inhaltlich gelingt der Spagat zwischen anspruchvoller interdisziplinärer Mediävistik und einer gewissen Breitenwirksamkeit auf beeindruckende Weise. Der Band ist in sechs große Bereiche gegliedert. Er beginnt mit der Stadtgründung, dann geht es um andere mittelalterliche Machtpole im Südwesten des Reiches. Zwei Hauptteile sind speziell der Stadt sowie dem Umland gewidmet. Geistliches und geistiges Leben bilden einen eigenen Teil. Zum Schluß geht es um das Ausgreifen Berns auf das Umland. So ist trotz der Akzentuierung inhaltlicher Schwerpunkte ein grober chronologischer Rahmen gewahrt. Von der Gründung der Aarestadt unter Herzog Berthold V. von Zähringen um 1191 bis zu den Kriegen des 14. Jahrhunderts, die Schritte auf dem Weg zum zukünftig mächtigsten Stadtstaat nördlich der Alpen wiesen, erfährt der Leser sowohl die großen Linien, als auch zahlreiche spannende Einzelheiten. Gerade die Details haben es in sich. So nimmt man verblüfft zur Kenntnis, daß das Apfelschußmotiv der Wilhelm-Tell-Sage bereits im späten 12. Jahrhundert in Dänemark auftauchte, dort als Heldentat eines Meisterschützen Toko zur Zeit König Harald Blauzahns im 10. Jahrhundert. Die verwandtschaftlichen Beziehungen der Zähringer nach Skandinavien haben also möglicherweise den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft erst in die Schweiz importiert. Auch die sachkundigen Ausführungen zur Ortsnamenkunde fesseln den Leser. In einem ursprünglich keltischen Gebiet, das lange unter römischer Herrschaft stand, dann aber von alemannischen Germanen besiedelt wurde, läßt sich das Alter von Orten etymologisch oft erstaunlich genau angeben. Damit erhält die alte Lehre von der Landnahme etwas festere Konturen. In spezifisch rechtshistorischer Hinsicht bietet die Regionalgeschichte zudem hilfreiches Anschauungsmaterial für Schlagworte, die sonst allzuoft farblos bleiben. Das filigrane Beziehungsgeflecht der Stadt, die seit 1218 reichsfrei war und bis ins 15. Jahrhundert mehrere Hoftage des römisch-deutschen Königs erlebte, zu den umliegenden Herrschaftsträgern vermittelt einen lebendigen Eindruck vom mittelalterlichen Lehenswesen. Die Bedeutung einzelner Rechtspositionen und lehensrechtlicher Beziehungen für die Ausdehnung des Berner Machtbereichs wird am Einzelfall sehr anschaulich. Behutsam wird auch der frühe Weg der Schweiz zur Eigenstaatlichkeit relativiert. Mindestens bis ins späte 14. Jahrhundert gab es gar keine „Eidgenossenschaft“, der Bern hätte „beitreten“ können (Urs Martin Zahnd, S. 491). Vielmehr unterschieden sich die frühen Landfriedenseinungen nicht prinzipell von anderen Bünden, und so verwundert es nicht, daß Bern ebenfalls dem oberrheinischen Städtebund angehörte.
Natürlich bleiben bei einem Werk, an dem kein Rechtshistoriker mitgearbeitet hat, Fragen offen. Über das Privatrecht und Strafrecht des 13./14. Jahrhunderts hätte man gern mehr erfahren. Auch hätte man gern gewußt, wie nach dem Aussterben der zähringischen Herzöge in Bern plötzlich ein kaiserlicher Richter tätig war (S. 166). Terminologisch sind zudem historisch unangemessene Modernismen wie „Bürgerinnen und Bürger“ (S. 193) ärgerlich. Bei über 40 beteiligten Autoren ist es aber nicht verwunderlich, daß man bei gezielter Krümelsuche etwas findet. Viel erstaunlicher ist es, daß gerade angesichts der hohen Zahl von Mitarbeitern das Buch durchgehend gut lesbar ist und auch nicht in einzelne Aufsätzchen zerhackt ist.
Insgesamt also ein höchst imposantes Bild einer mittelalterlichen Stadt, dessen Facettenreichtum auch für den Rechtshistoriker Gewinn bringt.
Bern Peter Oestmann