Berg, Dieter, Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters (= Urban Taschenbuch 476 = Kohlhammer Urban 577). Kohlhammer, Stuttgart 2003. 346 S.
Berg betont zu Eingang seines Werkes, er wolle sich abwenden von einer bislang in der Literatur gängigen Konzentration auf die Geschichten Englands und Frankreichs. Eine Dynastie wie das Haus Plantagenet stelle vielmehr immer eine Bezugsgröße in den Großräumen zwischen Nordsee und dem Golf von Biscaya dar, so dass auch die Berücksichtigung des europäischen Umfeldes notwendig ist. Das gibt seinen Erörterungen den geographisch weiten Bezug, in den man Schottland, Irland, die Machtgebilde auf der Iberischen Halbinsel ebenso wie Deutschland und Italien einbeziehen muß.
Ihren Ausgang nimmt die Darstellung in einem kurzen Kapitel über Normannen und Angevinen vor der Thronbesteigung Heinrichs II. 1154, in dem die keimhaft angelegten Entwicklungen späterer Jahrhunderte bereits fassbar werden mit dem zentralen Ereignis des Ausgriffs Wilhelms des Eroberers aus seiner Normandie über den Kanal mit allen Begleit-und Folgeerscheinungen wie dem Verhältnis zum Adel auf der Insel, der Feudalstruktur und dem Verhältnis zu Papsttum und Kirche. Mit Heinrich II. und dessen durch die Heirat mit Eleonore von Aquitanien intensiviertem Wirken auf dem Kontinent begannen die harten Auseinandersetzungen mit dem Adel in den sich territorial langsam formierenden Machtgebilden und insbesondere mit dem kapetingischen Königtum. Bei aller darstellerisch gebotenen Umfangsbeschränkung bietet dieser Abschnitt eine meisterhafte Konzentration auf die großen Linien und die Hauptereignisse in den Reformen des Machtaufbaues, das Schicksal des Thomas Becket mit seiner Dauerlast für den Herrscher, der schwierigen Beziehung zur Gemahlin und schließlich den Rivalitäten der Kinder. Die Ziele der Expansion der Macht lagen im Vorraum der Pyrenäen. Nach ansehnlichen Erfolgen in den siebziger Jahren konnten jene Positionen infolge der Gegensätze zwischen Vater und Söhnen nicht gehalten werden. Die insularen Entwicklungen standen in steter Interferenz mit solchen auf dem Kontinent. Diesen Erscheinungen in der bunten Vielfalt der Adelsgruppen widmet sich Berg kurz, wohl weil die Quellengrundlage noch nicht derart umfangreich ist wie in den folgenden Zeitspannen.
Aus den Streitereien zwischen den Söhnen Heinrichs II. ging Johann ohne Land als Überlebender hervor. Mit ihm aber begann eine Phase des Niederganges. Berg hebt die einander ergänzenden Missstände hervor: Fehlgriffe in der Nutzung von Verträgen mit den Baronen, wachsende Initiativen des neuen Königs Philipp II. August von Frankreich, Verlust der Normandie 1204, Einbußen im Raum nördlich der Loire. Die Unterstützung Ottos IV. im deutschen Thronstreit erwies sich als Fehlkalkulation, die Schlacht von Bouvines brachte 1214 den tiefen Einbruch mit Krisen auf dem Kontinent und auf der Insel. Die Darstellung der weitreichenden innenpolitischen Entwicklung insbesondere in England hin zur Magna Charta verbindet Berg außer mit dichtem Faktenreichtum mit sehr beachtenswerten historiographischen Forschungsbewertungen. Gerade im Blick auf den Anfang des 13. Jahrhunderts mit dessen widerstreitenden und sich überkreuzenden Abläufen hatte die oft nationalbefangene Wissenschaft manches Fehlurteil gebracht, dem hier klug und nachsichtig begegnet wird.
In der Würdigung des lang regierenden Heinrich III. nimmt die Kontinentalpolitik breiten Raum ein, auf die Streitigkeiten mit der baronialen Opposition in England wird gleichermaßen eingegangen. Es sind eigentlich wieder die alten Kampffelder im Westen wie im Vorland der Pyrenäen, wo Misserfolge zur Krise führten mit den Provisionen von Oxford und der Entmachtung des Monarchen. Ihm kommt die einfühlsame Würdigung eines Herrschers ohne fortune zu. Der Wiederaufstieg des englischen Königtums im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts ging dann einher mit Machtproben in den sogenannten „keltischen“ Reichen, nicht nur in kriegerischen Vorstößen, sondern in planvoller Rechtspolitik, diese gestaltet in regelmäßiger Verbindung mit dem Parlament in Westminster. Die Interferenzen betont zu haben, gehört zu den wichtigen Hinweisen auf die Besonderheit der englischen Verfassungsgeschichte. Eingängig dargestellt ist das Wesen der damals sich ausformenden Institutionen verbunden mit trefflichen Hinweisen biographischer Natur im Blick auf die sie prägenden Amtsträger. Man darf einfügen, dass die sich ausbreitende Schriftlichkeit in den Verfahren englischer Institutionen vergleichbar ist mit Vorgängen in Frankreich und überlegender Schwerfälligkeit und Lückenhaftigkeit in Deutschland. Einer Darstellung wie der Bergs kommt natürlich diese Entwicklung zugute. Er bringt treffliche Analysen der überdehnten Ambitionen auf der Iberischen Halbinsel, des Wiedererstehens des Konfliktes mit Frankreich aufgrund von Seegefechten im Kampf der Fischer um Fanggründe mit immer stärkeren maritimen Engagements. Nicht zuletzt dadurch wurden die älteren Gegensätze in Wales, Irland und besonders in Schottland wachgehalten. Es gehört zu den besonders eindrucksvollen Passagen des Buches, auf jene Pendelwirkungen in den westeuropäischen Krisenregionen hinzuweisen. Man darf wohl unterstellen, dass es ein dichtes und rasch funktionierendes Netz von Nachrichtenübermittlung gab, getragen sicherlich von Fernkaufleuten. Eduard III. griff wie seine Vorgänger in der Bündnissuche auf dem Kontinent in den flämisch-niederrheinischen Raum und in die Westalpen aus, nahm auch die vertragliche Bindung mit dem römischen König Adolf von Nassau auf, dem eine im Vergleich zur älteren deutschen Forschung maßvoll abwägende Beurteilung zuteil wird. König Eduards III. Tod brachte eine Zäsur, führte er zunächst zu einer Regentschaft, diese gefolgt von einer Aktivierung von Kräften des Adels mit steigenden Ansprüchen auf politische Mitgestaltung. Dorthin ging eigentlich keine gerade Linie. Denn der Platagenet war selbst zunächst erfolgreich, konnte seine finanzielle Basis in Nutzung des monopolisierten Wollhandels erheblich stärken. Zudem förderte er aus persönlicher Neigung das kulturelle Schaffen. Doch seine Friedenspolitik gab Anlässe zu aus der baronialen Opposition erhobenen Vorwürfen und dem Königssturz. Auch bei solcher Gelegenheit besticht die kritische Stellungnahme zu Quellenaussagen und national verbogener Literatur Englands und Frankreichs.
Die Folgen der Ermordung des Königs waren zunächst eine Regentschaft für den noch unmündigen Nachfolger, diese Jahre überschattet vom Liebesleben der Mutter mit dem im Streit mit den Baronen zu ungeahnter Stellung gelangten, dann aber 1330 hingerichteten Roger Mortimer. Dessen Sturz gab den Weg frei für das Königtum Richards II., das in seiner Art sich ganz in die Abfolge von Verhaltensweisen und Fehlschlägen der Politik der Plantagenets auf dem Thron anschließen sollte. Anfangs suchte der junge Herrscher noch die Fortsetzung von Friedensbemühungen, aber auch er erbte die alte Feindschaft der Schotten, die schließlich zu einer der Ursachen für den Hundertjährigen Krieg in Frankreich mit dem 1338 zum Thron gelangten Haus Valois wurde. Berg ordnet diese Einzelheit ein in das einprägsam dargestellte Bündel der anderen zum Kampf um die kontinentalen Positionen der Plantagenets drängenden Entwicklungen. Hier wie an anderen Stellen werden die meist schwierigen lehnsrechtlichen Übereinkünfte der Herrscher in den sich materiell wandelnden Beziehungen zwischen Kronträgern und Baronen als wesentliche Elemente der Politik dargestellt. Man darf abermals hervorheben, dass der Verfasser manchem Partikularismus in den Beurteilungen des Geschehens die Spitze nimmt zugunsten einer Gesamtschau. Dies gilt auch im Blick auf den Dynastiewechsel von 1338 in Frankreich. Richard II. wollte gegen diesen mit aller Entschiedenheit ankämpfen, konnte das Ziel aber in Anbetracht des Ausbleibens seiner finanziellen Zusagen bei den Verbündeten nicht verwirklichen. Zu unterstreichen ist Bergs Befund, dass sich die dynastischen Auseinandersetzungen „zunehmend in einen Krieg zwischen Ländern und Völkern verwandelten“ (S. 226, 248). Besonders französische Aussagen in älterer Literatur zu den einzelnen Phasen des Krieges erfahren Berichtigungen. Berg steht da mehr auf der Seite „seiner“ Plantagenets als auf der des Hauses Valois. Aufmerksam verfolgt er die sich bis 1377 in Schüben und mit wechselnden Inhalten vollziehende Ausformung des Parlaments in Westminster, die gesehen wird in ihrer Interdependenz mit insularen und kontinentalen Misserfolgen des Königs. Überschattet werden jene Jahre vom Bauernkrieg in England. Vielleicht noch stärker als dieser wirkte auf das Geschehen eine Polarisierung in der Gesellschaft, als trotz empfindlicher Misserfolge in Frankreich viele Große in England das Streben des Königs nach Frieden konterkarierten aufgrund wirklichkeitsfremder wirtschaftlicher Hoffnungen. Allerdings wurde auch Richard II. verlockt, in Anbetracht der schweren Erkrankung des Königs Karl VI. und Wirren in Frankreich dort einzugreifen. Zeugnis dafür sind nicht zuletzt seine Bündnisse mit deutschen Fürsten, unter denen sogar Pfalzgraf Ruprecht III., der spätere König, zu finden ist. Diese wie auch andere Initiativen endeten in Misserfolgen und führten zu Ansehensverlusten. Den diesbezüglichen Aussagen in meist pejorativen Quellen begegnet Berg mit Recht sehr kritisch. Den eigentlichen Gründen, die schließlich zu Richards Ermordung führten, wird man wohl kaum mit letzter Klarheit beikommen können. Zur Beurteilung der Gesamtabläufe im Ringen der beiden Mächte sollte man die demographischen Voraussetzungen beachten. Frankreich war stets, trotz der schweren Kriegsverluste, stärker bevölkert und wohl regenerationsfähiger in den Gebieten der Krondomäne und der Kronvasallen als England in dessen steter Bedrängtheit insbesondere durch die Schotten.
In einem Schlusskapitel weist Berg auf Grundprobleme von Gesellschaft und Wirtschaft sowie des Bildungswesens im mittelalterlichen England hin. Wandlungen im Kriegswesen, Wirtschaftsentwicklungen und dabei die Stellung der Juden, die Struktur der Bildung zunächst in kirchlichen Institutionen, dann in Kollegs in laikaler Stiftung und Trägerschaft mit der Formung wohlausgebildeter Beamtenschaft, die Agrarkrisen in der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts, die wachsende Bedeutung der Handelskreise mit der Konkurrenz zur Hanse und nicht zuletzt die Phasen erstaunlich dichten Kulturschaffens bilden die Hauptgegenstände der Darlegungen in schon in den vorangegangenen Kapiteln allenthalben anzutreffenden Präzision der Sprache und Eingängigkeit der Beweisführungen. – Doch wenigstens ein Mangel sei angedeutet: Man hätte einem so dicht geschriebenen Buch zwei Karten beigeben dürfen, eine für England, eine für Frankreich. Es hätte nicht eines formvollendeten Atlanten bedurft, doch wenigstens zweier Skizzen. Und ganz ans Ende sei die Bemerkung gefügt, dass der Verlag in seiner Reihe abermals ein Buch gebracht hat, dem eher der Charakter eine Handbuches als der eines Taschenbuches eignet. Auch dies verdient Dank.
Wiesbaden Alois Gerlich