Akten der Reichskanzlei: Regierung
Hitler 1933-1945, Die Regierung Hitler, Band 3 1936, bearb. v. Hartmannsgruber,
Friedrich. Oldenbourg, München 2002. LXVIII, 993 S.
Je länger
das Dritte Reich dauerte, umso mehr verlor die Reichskanzlei ihre Funktion als
Zentrum der Entscheidungsfindung. Zwar gab es noch Besprechungen zwischen
Ministern und Kanzler, doch wurden sie immer seltener (1936 gab es nur noch
drei Kabinettssitzungen und eine Ministerbesprechung) und ihre Funktion wurde
nach und nach ausgehöhlt. Gesetze, Erlasse u. ä. wurden vorwiegend im
Umlaufverfahren verabschiedet. Der Niedergang der Kabinettsregierung gab den
Ressorts einerseits einen größeren Handlungsspielraum, andererseits erhielt die
Reichskanzlei vermehrte Bedeutung als Koordinationsstelle zwischen diesen
Ressorts und als Vermittlungsinstanz zwischen den Ministerien und dem „Führer
und Reichskanzler“. Aus dieser Entwicklung wurde für die Edition die
einsichtige Konsequenz gezogen, neben den Kabinettssitzungen vermehrt auf die
Sachakten der Ressorts zurückzugreifen, zumal diese jetzt uneingeschränkt
zugänglich sind. Die Frage, welche Dokumente denn nun gedruckt werden sollen,
weil sie von „historisch-politischer Bedeutung“ sind, ist also für die Regierung
Hitler schwieriger zu beantworten als noch für die Regierungen der Weimarer
Republik. Die Entscheidung zugunsten von Quellen, die die Gesetzgebungsarbeit
der Ministerien und die Koordinationsfunktion der Reichskanzlei spiegeln,
einschließlich von Anordnungen, Runderlassen, Erlassen des „Führers“, ist
überzeugend. Als besonders aufschlussreich erweisen sich Aktenvermerke der
Reichskanzlei, die Denkschriften der Ressorts und Eingaben von außen. Es wird
also immer mehr der Weg von der Fondsedition zur Sachdokumentation beschritten.
Die damit verbundene Gefahr besteht allerdings darin, dass das Gesamtwerk zu
sehr aufgeschwemmt wird, weil zweifelsfreie Kriterien der Abgrenzung fehlen.
Das unter
anderem deswegen auf fast 1000 Seiten dokumentierte Jahr 1936 war für die
Nationalsozialisten eine Zeit vermehrter innerer Zustimmung. Dafür waren die
Olympischen Spiele in Berlin, die - nicht überraschend - in der
Regierungstätigkeit allerdings kaum Niederschlag gefunden haben, das äußere
Zeichen. Entscheidender für die Festigung des Regimes war aber zum einen die
fast vollständig erreichte Aufhebung der Beschränkungen des Versailler Vertrags
und die inzwischen herrschende Vollbeschäftigung. Während die außenpolitischen
Vorgänge in dieser Quellensammlung nicht fassbar sind, da die Dokumente an
anderer Stelle bereits veröffentlicht wurden, zeigt sie, wie die Reichsbehörden
der Mangel an Facharbeitern und an Arbeitskräften für die Landwirtschaft
bereits umgetrieben hat.
Doch werden
auch die den Zeitgenossen noch kaum erkennbaren dunklen Seiten des Regimes
sichtbar. Die Aufrüstung wurde mit äußerster Intensität vorangetrieben, obwohl
Fachressorts und Experten auf den Mangel an Devisen und Rohstoffen wie auf die
Zerrüttung der Staatsfinanzen immer wieder hinwiesen. Daneben die fortgesetzte
Einschränkung der öffentlichen Entfaltung der Kirchen. Das ging von der
Beseitigung der rechtlich gesicherten privaten Vor- und Grundschulen in
kirchlicher Trägerschaft bis hin zu Überlegungen über eine
Entkonfessionaliserung des Volksschulwesens und der Einschränkung der
Steuervergünstigungen der christlichen Kirchen. Kaum etwas wurde zunächst
umgesetzt, da der Diktator sich mit keiner Großgruppe der „Volksgemeinschaft“
anlegen wollte in einer Zeit, in der diese auf den Krieg eingestimmt werden
sollte. Hier wird deutlich, welche Aufschlüsse die vorliegende Quellensammlung
geben kann. Kamen doch die vielen Kampfmaßnahmen des nationalsozialistischen
Regimes oft ganz harmlos im Gewand bürokratischer Maßnahmen daher. So war zum
Beispiel die sachlich durchaus zu begründende Beseitigung der Steuerautonomie
von Kirchengemeinden als Schlag gegen die Gemeinden der Bekennenden Kirche
gedacht, der dann doch nicht durchgeführt wurde. Teilweise wurde diese Taktik
auch bei Entrechtung der deutschen Juden verfolgt durch wenig spektakuläre,
doch den Einzelnen hart treffende Maßnahmen. Die Ministerialbürokratie spielte
hierbei eine zwielichtige Rolle. Einerseits wies sie oft auf den Schaden hin,
der der deutschen Wirtschaft durch Emigration und Verdrängung der Juden
entstehe; dabei sagen die Akten verständlicherweise nichts darüber, wie weit
humanitäre Überlegungen eine Rolle spielten. Andererseits hat sie gegen die in
den Diskussionen von der NSDAP vertretene Position, dass Deutschland auf Dauer
„judenfrei“ werden müsse, nie grundsätzliche Einwände erhoben.
Die für die
Verfassungs- und Rechtsentwicklung des Zeitraums wohl wichtigste, wenn auch
nicht sehr umfangreich dokumentierte Entscheidung war die Ernennung des
Reichsführers SS, Heinrich Himmler, zum Chef der deutschen Polizei. So war das
neben der Armee wichtigste Gewaltinstrument in eine von Verwaltung und Justiz
unabhängige Sonderstellung überführt worden. Der Wunsch der „Akademie für
Deutsches Recht“ nach Beteiligung an der Gesetzgebung blieb unerfüllt, da es
entgegen einer von Verwaltungsbeamten und Juristen noch lange gehegten Illusion
der nationalsozialistischen Gesetzgebung nie um Rechtsetzung ging. Obwohl man
es so viel besser machen wollte und inzwischen selbst Nationalsozialisten die
Kehrseite der Verreichlichung in Kompetenzwirrwarr und Überbürokratisierung
erkannten (Die Denkschrift des thüringischen Reichsstatthalters Sauckel vom 27.
1. 1936 dazu ist eines der aufschlussreichsten Dokumente), kam die Reichsreform
auch 1936 keinen Schritt weiter. Das gilt auch für das immer noch nicht zum
Abschluss gebrachte „Deutsche Beamtengesetz“ wie für die große
Strafrechtsreform, die die Intensität des verbrecherischen Willens zur
Richtschnur für die Strafe machen wollte. Hingegen gelangen die politisch weniger
umstrittene Neuordnung des gewerblichen Rechtsschutzes und die Novellierung des
Bodenwirtschaftsrechts.
Die
vorliegende Quellensammlung veranschaulicht gut ein Charakteristikums des
inneren Betriebs der nationalsozialistischen Diktatur: das Gegeneinander von
ideologischem Durchsetzungswillen und den Traditionen der Reichsbürokratie wie
deren Festhalten am formalen Recht. Man staunt, mit welcher Intensität manchmal
über Banalitäten gestritten wurde und woran von der Partei gewünschte Maßnahmen
gelegentlich gescheitert sind. Hitler erscheint in diesen Quellen gar nicht so
selten als ein zögernder und durchaus von Beamten und Ministern beeinflussbarer
Diktator dort, wo es für ihn um Marginales ging. Diese Akten sind die
notwendige Ergänzung des Bilds vom omnipotenten Diktator und Verführers der
Massen. Sie zeigen auch, welche Bedeutung überkommenes Verwaltungshandeln und
Formen des Rechts in der in dieser Hinsicht so deutschen Diktatur hatten.
Wie bisher
erschließen solide und umfangreiche Register die Texte. Deren Kommentierung
gerät oft zu umfangreich, da der Versuchung nachgegeben wird, dort nochmals in
größerem Umfang Akten auszugsweise zu zitieren. Der Wert der Einleitung des
Bearbeiters liegt vor allem darin, dass die Vor- und Nachgeschichte von Maßnahmen
geschildert werden, die 1936 weder zum ersten Mal aufgegriffen wurden noch zum
Abschluss kamen. Bedauerlich ist nur, dass auf den anschließenden Abdruck der
erwähnten Dokumente nicht verwiesen wird.
Eichstätt Karsten
Ruppert