Weber, Wolfgang E. J., Geschichte der europäischen
Universität (= Urban Taschenbuch 476). Kohlhammer, Stuttgart 2002. 268 S., 6
Abb.
Das vom Autor selber als
„Überblicksdarstellung“ deklarierte Buch verdankt seine Entstehung allgemein
der Einsicht in die „verbesserungsbedürftige Lage der universitätshistorischen
Forschung“ (S. 9), speziell aber der wohl als unabweisbar empfundenen
Notwendigkeit, daß „Wissenschafts- und Universitätsgeschichte auf neue Weise
(wieder) zusammengeführt und miteinander verknüpft werden müssen“ (S. 12).
Unter dieser Prämisse versucht Weber die mehr als achthundertjährige Geschichte
der europäischen Universität in der Einheit von äußerer, institutionell-struktureller
und inhaltlich-wissenschaftlicher Entwicklung darzustellen. Der zuletzt
genannte Aspekt erfaßt freilich weniger die jeweiligen Leistungen und
Ergebnisse der Wissenschaft, sondern anhand ihrer universitären Strukturen (sprich Fakultäten) und
eingebettet in die geistesgeschichtliche Entwicklung der jeweiligen Epoche
Grundzüge wissenschaftlichen Wirkens sowie Formen und Methoden des als
„Wissensbefassung“ nicht gerade glücklich bezeichneten „Umgangs mit Wissen an
der Universität“ (S. 7).
Diesem Verfahrensschema folgt die
Darstellung der Universitätsgeschichte in drei Kapiteln, deren erstes unter dem
Titel „Das Mittelalter: Scholastische Bildung für das christliche Europa“ den
Zeitraum vom Entstehen der „Uruniversitäten“ Bologna und Paris um 1200 bis an
die Grenze zur frühen Neuzeit um 1400 beinhaltet (S. 16ff.). Behandelt werden
die Grundlagen und Anfänge der Universität, ihre Ausbreitung und innere
Festigung, Universitätslehrer und Studenten („Magister und Scholaren“), den
breitesten Raum nehmen jedoch die Ausführungen über Strukturen und Prozesse der
Wissenschaft ein. Anhand der „nach dem Maßstab der Nähe zu Gott“ (S. 37)
eingerichteten hierarchischen Gliederung der Universität werden in
aufsteigender Reihenfolge die vier Fakultäten mit ihren jeweiligen
wissenschaftlichen Gegenständen und Methoden dargestellt. Formen der
Kommunikation zwischen Professoren und Studenten sowie der Professoren und
Universitäten untereinander und die Anfänge eines universitären
Bibliothekswesens runden dieses Kapitel ab. Einzelheiten des zu einem überaus
informativen Einblick verdichteten Stoffs zu referieren verbietet sich hier aus
Platzgründen. Nur soviel sei angemerkt: Webers Darlegungen rufen akademische Traditionen ins Bewußtsein,
deren Herkommen kaum noch bekannt ist. Wer weiß schließlich heute noch, daß -
um nur wenige Beispiele zu nennen - die Dauer der auf 45 Minuten bemessenen
Vorlesungsstunde oder aber das Kanzleramt kirchlichen Ursprungs sind?
Mit Beginn der frühen Neuzeit wurde
die mittelalterliche, kirchlich dominierte Universität durch die Territorial-
oder Landesuniversität abgelöst. Diesem Prozeß in seinen äußeren und
inhaltlich-wissenschaftlichen Dimensionen geht Weber im zweiten Kapitel - „Die
Frühe Neuzeit: Die territoriale Universität in der Herausforderung durch Humanismus,
Konfessionalisierung und Aufklärung (1400-1790)“ - nach (S. 71ff.). In dieser
Epoche ging die zahlenmäßige Vermehrung der Universitäten von etwa 30 um 1400
auf fast 150 im Jahre 1790, die den Autor von einer „Sättigung der
Universitätslandschaft“ sprechen läßt (S. 82), Hand in Hand mit ihrer
„Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch den frühmodernen
Territorialstaat“ (S. 151). Das klingt nach gravierenden Eingriffen in die
überkommene universitäre Selbstverwaltung, ein Eindruck, der freilich täuscht.
Den „Hauptakteuren“ der Universität, den ordentlichen Professoren, blieb
genügend Spielraum, ihre traditionellen akademischen Vorrechte, vor allem
Lehrfreiheit, Graduierung und Selbstergänzung, wahrzunehmen. Auch die sozialen
Profile der Studenten und Professoren zeigten kaum durchgreifende
Veränderungen. Stattdessen werden in dem so betitelten Abschnitt (S. 90ff.)
Details und Tendenzen universitären Lebens und Arbeitens behandelt
(Immatrikulation, Doktorat, Familienuniversität, Lehrmethoden u. a.). Ein differenziertes
Bild zeigt sich in der Ausstattung der frühneuzeitlichen Universität (S. 101ff.):
Während ihre Architektur durch „Traditionalität oder nur zögerliche oder
indirekte Modernität“ geprägt war, entstanden mit der Einrichtung der ersten
botanischen Gärten, Kliniken und Objektsammlungen und dem Aufbau förmlicher
Universitätsbibliotheken an Stelle der bisherigen Buchsammlungen neue,
zukunftweisende Elemente.
Dem gewählten Ordnungsprinzip folgend
behandelt Weber im Abschnitt „Strukturen und Prozesse der Wissenschaft“ (S. 106ff.)
vor dem durch Humanismus, Konfessionalisierung und Aufklärung geprägten
ideengeschichtlichen Hintergrund
die Entwicklung der Fakultäten. Dabei
weist er nach, daß bei Fortbestehen der traditionellen viergliedrigen
Universitätsstruktur mit der „traditionell als Krönung universitärer
Wissenschaft angesehenen theologischen Fakultät“ (S. 136) an der Spitze sich
ein Bedeutungswandel zugunsten der philosophischen Fakultät vollzog, der einem
„inneruniversitären Aufstieg“ gleichkam (S. 124). Er war ebenso wie der
Geltungsanstieg der Jurisprudenz, die „bis weit in das 18. Jahrhundert hinein
den Status einer Leitwissenschaft genoß“ (S. 133), dem Beitrag geschuldet, den
beide Wissenschaftsgebiete für die theoretische Grundlegung und praktische
Politik des Territorialstaates objektiv leisteten.
Der Umgang mit den gegenständlichen
Voraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens, vor allem mit dem Buch, die
Entwicklung der Lesekultur, aber auch Fragen der Zensur bilden neben Formen und
Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation den Inhalt eines mit
„Wissensbefassung“ wiederum nicht sehr treffend bezeichneten Abschnitts (S. 142ff.).
Als „Epoche beschleunigten Wandels“
der europäischen Universität charakterisiert Weber den Zeitraum von 1790 bis
1990. Ihm ist unter dem Titel „Die Moderne: Die nationale Universität in der
Epoche der Staatsbildung, Staatenrivalität, des
technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts und der Industriegesellschaft“
das dritte Kapitel gewidmet (S. 154ff.). Innerhalb des 200 Jahre umfassenden
Zeitraumes unterscheidet Weber vier Phasen der Universitätsentwicklung, die
freilich teilweise - sowohl zeitlich als auch inhaltlich - unscharf konturiert
sind. Inwieweit das Ende der Ost-West-Konfrontation für die Universitätsgeschichte zäsurbildend gewirkt
hat, darüber wird man ohnehin streiten können. Wichtiger scheint indes die
Sicht Webers auf jene Phase, die er „zwischen dem ersten Drittel und den
letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts“ ansiedelt und die er als „Blütezeit
der ,klassischen Universität’“ (S. 232) bzw. als
„Hochblüte der modernen Universität in dieser klassischen Zeit“ (S. 158f.)
bezeichnet. Abgesehen davon, daß er an anderer Stelle die Hochblüte der
europäischen Universität an deren quantitativen Wachstum festmacht und damit
auf den Gesamtzeitraum erstreckt (S. 174), fehlt der schlüssige Nachweis, daß
und wie die - noch dazu „definitiv verstaatlichte“ (S. 157) - Universität sich
in den genannten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts „in erster Linie nach ihrer
eigenen Dynamik entwickeln“ konnte (S. 232), was ihm als Kriterium der
Beurteilung jener Phase als „Blütezeit der ,klassischen Universität’“ gilt.
Den äußeren Rahmen des beschleunigten
Wandels bildete die globale Ausbreitung der Universität, in deren wechselvollen
Verlauf Rückgangs-, Stagnations- und Wachstumsphasen einander ablösten und in
deren Ergebnis die Zahl der (Voll-)Universitäten von weltweit 190 um 1800 auf
mindestens 700 bis 800 um 1990 anstieg. Allein 166 davon entfallen auf die USA.
Weber spricht in diesem Zusammenhang vom „sekundären (US-amerikanischen)
europäischen Universitätsmodell“ (S. 235), ohne freilich dessen Merkmale und
Unterschiede zum primären, genuin europäischen Modell hinreichend zu erläutern.
Hier wie auch an anderen Stellen handelt es sich nicht um den eingangs
angekündigten unvermeidlichen „Verzicht auf spezifische Details“ (S. 14),
sondern um Auslassungen auf Kosten des theoretischen Gehalts der
Universitätsgeschichte.
Stark verknappt und auf Grundzüge
beschränkt erscheinen auch die Abschnitte, in denen Weber Verfassung und
Verwaltung (S. 174ff.), Professoren und Studenten (S. 179ff.), Einrichtung und
Gestaltung (S. 191ff.) und die Fakultäten (S. 195ff.) der modernen, nationalen
Universität behandelt. Die über den gesamten Epochenzeitraum vorhandene
evolutionäre Entwicklung mußte dabei zwangsläufig untergehen. Auch unter dieser
Sicht sind gegen eine Reihe verallgemeinernder Aussagen Bedenken anzumelden. So
spricht Weber von der „gute(n) persönliche(n) Ausstattung“ der Privatdozenten
(S. 185), womit deren wirtschaftliche Lage gemeint ist, von der Habilitation
als „spezifischer Tauglichkeitsprüfung“ des akademischen Nachwuchses ab der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 184) und von der Verlagerung des
Kirchenrechts aus der juristischen an die theologische Fakultät seit dem frühen
19. Jahrhundert (S. 201). Gegen alle diese Aussagen sprechen anderslautende
empirische Befunde.
Uneingeschränkt zuzustimmen ist Weber
dagegen, wenn er für das Ende der Epoche die „unüberschaubar gewordene, in sich
stark zerklüftete, nur noch über eine oberflächliche Eigenidentität verfügende
Massenuniversität“ konstatiert (S. 234), deren „aktuellen Szenarien“ er in
einer Schlußbilanz nachgeht (S. 235ff.).
Das Buch, mit 6 Abbildungen
illustriert und mit einer knappen Zeittafel sowie Personen- und Ortsregister
versehen, verrät in vielem die Handschrift des Kulturhistorikers. - Obgleich
aus naheliegenden Gründen auf einen Anmerkungsapparat verzichtet wurde, ist u. a.
an den gelegentlich in den Text eingestreuten Autorennamen erkennbar, daß Weber
seiner Arbeit den neueren und neuesten Forschungsstand zugrunde gelegt hat.
Seine kapitelbezogenen Literaturhinweise, die keinerlei - weder alphabetische
noch chronologische - Ordnung erkennen lassen, sind freilich nur bedingt
hilfreich. Einzelne im Text genannte Autoren werden im Literaturverzeichnis
übergangen (z. B. der auf S. 145 erwähnte Paul Nelles). Gelegentlich stören
Ausdrucksschwächen den ansonsten guten stilistischen Gesamteindruck der Arbeit.
So wirken Wort- bzw. Satzungetüme wie „Ordnungsdurchsetzungsbemühungen“ (S.
134), „verunmöglichen“ (S. 180) oder „Wer es (das postglossatorische System -
L. J.) maßgeblich vertrat, waren u. a. Bartolus von Sassoferrato ...“ (S. 56)
ebenso wie falsche Genusbestimmung (die Erfordernis, S. 10,34; der
Pathos, S. 194) durchaus befremdlich.
Halle Lieselotte
Jelowik