Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen (= Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht 72), 2 Bde. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001. XLIX, 1481 S.

 

Ziel der Rechtsvereinheitlichung in der Europäischen Gemeinschaft ist ein Entscheidungseinklang: Die in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union übereinstimmenden Rechtsvorschriften führen identische Sachverhalte vor jedem Gericht derselben Lösung zu, vorausgesetzt sie werden einheitlich ausgelegt. Wäre die gängige These vom fundamentalen Unterschied zwischen der streng wortlautorientierten englischen Auslegungsmethode und der freieren teleologischen auf dem Kontinent richtig, bliebe die europäische Rechtsharmonisierung ein unerfüllbarer Wunschtraum. Hier setzt Stefan Vogenauer mit seiner zweibändigen Dissertation an. Neben der genannten These (S. 5ff.) stehen noch die These vom Rechtsquellendualismus (S. 11ff.), die Rezeptionsthese (S. 13f.) und die Unterlegenheitsthese (S. 14f.) auf dem Prüfstand.

 

Dabei versteht der Verfasser seine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischer Grundlagen deskriptiv, nicht normativ. Nach dem Vorbild des 1991 von Neil MacCormick und Robert Summers herausgegebenen Sammelbandes „Interpreting Statutes“ (vgl. auch „Interpreting Precedents“ (1997) und demnächst Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft) beschränkt sich Vogenauers Arbeit auf die Entscheidungspraxis der Gerichte und enthält sich der normativen Fragestellung, wie Gesetze auszulegen sind. Stattdessen schildert er auch die verfassungsrechtlichen und -politischen, die rechts- und sprachphilosophischen sowie die rechtstatsächlichen Gründe für die Interpretationsmethoden in den verschiedenen Rechtsordnungen zu verschiedenen Epochen.

 

Beeindruckend ist das Gewicht der rechtshistorischen Untersuchung für Vogenauers Beweisführung. Der umfassende vergleichend historische Ansatz erfüllt ein Desiderat rechtshistorischer Forschung, die für die kontinentaleuropäische Gesetzesauslegung überwiegend nur auf Untersuchungen zu bestimmten Epochen, Personen oder Sachproblemen zurückgreifen konnte. Monographien zur Geschichte der englischen Auslegungsmethode liegen bisher nur für die Interpretationspraxis des 13. und 14. Jahrhunderts vor.

 

Der erste Teil der Arbeit analysiert die Auslegungspraxis kontinentaleuropäischer Gerichte (1. Kapitel: Deutschland, 2. Kapitel: Frankreich) einschließlich der Gesetzesauslegung im Recht der Europäischen Gemeinschaften (3. Kapitel), ehe die historische Entwicklung der Auslegungsmethoden auf dem Kontinent dargestellt wird. Im zweiten Teil geht es um die Auslegungspraxis englischer Gerichte: die Billigkeitsauslegung bis zum frühen 19. Jahrhundert (5. Kapitel), die wortlautstrenge Gesetzesauslegung im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (6. Kapitel) und die zweckorientierte Gesetzesauslegung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts (7. Kapitel). Im dritten Teil der Arbeit werden die kontinentaleuropäischen und die englischen Methoden miteinander verglichen (8. Kapitel), bevor im Ergebnis die Ausgangsfrage nach der Haltbarkeit der vier Standardthesen beantwortet wird (9. Kapitel).

 

Alle Kapitel folgen einer einheitlichen, von den Ausgangsthesen abgeleiteten Gliederung. Da sich die These vom fundamentalen Unterschied sowohl auf die Verwendung bestimmter Auslegungskriterien als auch auf deren Gewichtung auswirkt, wird das Ziel der Auslegung (jeweils Gliederungspunkt A) vor den von der Rechtsprechung berücksichtigten Kriterien erörtert (jeweils Gliederungspunkt B). Die Art und Weise des Zusammenwirkens der verschiedenen Auslegungskriterien (jeweils Gliederungspunkt C) leitet über zum Hauptteil jedes Kapitels, dem Rangverhältnis der Auslegungskriterien im Konfliktfall (jeweils Gliederungspunkt D), und zu den Gründen für diese Gewichtung (jeweils Gliederungspunkt E). Abschließend wird untersucht, wie sich die Auslegungsmethode in die allgemeine Rechtskultur des betreffenden Landes bzw. der betreffenden Epoche einfügt (jeweils Gliederungspunkt F). Dieser funktionale methodische Zugriff überzeugt. Tertia comparationis sind jenseits der Begrifflichkeit der nationalen Methodenlehren die bei der Gesetzesinterpretation zu lösenden Aufgaben, wie der Umgang mit abschließenden Aufzählungen, mit Ermessensnormen, mit Kompetenzbestimmungen oder strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen. Dabei erschließen sich auch Detailfragen der Auslegungsmethode, wie beispielsweise die Problematik der völkerrechtskonformen Interpretation.

 

Das Ergebnis von Vogenauers vergleichender Untersuchung der Auslegungspraxis und ihrer historischen Grundlagen ist die Widerlegung der vier Arbeitsthesen, die er durch vier neue Thesen ersetzt (S. 1295ff.). Die Demontage der These vom fundamentalen Unterschied und der Nachweis einer weitgehenden Übereinstimmung der Auslegungspraxis trotz Detailunterschiede gelingt vor allem durch die Aufarbeitung der historischen Entwicklungslinien. In England folgt, wie auf dem Kontinent - nur zeitversetzt -, auf ein Zeitalter der Billigkeitsauslegung eine Epoche der strengen Buchstabentreue, die ihrerseits dem heute noch herrschenden zweckorientierten Ansatz weichen muß. Die bisher herrschende These vom fundamentalen Unterschied krankt vor allem daran, daß sie als Vergleichsgegenstände einzelne Entwicklungsstadien der Interpretationslehre isoliert. An die Stelle der These vom fundamentalen Unterschied tritt die These von der fundamentalen Einheit (S. 1300ff.): Die vom Verfasser untersuchten englischen Präjudizien belegen sowohl eine Übereinstimmung der Interpretationskriterien als auch ihrer Gewichtung im Konfliktfall.

 

Die These vom Rechtsquellendualismus führt die angebliche Inkompatibilität englischer und kontinentaleuropäischer Auslegungsmethoden auf die Rechtsquellenqualität des englischen Präjudizienrechts zurück (S. 11ff., 1309ff.). Anders als die richterrechtliche Rechtsfortbildung der kontinentaleuropäischen Kodifikationen sei das common law eine primäre Rechtsquelle, die nicht nur neben, sondern sogar vor dem Gesetzesrecht stehe. Diese These wird durch das ausgewertete Material nicht belegt. Vielmehr läßt sich nach der vom Verfasser entwickelten Rechtskulturthese das spezifisch englische Zusammenspiel der Auslegungskriterien auf Faktoren der allgemeinen Rechtskultur, d. h. auf verfassungsrechtliche, rechtsphilosophische und rechtstatsächliche Überlegungen, zurückführen (S. 1313ff.).

 

Auch die gemeinschaftsrechtliche Rezeptionsthese, der EG-Beitritt Großbritanniens habe zu einer Annäherung der englischen an die kontinentale Auslegungsmethode geführt, wird von der vorgelegten Untersuchung nicht bestätigt (S. 1317ff.). Das zunehmende Interesse englischer Richter an internationaler Rechtsentwicklung läßt sich nicht auf den Beitritt zurückführen. Vielmehr weist Vogenauer nach, dass die englische Rechtspraxis bereits seit dem Mittelalter zahlreiche Interpretationsregeln des ius commune rezipierte, und formuliert vor diesem Hintergrund die gemeinrechtliche Rezeptionsthese (S. 1323ff.).

 

Die Unterlegenheitsthese ersetzt der Verfasser durch die Gleichwertigkeitsthese (S. 1325ff.). Selbst die traditionelle englische Auslegungsmethode des 19. Jahrhunderts, welche Autoren wie Esser (Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1990) anachronistisch und starr erscheint, ist dem modernen, zweckorientierten Ansatz der kontinentalen Rechte unter keiner Hinsicht, wie etwa der Verwirklichung eines bestimmten Rechtswerts oder Staatsverständnisses (S. 1326) oder der Zweckmäßigkeit der Auslegungsmethode (S. 1328f.) qualitativ unterlegen.

 

Trotz der Materialfülle überzeugt die Arbeit durch Stringenz der Gedankenführung sowie durch eine knappe, präzise und elegante Sprache. Als gelungenes Werk aus der Schule der applikativen Rechtsgeschichte belegt es die Fruchtbarkeit rechtshistorischer Forschung für die Rechtsvergleichung. Die vom Verfasser selbst thematisierten Grenzen des deskriptiven vergleichenden Ansatzes (S. 18ff.) und die verbleibende Frage nach den (versteckten) normativen Aussagen von Vogenauers Thesen stören den überzeugenden Gesamteindruck keineswegs. Darin liegen vielmehr Anregungen zu einem weiteren Diskurs über dieses für eine europäische Rechtsgemeinschaft zentrale Thema.

 

Passau                                                                                                                       Ulrike Seif