Vec, Miloš, Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in
der Kriminalistik (1879-1933) (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 1
Allgemeine Reihe 12). Nomos, Baden-Baden 2002. VIII,
153 S.
Der Band vermag trotz einladend schmalem
Rücken, schöner Bindung und ansprechender Illustrationen durch seine
befremdende, keine inhaltliche Titelhierarchie kennende Gliederung nach erster
Durchsicht nicht so recht zur Lektüre einzuladen. Die Darstellung ist dreiteilig.
Auf 15 Seiten wird „Das Problem der Personenidentifikation“ behandelt. Im
Vordergrund der Darstellung steht die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises und
das sich daraus bei den Polizei- und Justizorganen des 19. Jahrhunderts
ergebende Bedürfnis nach aussagekräftigen, technischen Sachbeweismitteln. Ein
zweiter mit dem Titel „Ein Thesaurus naturwissenschaftlicher Methoden“
überschriebener Teil von 40 Seiten stellt die im Untersuchungszeitraum
bekannten Identifikations- und Dokumentationsmethoden dar: Polizeifotografie, Bertillonage und Daktyloskopie und deren Koexistenz und
Konkurrenz. Auf den folgenden 60 Seiten geht es um „Die Logik der
Kriminaltechnik“. In diesem dritten Kapitel werden in durch ihre Überschriften
wenig kohärent anmutenden Unterkapiteln verschiedene Aspekte insbesondere der
Daktyloskopie und der polizeilichen Datensammlung um 1900 behandelt.
Vec setzt sich zum Ziel, in der vorliegenden im
Rahmen der selbständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe der
Max-Planck-Gesellschaft „Recht in der industriellen Revolution“ am
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main
entstandenen Studie Kriminalistik, Rechtsgeschichte und Technikgeschichte zu
verbinden. Er möchte klären, „welche Motive und welche Versprechungen sich mit
den historischen Kriminaltechniken im einzelnen jeweils verknüpften“. Die
Untersuchung beginnt zeitlich mit dem ersten Auftreten der Bertillonage
1879 und endet mit der Einführung des „Gesetzes gegen gefährliche
Gewohnheitsverbrecher“ 1933, das der daktyloskopischen
Erfassung zu Zwecken des Strafverfahrens oder des polizeilichen
Erkennungsdienstes erstmals eine Rechtsgrundlage lieferte.
Die Fahndung nach und Identifikation von
Personen waren stets zentrale Polizeiaufgaben. Steckbrief, Personalbücher und
Gaunerlisten erfuhren mit den technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts
Ergänzung oder Verdrängung durch Polizeifotografie (seit den 1840er Jahren), Bertillonage (ab 1879) und Daktyloskopie (nach 1895). Mit
der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Kriminalistik nach 1870
wurde insbesondere die dem traditionellen Zeugenbeweis eng verbundene
strafprozessuale Voruntersuchung durch die stetigen Weiterungen des
Sachbeweispotentials jedenfalls faktisch erneuert. Seit 1876 wurden in Berlin
Delinquenten erkennungsdienstlich fotografiert. In den folgenden 35 Jahren
legten die Polizeibehörden Verbrecheralben mit insgesamt 37.000
Personenfotografien an. Die bürgerliche Gesellschaft scheute keinen Aufwand, um
die kriminelle Gegenwelt auf Film zu bannen, was – nebenbei bemerkt – heute zur
amüsanten Folge hat, dass die Verbrecher von vorgestern im historischen
Bildmaterial aus dem 19. Jahrhundert besonders prominent vertreten sind.
Nach 1879 wurde die von Alphonse Bertillon entwickelte Anthropometrie
als präzises, wissenschaftliches Identifikationsmittel zur Ergänzung der
fotografischen Erfassung eingesetzt, welche bei korrektem Vorgehen zwar eine
zuverlässige Personenerkennung ermöglichte, jedoch aufwändig und kompliziert
war. In den 1890er Jahren verhalf Francis Galton der
Daktyloskopie zum Durchbruch. Der Fingerabdruck erwies sich als äußerst
zuverlässiges und einfach zu handhabendes Identifikationsmittel, doch dauerte es
noch bis zum Ersten Weltkrieg, bis die Daktyloskopie die Bertillonage
allmählich zu verdrängen vermochte. Den Erkenntnissen der zeitgenössischen
Kriminalanthropologie und –soziologie folgend, wurde
Kriminalität stark anlage- und milieugebunden
verstanden, sodass die effektive Wiedererkennung als Königsdisziplin der
polizeilichen Verbrechensbekämpfung galt. Dementsprechend kam der Förderung und
Verbreitung der modernen Identifikationstechnologie hohe Priorität zu.
Mit den Fortschritten der wissenschaftlichen
Kriminalistik wurden dem Juristen neue Erkenntnismöglichkeiten an die Hand
gegeben, welche die Gewissheitsverluste, welche die Prozessreformen anfangs des
19. Jahrhunderts nach sich gezogen hatten, kompensieren sollten. Der daraus
erwachsene Glaube an die Unfehlbarkeit des wissenschaftlichen Sachbeweises
begleitet das Beweisrecht und dessen richterliche Handhabung bis in die
Gegenwart. Vec zeigt auf, dass die neuen Sachbeweise
vor dem Hintergrund der euphorischen Eigendynamik der technischen Entwicklung
und einer davon berauschten bürgerlichen Gesellschaft während langer Zeit
praktisch ohne gesetzliche Normierung Einzug in den Strafprozess hielten.
Besonders erwähnenswert im Hinblick auf die aktuelle Diskussion über
DNA-Massentests ist der Gegenwartsbezug, den die Studie mit der Darstellung der
anfangs des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre in verschiedenen Staaten
angeregten, erkennungsdienstlichen und sicherheitstechnischen Zwecken dienenden
„Volksdaktyloskopie“ herstellt, die jedoch auf breiten Widerstand stieß und
nirgends verwirklicht wurde. Vec verbindet die Darstellung
der Wissenschaftsgeschichte des polizeilichen Erkennungsdienstes und der
Kriminalistik in fruchtbarer Weise mit dem sozial- und technikgeschichtlichen
Bedingungsgefüge.
Wer sich vom eigenwilligen Aufbau des Büchleins
nicht abhalten lässt, findet eine spannend und sehr lesbar geschriebene
Untersuchung zur kriminalistischen Personenidentifikation um 1900 und stößt auf
einen wertvollen Fundus zur historischen Kriminalistik. Vec
hat die Arbeit mit einer reichhaltigen Literatur- und Quellenauswahl sowie mit
einem Personenindex ausgerüstet, was zu weiteren Untersuchungen in diesem
vernachlässigten Bereich der Rechtsgeschichte motivieren mag. Die Anlagen der
Studie tauchen die interessante Thematik mit ihrem Forschungsbedarf in helles
Licht.
Sankt Gallen Lukas
Gschwend