Theisen,
Frank, Studien zur Emphyteuse in
ausgewählten italienischen Regionen des 12. Jahrhunderts: Verrechtlichung
des Alltags? (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 162). Klostermann,
Frankfurt am Main 2003. XIV, 513 S.
Der
Verfasser, ein Schüler von Wulf Eckart Voß,
hat an der Universität Osnabrück eine juristische Dissertation von
außergewöhnlich hoher Qualität vorgelegt. Aufgrund eingehender, umfassender Archivstudien hat er die Rechtspraxis in
italienischen Regionen des 12. Jahrhunderts im Bereiche der dauerhaften
Landverpachtungen, insbesondere der Emphyteuse,
untersucht und dargestellt. Er wirft dabei folgende Fragen auf (Einleitung, S.
1-11): In welcher Weise hat das seit dem 12. Jahrhundert zunehmend
verwissenschaftlichte Recht Einfluss auf das tägliche Leben genommen? In
welcher Weise wurde das römische Recht in der juristischen Alltagspraxis
umgesetzt? Wie lange haben sich spätantike Vorstellungen in der Rechtspraxis
erhalten? (S. 4)[1].
Herangezogen wurden vor allem Urkundenbestände der Romagna, insbesondere etwa des Klosters Pomposa (S. 7). Der
Schwerpunkt der Untersuchung liegt im 12. Jahrhundert. Territorial beschränkt
sich die Studie auf die Stadt Rom, die Romagna
einschließlich der Stadt Bologna und einige Grenzgebiete zur Lombardia, Regionen, in denen die römischen
Rechtsvorstellungen am wenigsten durch langobardisches
Recht überlagert waren, ferner auf Ravenna (S. 8f.).
Die Rechtspraxis wird stets in Verbindung zur Rechtswissenschaft gesetzt;
hinzugezogen werden vor allem Glossen und Summen. Die wissenschaftliche
Behandlung des Instituts der Emphyteuse wird bis zur Glossa ordinaria des Accursius verfolgt (S. 9).
Der erste Abschnitt (S. 13-47) behandelt die Pachtrechte in
der Spätantike. Der Verfasser (S. 24f.) zeigt das Vorhandensein verschiedener
Landpachtformen in der nachjustinianischen Zeit in
italienischen Gebieten, in denen das römische Recht weiterhin zur Anwendung
kam, auf. Neben der locatio conductio und
der locatio ad longum tempus[2]
findet sich seit dem 6. Jahrhundert immer häufiger die Emphyteuse
als Form der Verpachtung, insbesondere an Großgrundbesitzer. In den langobardischen Gebieten und in den Grenzregionen lässt
sich seit dem Frühmittelalter eine Zeitpachtform nachweisen, die Land in der
Regel auf 29 Jahre vergab, die sogenannte Libellarpacht (ius libellarium). Normative Ausführungen zu dieser
Pachtform fehlen; es erscheint daher kaum möglich, Verbindungen zur römischen precaria oder zu
anderen Pachtformen herzustellen (S. 25f.). Die Libellarpacht
wurde zumeist als Vertragstyp zur Verpachtung an minores, Personen aus unteren
Ständen, genützt (vgl. S. 281ff.). Die Pachtformen haben eine verschiedene
Entwicklung genommen (S. 44f.). Eingehend behandelt wird die Anwendung der Emphyeuse in Ravenna (S. 34ff.);
damit soll der Zusammenhang zwischen dem Vorkommen der Erbpacht in der
Spätantike und im Frühmittelalter nachgewiesen werden.
Im umfangreichen zweiten Abschnitt (S. 49-291) wird
eingehend die mittelalterliche Rechtspraxis in der Romagna
und in der Stadt Rom untersucht. Eine große Anzahl von Vertragsurkunden aus Ravenna (S. 49ff.), Rimini (S. 94ff.), Pomposa (S. 100ff.),
Ferrara (S. 152ff.), dem Kloster Nonantola (S.
167ff.), Bologna (S. 204ff.) und der Stadt Rom (S. 221ff.) wird analysiert und
auf ihren juristischen Gehalt ausgewertet. Auch Prozessakten und -Urkunden
werden herangezogen (S. 225ff.). Die engen Verbindungen zwischen Rechtspraxis
und Rechtswissenschaft werden aufgezeigt (vgl. S.166f., 203f.).
Ein wesentlicher Unterschied zwischen der locatio ad longum tempus und der Emphyteuse war
in der bei der Emphyteuse bestehenden Pflicht des
Pächters zur melioratio,
zur Verbesserung des Bodens, gegeben (S. 222). Eine solche Verpflichtung
bestand auch bei der Libellarpacht. P. Grossi[3]
sah in der locatio ad longum tempus ein neues Rechtsinstitut, das von den Glossatoren entwickelt worden sei. Wohl haben die Glossatoren durch ihre Interpretation von D. 6. 3. 1 die
dogmatische Begründung für das geteilte Eigentum und einen langjährigen
Pachtvertrag eigener Art geschaffen. Sie stützten damit aber nur die bestehende
Rechtspraxis (so Verf. S. 272). Rechtsdogmatisch wesentlich ist zweifellos die
Ausbildung des geteilten Eigentums[4].
Der Verfasser (S. 273ff.) hebt die soziale, wirtschaftliche
und politische Bedeutung der Emphyteuse im gesamten
hohen Mittelalter hervor. Zumeist war die melioratio des zu verpachtenden
Landes die dem Vertrag zugrunde liegende causa.
Kirchliche Institutionen schufen sich mit Verpachtungen eine beständige
Einnahmequelle. Allerdings barg die langfristige Verpachtung für den Eigentümer
die Gefahr, dass die Güter entfremdet wurden. Die alienatio von Kirchengütern im
Wege der Emphyteuse wurde bereits in den justinianischen Novellen verboten (Nov. 7 pr. u. 3, a. 535 u. Nov. 120, a. 544; vgl. S. 19f.). Dieses
Verbot war durch die Epitome Iuliani
im Mittelalter bekannt. Kaiser Otto III. erließ im Jahre 998 im Capitulare Ticinense ein Verbot,
die Güter der Kirche mittels Emphyteuse oder Libellarpacht zu entfremden (S. 274).
Der
dritte Abschnitt (S. 293-361) hat „das mittelalterliche Quellenmaterial zur Emphyteuse“ zum Gegenstand. Zunächst werden die kanonistischen Quellen zur Emphyteuse
behandelt (S. 293ff.), insbesondere die Summen zum Decretum
Gratiani (S. 298ff.). Eine besondere Bedeutung
schreibt der Verfasser (S. 307f., vgl. S. 369 u. 416) in diesem Zusammenhang
der Summa des Kanonisten Uguccio
(Huguccio), Bischofs von Ferrara (gest. 1210), zu[5].
Uguccio (Summa zu Causa 10 q. 2 Decretum
Gratiani) spricht dem Emphyteuta
eine actio in rem als
Klagemöglichkeit zu; er folgt hierbei den Meinungen der Legisten
Bulgarus und Johannes Bassianus
(S. 307; vgl. S. 335 u.341). Bulgarus verwendet aber
nur den Ausdruck effectus dominii. Der
Terminus dominium utile findet
sich wohl erstmals bei Johannes Bassianus[6].
Der vierte Abschnitt (S. 363-427) befasst sich mit den
juristischen Positionen der Vertragsparteien. Behandelt wird zunächst die
rechtliche Stellung des Eigentümers (S. 363ff.), insbesondere dessen
Klagemöglichkeiten (S. 376ff.), sodann die rechtliche Stellung des Pächters (S.
384ff.). Erörtert wird in diesem Zusammenhang die Entwicklung zum geteilten
Eigentum (S. 387ff.)[7].
Für ein ius in re des Emphyteuta sprach sich von den italienischen Legisten zunächst Wilhelmus de Cabriano[8],
ein Schüler des Bulgarus, aus (S. 388f.)[9],
weiters Pillius (gest. 1213). Aufgrund des
herangezogenen Urkundenmaterials vertritt der Verfasser (S. 397) die Meinung,
dass „die Alltagspraxis eine Wegbereiterin zum dominium utile“ des Emphyteuta
war. Das dominium utile ist
aber wohl auf die rei vindicatio utilis des Emphyteuta
zurückzuführen[10] und
nicht umgekehrt, wie der Verfasser (S. 397) anscheinend meint, die rei vindicatio utilis auf das dominium utile. Eine rei vindicatio utilis stand
dem Emphyteuta schon nach justinianischem
Recht zu (Ulp. D. 6. 3. 1. 1; dazu Glosse In rem)[11].
Placentinus spricht dem Emphyteuta
eine actio utilis in rem zu (S. 420).
Azo anerkannte das geteilte Eigentum zunächst nur bei der Emphyteuse (S. 411), später erweiterte er den
Anwendungsbereich des dominium utile (quasi dominium)
auf den Superfiziar (S. 416)[12].
Die Glossa ordinaria des Accursius bildete den Abschluss der Entwicklung zu einem
geteilten Eigentum (S. 419)[13].
Knapp formuliert sind die Schlussfolgerungen (5. Abschnitt,
S. 429-430). Es folgt ein Verzeichnis der Abkürzungen (S. 431-432) sowie ein
umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 433-475). Mehrere Indices
(Quellen, Personen, Orte, Juristische Handschriften, S. 477-513) erschließen
das Werk.
Das beachtenswerte Verdienst des Verfassers liegt darin,
Verbindungen zwischen der mitelalterlichen
Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft aufgezeigt zu haben. Aufgrund der
Erschließung eines reichen Urkundenmaterials weist er nach, dass auch in der
Praxis zwischen den verschiedenen Arten von Pachtverhältnissen scharf
geschieden wurde. Die Auswertung des Urkundenbestandes hat eine weitgehende
Bestätigung der Lehren über die mittelalterlichen Pachtverhältnisse gebracht.
Rechtswissenschaft und Rechtspraxis haben sich gegenseitig beeinflusst und zu
Weiterentwicklungen geführt.
Graz Gunter Wesener
[1]Zur Frage der Kontinuität grundlegend A.
Steinwenter, Zum Problem der Kontinuität zwischen
antiken und mittelalterlichen Rechtsordnungen, Iura 2
(1951) 15 ff.; ders., Das Fortleben der
römischen Institutionen im Mittelalter, in: Relazioni
del X Congresso Internazionale
di Scienze Storiche, Roma
1955, VI (Firenze 1955) 547ff.
[2]Dazu P. Grossi, Locatio ad longum tempus. Locazione e
rapporti reali die godimento nella problematica del
diritto comune (Napoli 1963).
[3]Locatio ad longum tempus (o. Anm. 2) 138.
[4]Dazu P. Grossi, Le situazioni reali nell’esperienza
giuridica medievale (Padova 1968) 183ff.; R. Feenstra,
Les origines du dominium utile chez les glossateurs,
in: Feenstra, Fata Iuris
Romani (1974) 215ff.; F. Pastori, Il
doppio dominio dei glossatori e la tradizione romanistica, in: Studi in onore
di G. Grosso, VI (Torino 1974) 305ff.; Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte,
4. Aufl. (1985) 43f.; H.
Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 9. Aufl. (2001) 62ff., mit weiterer Lit.
[5]Zu dieser Summa St. Kuttner, Repertorium der Kanonistik (1140-1234), I (1937, Ristampa
1972) 155ff. Nach Meinung des Verfassers (S. 315) erst um 1201 entstanden.
[6]Dazu Feenstra,
Les origines du dominium utile (o. Anm. 4) 226; Grossi, Le situazioni reali (o. Anm. 4) 189
Anm. 15.
[7]Dazu schon 3. Abschnitt, S. 307f. Siehe
oben bei Anm. 4 und 6.
[8]Zu diesem H. Lange, Römisches
Recht im Mittelalter, I. Die Glossatoren (1997)
204ff.
[9]Vgl. Feenstra, Les origines
du dominium utile (o. Anm.
4) 227.
[10]Vgl. E. Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre
vom Eigentum (Leipzig 1883)
97f.; E. Bussi, La formazione
dei dogmi di diritto privato nel diritto
comune (Diritti reali e diritti di obbligazione.), Padova 1937,
13ff.; Feenstra, Les origines du dominium utile (o. Anm. 4) 248; Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte
(o. Anm. 4) 43.
[11]Vgl. M. Kaser,
Das römische Privatrecht, II, 2. Aufl. (1975)
311; Feenstra, Le origines du dominium
utile (o. Anm. 4) 246.
[12]Vgl. Feenstra, Les origines du
dominium utile (o. Anm. 4) 248f.; Pastori, Il doppio dominio (o. Anm. 4) 327 Anm. 51.
[13]Vgl. Ed. Meynial, Notes sur
la formation de la théorie du domaine divise (domaine direct et domaine utile)
du XIIe au XIVe
siècle dans les Romanistes, in: Mélanges Fitting II
(Montpellier 1908) 409ff., bes. 428ff.; Bussi, La formazione dei dogmi (o. Anm. 10) 15; Pastori, Il doppio dominio (o. Anm. 4) 327.