Senn, Marcel, Recht – Gestern und Heute. Juristische Zeitgeschichte. Schulthess, Zürich 2002. XII, 266 S.
Mit diesem
Buch stellt der Verfasser seinem 1999 in zweiter Auflage erschienenen
„kulturhistorischen Grundriß“ zur Rechtsgeschichte[1] einen
Band an die Seite, den er – so der Untertitel – der juristischen Zeitgeschichte
widmet. Den größten Teil des Bandes bilden (überwiegend neuzeitliche, bisweilen
aber auch mittelalterliche und der Antike entstammende) Texte, die in sechs
Kapitel gegliedert sind und denen der Verfasser jeweils eine Einleitung und
verbindende Texte hinzufügt. Die Kapitel und ihre Reihenfolge folgen einem gut
nachvollziehbaren didaktischen Konzept. Am Anfang (1. Kapitel) steht die Urfrage
nach dem Verhältnis von Gewalt und Recht, die (natürlich) mit der Wiedergabe
und umfangreichen Diskussion eines Hobbes-Textes beginnt, denen sich Texte von
der Antike bis hin zu Habermas und Luhmann anschließen. Von der Frage der
Legitimitätsentstehung geht der Verfasser sodann zu der anderen über, „wie
dieses Recht nach innen bestehen kann“ (S. 47) und betrachtet zunächst die
Träger rechtmäßiger Herrschaft. Das zweite Kapitel kreist daher um das Thema
„Elite und Recht“. Die hierzu im Laufe der Geschichte entwickelten Modelle
ordnet er gewissen Gesellschaftstypen zu (S. 50ff.) und diesen wiederum
bestimmte Quellentexte (S. 53ff.). Die folgenden beiden Kapitel schließen eng
daran an, indem sie die Ideologisierung und die Versuche zur Verrechtlichung
von Diversitäten thematisieren: „Rasse und Recht“ (S. 57ff.) und „Geschlecht
und Recht“ (S. 123ff.), zwei Themen, die sich bislang nur bescheidenen
Interesses der Rechtshistoriker erfreuen. Und von denen das erste gewiß heikel
ist – birgt es doch die Gefahr, „Texte wieder ins Gespräch zu bringen, die
besser nie geschrieben worden wären“ (S. 77). Jedoch ist seine Absicht, am
Beipiel der Entwicklung der Rasselehren und der Folgelasten der industriellen
Revolution für die Massen [...] die schleichende semantische Revolution des
Rassebegriffs von der kulturellen zur biologischen Vokabel der politischen und
juristischen Theorie nach[zu]vollziehen“, mit der Zusammenstellung der Texte
erreicht. Das folgende fünfte Kapitel – „Gottesstaat und Weltstaat“ – mit
seiner Kette von Quellen, die von Paulus und Augustinus über Luther, Zwingli,
Calvin und Müntzer sowie Suaréz, Hobbes, Kant und Stahl bis zu Hitlers „Mein
Kampf“ und zum kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus reichen,
habe ich selbst als das spannendste und lehrreichste empfunden. Das sechste
Kapitel befaßt sich mit dem Problem von Gesetz und Recht und damit von Gesetz
und Richteramt. Gegenstand des siebten Kapitels ist das Thema „Recht und
Verantwortung“. Engagiert bekennt der Verfasser sich hier zum funktionellen
Zusammenhang von Wahrheit(sstreben), Freiheit und Verantwortung (S. 232); die
von ihm präsentierten Texte zeigen, wie sehr all diese Elemente immer wieder
gefährdet sind.
Die Texte bilden eine vorzügliche Mischung von klassischen und modernen, mitunter auch wenig bekannten Texten, mit denen der Verfasser den Kanon der Lehrtexte auf originelle Weise anreichert. Der Unterschied zu rechtsphilosophischen Quellensammlungen wird deutlich: Nicht nur theoretisch anspruchsvolle Texte, sondern auch halbwissenschaftliche, pseudowissenschaftliche und politisch-propagandistische Texte sowie Gesetzestexte sind in die Sammlung aufgenommen. Trotz didaktisch eingängiger Auswahl und Kommentierung der Quellentexte macht der Verfasser – wofür ihm zu danken ist – keine inhaltlichen Konzessionen. Studierende, die sich den Anforderungen dieses Buches aussetzen und bis zum Ende durchhalten, haben ihre Zeit (und die Kaufsumme) gut investiert.
Ist das Buch danach inhaltlich zu loben, so bleibt doch eine vielleicht marginale, für den Rezensenten als Vertreter der juristischen Zeitgeschichte aber doch nicht ganz unwichtige Frage: Warum versteht der Verfasser sein Buch – wie der Untertitel ausweist – als ein Buch zur „juristischen Zeitgeschichte“? Anwort verspricht die Einführung (S. 1ff.), die ausdrücklich als „Einführung in die juristische Zeitgeschichte“ betitelt ist. Zu recht wendet der Verfasser sich dort gegen ein Verständnis der juristischen Zeitgeschichte, das diese Bezeichnung mit jüngster Vergangenheit – etwa seit 1945 – gleichsetzt. Wer dies tut und diesen kurzen Zeitabschnitt unter einem „irgendwie gearteten Theoriebegriff von Recht“ abwickelt, der konzentriert sich – so der Verfasser –– „auf die neuesten Ereignisse und die topaktuellen Modebegriffe“; der chronologische Aspekt werde zum Exklusionsprinzip, die theoretische Extravaganz zum Hit (S. 1). Während er mit dieser Attacke eher virtuelle Mauern stürmt bzw. offene Türen einrennt, ist sein Hinweis auf die Gefahr eines perspektivisch verkürzten Verständnisses (S. 2) gewiß nicht von der Hand zu weisen. Auch ist richtig, daß „Zeitgeschichte nicht mit einem bestimmten Jahr wie 1945 als Jahr Null einsetzen“ kann (S. 2).
Der Verfasser, meint nun, „Zeitgeschichte“ habe „mehr mit unserer Grundeinstellung zu tun, dass und wie die existentiell grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft und unseres Rechts aufgegriffen und dargestellt“ würden (S. 3). Sie habe mit dem „Kontext zwischen ,gestern’ und ,heute’” zu tun, mit Texten, Gegenständen und Bildern, deren Botschaft „uns gegenwärtig noch anspricht”. Legt man dies als Verständnis von juristischer Zeitgeschichte zugrunde, so steht diese als eine Art von Rechtsgeschichtsschreibung da, die sich die Lizenz nimmt, aktuelle Fragen an die Rechtsgeschichte zu stellen. Juristische Zeitgeschichte unterscheidet sich also nicht durch die Behandlung eines bestimmten, besonders gegenwartsnahen Zeitraums von der übrigen Rechtsgeschichte, sondern durch einen bestimmten methodischen „approach“.
Debatten um Worte sollten in der Wissenschaft tunlichst vermieden werden; eine gemeinsame Sprache erleichtert jedoch die Verständigung. Die Bedeutungen gemeinsam benutzter Worte sollten sich daher innerhalb einer gewissen Streubreite halten. Der Rezensent, der bisweilen befürchtet, er sei mit seinem Verständnis von juristischer Zeitgeschichte, das deren Beginn mit der Sattelzeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ansetzt, schon fast zu weit ausgeschert, hat das Empfinden, daß der Verfasser hier doch die Wortbedeutung überdehnt. Daß Zeitgeschichte und juristische Zeitgeschichte es nicht mit der ganzen Fülle der Geschichte und Rechtsgeschichte zu tun haben, sondern mit einem (näher zu bestimmenden) Zeitraum, sollte schon wegen der in der Allgemeingeschichte fest etablierten Auffassung nicht in Frage gestellt werden. Die Auffasung des Verfassers, daß aktuelle Problemstellungen bzw. brennende Zeitfragen die Themen konstituieren, birgt ohnehin für den Diskurs unter (Rechts-)Historikern Zündstoff genug, und gewiß muß man mit solchen Problemformulierungen äußerst sorgfältig umgehen, will man sich nicht der Gefahr unhistorischen Denkens aussetzen. Dieser Gefahr ist der Verfasser gewiß nicht erlegen, nicht einmal in ihre Nähe geraten; und in der Auffassung, daß man aktuelle Fragen an die Geschichte soll stellen dürfen, stimme ich auch mit ihm überein. Der Begriff „juristische Zeitgeschichte“ sollte sich aber nicht (nur) aus dieser methodischen Einstellung herleiten. Eine Besprechung ist nicht der Ort, wo Positionen des Rezensenten ausgebreitet werden sollen. Deshalb muß ich es beim Erheben des Einwandes bewenden lassen, ohne das eigene Verständnis von juristischer Zeitgeschichte zu entwickeln. Ich würde aber gern mit dem Verfasser in eine Diskussion darüber eintreten.
Der Umfang, der dem diesem terminologischen Einwand gewidmet worden ist, drückt nicht das Verhältnis von Kritik und Zustimmung gegenüber dem besprochenen Buch aus. Daß dessen Lektüre nachdrücklich zu empfehlen ist, wurde ja schon bemerkt.
Hagen (Westfalen) Thomas Vormbaum