Quellen zu den Reformen in
den Rheinbundstaaten. Bd. 6 Regierungsakten des Großherzogtums Hessen-Darmstadt
1802-1820, bearb. v. Ziegler, Uta. Oldenbourg, München 2002. VIII, 552
S.
Band 6 der Reihe „Quellen zu
den Reformen der Rheinbundstaaten“ (zur Konzeption der Reihe Schubert, ZRG, Germ. Abt. 111 [1994], 716ff.)
enthält die wichtigsten Dokumente zur Innenpolitik des Großherzogtums unter dem
Landgrafen und späteren Großherzog Ludwig I. Die Rechtspolitik des
Großherzogtums Hessen-Darmstadt ist nicht wie in den anderen Rheinbundstaaten
von Staatsmännern im Sinne aufgeklärter Reformen gestaltet worden. Diese waren
daher mehr Ausdruck des allgemeinen Zeitgeistes als die Verwirklichung eigener
Ideen. Der vorliegende Quellenband enthält zu den wichtigsten
Regierungsbereichen insgesamt 105 Quellen (Gesetze, Edikte und Gutachten).
Trotz der starken Kriegsverluste des Darmstädter Staatsarchivs hat Ziegler
einen umfangreichen Quellenband zusammenstellen können, da sich in mehreren
Archiven parallel Überlieferungen auffinden ließen (etwa im Staatsarchiv Münster
für das Herzogtum Westfalen). Wie Ziegler in der Einleitung und den knappen
Darstellungen zu den einzelnen Quellenbereichen darlegt, schufen die Regierungs-
und Verwaltungsreformen einen modernen bürokratischen Beamtenstaat; Finanz- und
Steuerreformen erhöhten die staatliche Effizienz, während die Eingriffe in das
überkommene Feudalsystem die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu verändern
begannen. Wie in den anderen Rheinbundstaaten war die Frage der Übernahme des
Code Napoléon ein wichtiges Thema der darmstädtischen Politik. Im Gegensatz zu Grolman und Jaup, die für das Großherzogtum an den von dem Nassauer Juristen Harscher
von Almendingen einberufenen Konferenzen
teilnahmen und die dort eine weitgehend unmodifizierte Übernahme des C. N.
befürworteten, stand der Großherzog einer Rezeption des französischen Rechts im
Grunde ablehnend gegenüber, ohne dass er dies nach außen hin als loyales
Rheinbundmitglied offiziell erklären wollte und konnte. Der Band macht erstmals
das Gutachten des Oberappellationsgerichtsrats Schneider vom Oktober 1809 über die Einführung
des C. N. in wesentlichen Teilen zugänglich. Schneider riet von einer
Vollrezeption des C. N. ab; vielmehr sollte das Großherzogtum – unter
Berücksichtigung des französischen Rechts – ein eigenes, „alle bürgerlichen
Rechtsverhältniße umfassendes und deutlich bestimmendes, in Deutscher Sprache
geschriebenes Civilgesetzbuch“ (S. 273) erhalten. Die Instruktion für Grolman
und Jaup vom Mai 1810 ließ nach Almendingen erkennen, dass man glauben müsse,
es sei Darmstadt mit der Einführung des C. N. „kein Ernst“. Wie er das bisherige
Terrain zu kennen glaube, sei dieses mehr als Vermutung (S. 288).
Der erste Quellenabschnitt
„Regierungs- und Verwaltungsreformen“, die erst 1803 nach dem
Reichsdeputationshauptschluss in Gang kamen, befasst sich mit den
Organisationsedikten von 1803, der Aufhebung der landständischen Verfassung von
1806, der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse der Standesherren (u. a.
Abschaffung der Steuerfreiheit) und der grundlegenden
Verwaltungs-Reorganisation des Herzogtums Westfalen, das 1802/03 an Darmstadt
gefallen war. Die Steuer- und Finanzreformen erfolgten auf der Basis des Gleichheitssatzes.
Wegweisend war eine Verordnung vom 2. 10. 1813 zur Einführung einer sehr
differenzierten Gewerbe- und Viehsteuer. Dagegen wurden auf dem Sektor der
Justizreformen nur geringe Modernisierungen vorgenommen (u. a. Bestimmung des
Darmstädter Oberappellationsgerichts zur obersten Gerichtsinstanz; Verbot der
Folter und der Aktenversendung). Die Reformen im Agrarbereich führten zur
Aufhebung der „Leibeigenschaft“ (1809 in Westfalen, 1811 in den älteren
Landesteilen), allerdings wie in den meisten anderen Rheinbundstaaten
grundsätzlich nur gegen Entschädigung (in Form von Grundrenten) und zur freien
Teilbarkeit der bisher abhängigen Bauerngüter. Noch geringer waren die Reformen
auf dem wirtschaftlichen Gebiet (Aufhebung der Zünfte nur in Westfalen), so
dass Hessen-Darmstadt bald zu den rückständigsten und krisenanfälligsten
Gebieten Mitteleuropas gehörte.
Der Abschnitt „Soziale
Reformen“ bringt Verordnungen zum Hebammenwesen, zur Einrichtung von
Hinterbliebenen-Kassen für Beamte, zur Pockenschutzimpfung, die
Hessen-Darmstadt weltweit als einer der ersten Staaten einführte, und zur
Beseitigung vertraglich sanktionierter Heiratsverbote von Adligen. Die beiden
folgenden Abschnitte dokumentieren die Ansätze zur Besserstellung der Juden
(mit Hinweis auf das leider im letzten Krieg verbrannte bemerkenswerte
Gutachten von Du Thil über die Emanzipation der Juden) und die insgesamt sehr
geringen Reformen im konfessionellen und schulischen Bereich. So bedurften bis
1819 Bürger- und Bauernsöhne der landesherrlichen Erlaubnis, wenn sie studieren
wollten. – Über den zeitlichen Rahmen der Edition hinaus
gehen die Quellen zur Verfassungsdiskussion zwischen 1816 und 1820. Im
Gegensatz zu Baden, Württemberg und Bayern bildete sich in Hessen eine starke
Verfassungsbewegung. Beispielhaft dafür ist die Eingabe der Petitionsbewegung
der Provinz Starkenburg von 1819, die detailliert den durch die rheinbündischen
Reformmaßnahmen entstandenen wirtschaftlichen Notstand der Bevölkerung
schildert. Die in der Edition erstmals gedruckte Denkschrift befasst sich mit
der Abgabenlast, der Landwehr, dem Linienmilitär, dem Forstwesen, dem
Gemeindewesen, dem Handelsdruck, der Verwaltung, dem Flussbau und dem
allgemeinen Sittenverfall. Nur unter stärkstem Druck erließ der Großherzog ein
von Grolman ausgearbeitetes Verfassungsedikt. Der Widerstand der Bevölkerung
gegen die oktroyierte Verfassung war so groß, dass Ludwig gezwungen war, eine
Neufassung der Konstitution mit der Volksvertretung auszuhandeln. Diese neue
Verfassung vom 17. 12. 1820 legte in dem Abschnitt: „Von den allgemeinen
Rechten und Pflichten der Hessen“ u. a. fest: Rechtsgleichheit, Freiheit der
christlichen Religionen, Berufs-, Auswanderungs- und Pressefreiheit, Freiheit
der Person, Eigentumsgarantie und Aufhebung der Leibeigenschaft und der Fronen
(letzteres gegen Entschädigung).
Der Band macht in
hinreichender Breite – anders als für das Königreich Westfalen (1992) – die
vielfältigen Reformprogramme Hessen-Darmstadts zugänglich. Zu bedauern bleibt
allerdings, dass das Gutachten von Schneider zur Einführung des C. N. nicht
noch ausführlicher wiedergegeben ist. Auf diese Weise dürften einige
signifikante Details verloren gegangen sein. Nicht ganz befriedigend sind die
allzu knappen Personen- und Sachregister. Der von Ziegler, die bereits den Band
für das Herzogtum Nassau betreut hat, sorgfältig erarbeitete neue Quellenband
der Reihe eröffnet wiederum zahlreiche wichtige Quellen zur deutschen Rechts-
und Verfassungsgeschichte des beginnenden 19. Jahrhunderts erstmals in voller
Breite allgemein.
Kiel Werner
Schubert