Nachschlagewerk
des Reichsgerichts. Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 1-Bd. 10, Band 7, hg. v. Schubert,
Werner/Glöckner, Hans Peter. Keip, Goldbach 1994-2002.
I. Nach den Berichten Werner
Schuberts zu seinen Editionen speist sich die Kenntnis der Rechtsprechung des
Reichsgerichts im Zivilrecht nunmehr aus folgenden Quellen:
1. Die Grundlage bildet der
Komplex, der gelegentlich „Vollständige Sammlung“ sämtlicher Entscheidungen
genannt wird und sich heute beim Bundesgerichtshof und in einem zweiten Exemplar
im Bundesarchiv in Potsdam befindet. Dieser Komplex „enthält alle Urteile und Beschlüsse
des Reichsgerichts seit Beginn seiner Tätigkeit im Oktober 1879 ... Alles ist
Jahr für Jahr in chronologischer Folge nach Senaten geordnet quartalsweise
zusammengebunden“. Die Zahl dieser Foliobände wird auf 700 bis 945 geschätzt[1].
2. Aus dieser Riesenmasse
der absolut „Vollständigen Sammlung“ hat Schubert jetzt die „Sammlung
sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen“ extrahiert[2],
nämlich einen Band für 1900 und 1901, dann für jedes weitere Jahr bis 1914 je
einen Band, bis Ende 2002 also vierzehn Bände. Das ist ein Novum, denn bisher
war überhaupt nur ein winziger Teil der Judikatur bekannt. Leider müssen
Schubert und die Fachwelt die beiden Einschränkungen hinnehmen, dass in jedem
der Jahresbände nur verhältnismäßig wenige Entscheidungen vollständig
wiedergegeben werden konnten und die anderen, weitaus meisten, in kurzen
Inhaltsangaben zusammengefasst werden mussten, und dass das ganze Unternehmen
mit dem Jahr 1914 zu beenden war.
3. Das Reichsgericht selbst
legte für den internen Gebrauch das hier anzuzeigende, von Schubert und
Glöckner herausgegebene „Nachschlagewerk“ zur Erfassung nicht aller, aber aller
wichtigen Entscheidungen an. 1938 zählte man etwa 66 000 Einträge.
4. Am bekanntesten ist
natürlich die ehrfurchgebietende „Amtliche Sammlung“, die aber nicht mehr als
zehn Prozent aller Judikate veröffentlichte.
5. Hinzukommen die
Publikationen in den juristischen Zeitschriften.
6. Für die Urteile, die in
einer Entscheidungssammlung oder juristischen Zeitschrift abgedruckt waren,
wurde später eine Fundstellenkartei angelegt (Bd. 1, S. XXIV).
II. 1. Das Nachschlagewerk
ist das zeitgenössische, juristische Kondensat der zwischen 1900 und 1943
ergangenen Entscheidungen zum Zivilrecht; die älteste zitierte Bestimmung ist
die Elbschifffahrtsakte von 1821, die jüngste die Verordnung über die
Angleichung familierechtlicher Vorschriften von 1943. Das Nachschlagewerk
kondensiert in Leitsätzen die in der amtlichen Sammlung oder andernorts
veröffentlichten und die nichtveröffentlichten Entscheidungen. Das ist der
Hauptpunkt. Der zweite wichtige Punkt ist die Anordnung in der Legalordnung, so
dass in dem Nachschlagewerk selbst die Versuchung der kommentarartigen Nutzung
angelegt ist. Drittens ist auf ein allen Juristen bekanntes Negativum
hinzuweisen: mit Leitsätzen allein lässt sich nicht richtig leben.
Auch nach der Absicht der
Präsidenten und Bibliothekare des Reichsgerichts sollten die Einträge im
Nachschlagewerk gerade keinen Rechtssatz-Charakter erhalten. Um einer solchen
Tendenz vorzubeugen, wurde die Öffentlichkeit zu diesem Nachschlagewerk nicht
zugelassen. Die Reichsgerichtsräte selbst durften es nur in den Räumen des
Reichsgerichts benutzen und nicht mit nach Hause nehmen.
Hauptzweck war die Wahrung
der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Denn zum einen erlauben schon die
Leitsätze für sich die rasche Information sowohl über eine feststehende als
auch über die Richtung einer sich ändernden Rechtsprechung. Beide Informationen
waren für die Initiatoren des Nachschlagewerks wichtig. Deswegen wird
ausdrücklich die Abweichung zu
früheren Urteilen festgehalten[3].
1902 hieß es beispielsweise, dass Gewährleistungsansprüche die
Irrtumsanfechtung nicht ausschlössen[4];
aber zu derselben Entscheidung ist angegeben: „dagegen“ die von 1905; und 1905
wird festgehalten, dass das neue Urteil „gegen“ das von 1902 stehe[5],
aber ein Urteil von 1907 „ebenso“ laute[6];
und merkwürdigerweise findet sich für keines der drei Urteile ein
Veröffentlichungsvermerk.
Zum anderen bildet dieses
Nachschlagewerk den Schlüssel zu der großen „Vollständigen Sammlung“ sämtlicher
Entscheidungen, die eben sämtliche Erkenntnisse, mit Sachverhalt und
Begründungen enthielt. Wie hätte man diese „Vollständige Sammlung“ anders für
den Gebrauch erschließen können als über ein einfach zu benutzendes
Nachschlagewerk, welches das Auffinden von Präjudizien erleichtern sollte?
Das Nachschlagewerk wurde
auch dem Reichsjustizministerium, dem Reichsfinanzhof und dem
Reichskriegsgericht zugestellt. Nur die Richter am Reichsgericht, die
Reichsanwälte und die Rechtsanwälte beim Reichsgericht, keine anderen Gerichte
oder Richter, Rechtsanwälte oder Wissenschaftler erhielten Zugriff. Die schon genannte
„Vollständige Sammlung“ stand zwar fremden Benutzern bei rechtlichem oder wissenschaftlichem
Interesse offen, aber wie man diese ohne das eigentliche „Nachschlagewerk“
hätte erschließen können, ist nicht bekannt.
2. Aufgenommen in das
Nachschlagewerk wurden alle wichtigen Entscheidungen, besonders interessant
selbstverständlich die damals unpublizierten, nur in der großen „Vollständigen
Sammlung“ enthaltenen Entscheidungen. Keine Aufnahme wurde Beschlüssen über
Streitwertfestsetzungen etc., den meisten Versäumnisurteilen und solchen
Entscheidungen, die auf Rechtsfragen gar nicht eingehen oder lediglich eine
bereits feststehende Rechtsprechung anwenden, gewährt.
Die Leitsätze im
Nachschlagewerk sind positiv gewendet, unterscheiden sich also teilweise von
denen in der amtlichen Sammlung, indem sie Formen wie „Zur Frage der ...“
vermeiden. Sie verzichten auf eine übertriebene Verallgemeinerung und orientieren
sich eher an den Besonderheiten des Einzelfalls. Auseinandersetzungen mit
Lehrmeinungen sind unüblich; nur der „Lehre von der Voraussetzung, die
Windscheid aufgestellt hat“, widerfährt diese Ehre 1906, um abgelehnt zu werden[7].
Formuliert wurden die Leitsätze vom jeweiligen Berichterstatter des
entscheidenden Senats.
Zu den einzelnen Paragraphen
sind die Leitsätze chronologisch aufgeführt und nummeriert. Bei einer großen
Zahl von Leitsätzen zu einer einzigen Bestimmung erleichtert eine Gliederung
mit den Leitsatznummern das Auffinden, beispielsweise das ganze Alphabet bis zu
x) für die fast 360 Seiten zu § 823 in Band 7,1 der Edition.
Falls eine Angelegenheit
mehrere Gesetzesbestimmungen betrifft, wird derselbe Leitsatz an mehreren
Stellen des Nachschlagewerks wiederholt. Manchmal ist eine unbeabsichtigte Dublette
zu vermerken[8]. Wie
in der Kommentarliteratur sind Leitsätze zu übergreifenden Fragen vor die
ersten Paragraphen der einzelnen Bücher, Abschnitte, Titel etc. gestellt. All’
dieses wurde bei der Edition getreu übernommen.
Auf die Wiedergabe von
Sachverhalt und Begründung mussten die damaligen Verfasser und ebenso die
heutigen Editoren der Leitsätze verzichten. Gelegentlich blitzen die
Sachverhalte auf, wenn es beispielsweise in einem Leitsatz als sittenwidrig
erklärt wird, den Namen eines lebenden Mitbewerbers auf Grabdenkmalsentwürfen
zu verwenden[9], oder
wenn von der „Pfändung einer wenig inhaltreichen Geldtasche des Schwiegersohns
am Hochzeitstage, um den Schwiegervater zur Bürgschaft zu veranlassen“,
berichtet wird[10].
Jeder Leitsatz ist mit
Entscheidungsdatum, Aktenzeichen, Vorinstanz, gegebenenfalls Angabe der
Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung und Hinweisen auf übereinstimmende
oder abweichende Entscheidungen versehen. Soweit wie möglich haben die Editoren
mit der von ihnen gewohnten Sorgfalt die Nachweise geprüft und sie haben die
Gesetzestexte, nicht zuletzt im Hinblick auf Novellierungen, eingefügt. Leider
konnten sie weitere Register, die das Aufspüren der Rechtsprechung zu einem
bestimmten Problem (wie etwa die 1500-Mark-Verträge) erleichtert hätten, nicht
anlegen.
Das ursprüngliche
Nachschlagewerk (s. oben I 3) Zivilrecht[11]
erreichte den Umfang von 57 Bänden[12]:
23 Bände zum Bürgerlichen Gesetzbuch[13],
zwölf zum Wirtschaftsrecht, zehn zum Verfahrensrecht, vier zum öffentlichen
Recht, drei zu neuen Gesetzen und fünf zum preußischen Recht.
3. Die innere Anlage des
Nachschlagewerkes ist dem aus Baden stammendem Reichsgerichtsrat Eduard Müller,
1854–1908, und dem Amtsrichter Carl Otto Warneyer, die zusammen 1906 die Arbeit
aufnahmen, zu verdanken. Warneyer, 1867 in Dresden geboren, 1941 gestorben,
hatte ab 1903 das „Jahrbuch der Entscheidungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch und
den Nebengesetzen“, bekannt als „Warneyers Jahrbuch“, herausgegeben, war seit
1896 an den Amtsgerichten Dresden und Leipzig und ab 1912 am OLG Dresden tätig,
bevor er 1919 an das Reichsgericht berufen wurde, wo er in den Strafsenaten
wirkte. Natürlich zeigen auch die Menschen, die die Eintragungen zu schreiben
hatten, ihre Schwächen, so wenn sie „die irrige Subjunktion konkreter
tatsächlicher Umstände“ vermerken[14].
4. Mit der gesamten
Bibliothek des Reichsgerichts gelangte das Nachschlagewerk im Zusammenhang mit
der 1949 erfolgten Gründung des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen
Republik nach Ostberlin und wurde im Zuge der Vereinigung in die Bestände des
Bundesgerichtshofs in Karlsruhe eingeordnet.
5. Schubert und Glöckner
haben die Edition mit einer vorzüglichen „Einleitung“ versehen (I–XL), aus
welcher die jetzige Besprechung schöpft. Mit dieser informieren sie über „Das
Nachschlagewerk in der Literatur: seine Entstehung, seine Vorläufer“, den „Aufbau
des Nachschlagewerkes“, die „Verbreitung“, die „Gestaltung der Edition“ und „Biographische
Daten der am Nachschlagewerk ... beteiligten Personen“. Im „Anhang“ hierzu
liefern sie die „Inhaltsübersicht über das Nachschlagewerk in Zivilsachen“, und
außerdem drucken sie Warneyers Aufsatz über „das Nachschlagewerk“ aus der
Reichsgerichtsfestschrift ab.
6. Da das Nachschlagewerk
nur aus Leitsätzen, ohne Sachverhalte und ohne Begründungen, besteht, ist der
Benutzungswert beschränkt. Die Einschätzung, es habe „reine Erschließungsfunktion“,
benutzte bereits das Reichsgericht, um Außenstehenden den Zugang zu verweigern.
Aber schon der „geringe Informationswert“, den das Reichsgericht seinem
Nachschlagewerk attestierte, rechtfertigt voll die Mühen der Edition und die
Kosten der Anschaffung. Mit dieser Edition wird gewiss, wie die Herausgeber
annehmen, „erstmals ein schneller und umfassender Überblick über die Judikatur
des Reichsgerichts zu den einzelnen Bestimmungen des BGB und deren
Rechtsproblemen ermöglicht“.
Ediert sind jetzt in zehn
Bänden sämtliche, ursprünglich in 23 Bänden enthaltenen Leitsätze zum Bürgerlichen
Gesetzbuch und zum Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch und der Inhalt
des ursprünglichen Registerbandes[15],
außerdem ein Band zum preußischen Recht sowie vier Bände des 1924 für das
Strafrecht eingerichteten Nachschlagewerks. Die ursprünglich vorgesehene
Herausgabe weiterer Teile - zu den bürgerlich-rechtlichen Nebengesetzen (allein
das Testamentsgesetz wurde in das Bürgerliche Gesetzbuch eingeschlossen), zum
Handelsrecht und zu dessen Nebengesetzen – wird nach neueren Mitteilungen des
Verlages leider unterbleiben.
Berlin Hans-Peter
Benöhr
[1] K. Luig, NJW 1993, S. 1905f.
[2] Sammlung sämtlicher Erkenntnisse des Reichsgerichts in Zivilsachen. Inhalt sämtlicher und Wiedergabe von unveröffentlichten Entscheidungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Band 1, Frankfurt a. M. 1992, Band 2, Goldbach 1993, bis Band 14, Goldbach 2002. Nach Erklärung des Verlages ist „mit dem Jahrgang 1914 ... diese Edition abgeschlossen“.
[3] Z. B. zum Namens-, nicht nur zum Firmenrecht einer oHG bei § 12 Nr. 50; Bd.1, S. 30; RGZ 114, S. 90, „gegen“ RGZ 88, S. 422.
[4] § 119 Nr. 6; Bd. 1, S. 350f.
[5] § 119 Nr. 20; Bd. 1, S. 352.
[6] § 119 Nr. 49; Bd. 1, S. 362.
[7] § 157 Nr. 41; Bd. 2, S. 436.
[8] So wird derselbe Leitsatz mit fast demselben Wortlaut aus derselben Entscheidung mehrfach angegeben, z. B. § 157 Nr. 30; Bd. 2, S. 434, und § 157 Nr. 48; Bd. 2, S. 438.
[9] § 12 Nr. 70; Bd. 1, S. 37.
[10] § 123 Nr. 118; Bd. 1, S. 454.
[11] Im Unterschied zum Strafrecht beim Reichsgericht.
[12] Ursprünglich 56; ein bislang vermisster Band wurde inzwischen aufgefunden.
[13] Allgemeiner Teil 3, Schuldrecht 12 (von diesen 2 zum Deliktsrecht), die drei anderen Bücher des BGB je 2 Bände, dazu EGBGB und Aufwertung.
[14] § 119 Nr. 3; Bd. 1, S. 349.
[15] Schlagwortregister und Gesetzesregister, jetzt abgedruckt am Ende des dritten Bandes der Edition, S. 325–378.