Müller, Bertold, Rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Menschen mit einer <<geistigen Behinderung>>. Eine rechtshistorische Studie der Schweizer Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 44). Schulthess, Zürich 2001. XCII, 433 S.
Im ersten Kapitel mit dem Titel „Normalität und ,Behinderung’ zwischen Unvernunft und Integration“ (S. 1-44) geht es vor allem um die Klärung des Begriffs „geistige Behinderung“. Der Verfasser bietet eine Definition aus dem Jahre 1998 („Einschränkung mentaler ... Fähigkeiten“, so dass „ein selbständiges Leben im rechtlichen Sinne infrage gestellt ... wird“), der er sich aber nicht anschließt. Nach seiner Auffassung ist „,Behinderung’ ... überwiegend Resultat gesellschaftlicher Reaktion“, die „in erster Linie nicht durch eine körperliche Schädigung, sondern durch Verhaltensweisen von Mitmenschen im Alltag“ entstehe. Diese Einordnung des Verfassers stellt aber nur eine Wertung in Bezug auf den Umgang der „Nichtbehinderten“ mit „Behinderten“ dar, ohne jedoch die Grenze zwischen beiden Gruppen durch eine Definition von „Behinderung“ aufzuzeigen. Er selbst spricht von „Menschen mit einer geistigen Behinderung“, um hervorzuheben, „dass die ,geistige Behinderung’ nur einen Aspekt der Gesamtpersönlichkeit“ darstelle. Da der Ausdruck „geistige Behinderung“ dem Nationalsozialismus entstamme und sich seitdem in der Alltagssprache eingebürgert habe, verwendet der Verfasser den Begriff angesichts seiner Herkunft auch nur in An- und Ausführungszeichen. In der Zeit davor waren anstelle des Ausdrucks der „geistigen Behinderung“ die Bezeichnungen „angeborener Schwachsinn“ und „Geistesschwäche“ gebräuchlich; vor 1850 wurden Geisteskranke meist als „Irre“ oder „Blödsinnige“ bezeichnet. Welche (gegebenenfalls unterschiedlichen) Krankheitsbilder im 19. und 20. Jahrhundert den einzelnen Begriffen zugeordnet wurden, wird hingegen nur ansatzweise dargelegt.
Für das zweite Kapitel „,Geistige Behinderung’ in Gesellschaft und Wissenschaft“ (S. 45-240) kündigt der Verfasser eine Untersuchung des ideologiegeschichtlichen Hintergrundes an. Dieses Kapitel orientiert sich in erster Linie an thematischen Gesichtspunkten. Insgesamt werden zehn Aspekte (religiöse Erklärungsmuster, Medizinalisierung, Psychiatrie, Aufkommen der Heilpädagogik, biologisch orientiertes Denken und Pseudowissenschaftlichkeit, Anti-Individualismus, Eugenik, Euthanasie, ,Geistige Behinderung’ im Nationalsozialismus, Würde statt Wert des Menschen) anhand von kurzen Überblicken behandelt, wobei das nicht chronologische Vorgehen des Verfassers sowie zahlreiche Verweise zwischen den einzelnen Abschnitten den Erkenntniswert dieses Kapitels erheblich schmälern. Auch bleibt häufig unklar, welche Bedeutung die Ausführungen für die Schweizer Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert haben, so etwa wenn Peter Singers Aussagen über die Tötung „unwerten“ Lebens dargelegt werden (S. 233ff.). Auch die konkreten Auswirkungen des Sterilisationsprogramms aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933/34 sowie der Euthanasie-Aktionen seit 1939 im Dritten Reich auf die Schweiz bleiben offen.
Die Bezüge zur Schweiz lassen sich auch an anderen Stellen nur mühsam herstellen. So findet sich ein längerer Abschnitt (S. 203ff.) über eine u. a. von dem Leipziger Strafrechtsprofessor Karl Binding (1841-1920) im Jahre 1920 veröffentlichte Schrift mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens“. In dem von Binding stammenden juristischen Teil der Schrift wird die Straffreiheit bei Sterbehilfe sowie bei Vernichtung „unwerten“ Lebens mit dem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes durch Einwilligung des Betroffenen in die Tötung begründet. Da aber bei „unheilbar Blödsinnigen“ eine beachtliche Einwilligung nicht angenommen werden konnte, sollte nach Binding diese durch den fehlenden Lebenswillen des Betroffenen ersetzt werden. Diese juristische Konstruktion Bindings hatte letztlich zur Konsequenz, dass ein nicht positiv feststellbarer Lebenswille mit der Einwilligung in die Tötung gleichgesetzt wurde. Neben breiter Zustimmung stießen die Forderungen Bindings vor allem bei Ewald Meltzer, Leiter der „Sächsischen Landespflegeanstalt für bildungsunfähige schwachsinnige Kinder“ in Großhennersdorf auf Kritik. Meltzer kommentierte die Forderungen Bindings im Jahre 1932: „Unabsehbarer Schaden aber würde der Volksmoral durch ein Gesetz zugefügt werden, wie Binding es wünschte. Jedes chronisch kranke Geschöpf könnte dann als überflüssig empfunden und als beseitigenswert charakterisiert werden.“ Die Deutschen „würden dadurch zu einer Kulturnation dritten Ranges herabsinken“.
Der Verfasser, der Bindings Schrift als geistigen Wegbereiter für nationalsozialistisches Gedankengut bezeichnet, sieht die Beziehungen zur Schweiz in der „nahen Gedankenverwandtschaft“ Bindings zur sog. Zürcher Schule. Der Zürcher Kreis, dem u. a. auch Gerhart Hauptmann angehörte, war maßgebend von dem Zürcher Psychiater Auguste Forel geprägt, der schon um die Wende zum 20. Jahrhundert als erster Sterilisationen bei eugenischer Indikation gefordert hatte. Forels Schüler Ernst Rüdin war später an der Ausarbeitung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt. Konkrete Belege dafür, dass Bindings Schrift durch die Zürcher Schule beeinflusst wurde, fehlen indessen.
Im dritten Kapitel „,Geistige Behinderung’ und Schweizer Recht“ (S. 241-335) wird die rechtliche Stellung von geistig Behinderten anhand von vier Rechtsbereichen (Vormundschaftsrecht, Beschränkung der Ehefähigkeit, Vornahme von Sterilisationen und Invalidenversicherung) untersucht. Die Entwicklung des Vormundschaftsrechts beschränkt der Verfasser auf den Kanton Zürich, wobei er auch die im vierten Kapitel vorgenommenen Fallanalysen im wesentlichen anhand der Akten der Zürcher Vormundschaftsbehörde vornimmt. In der Stadt Zürich standen 26 Menschen im Jahre 1872, 183 Menschen im Jahre 1903 und 1594 Menschen im Jahre 1948 wegen geistiger Behinderung unter Vormundschaft. Gesetzliche Grundlage für die Vormundschaft über geistig Behinderte bildeten zunächst die Zürcher Vormundschaftsgesetze und - ordnungen von 1792, 1803, 1817 und 1841 sowie das PGB von 1854, später dann Art. 369 ZGB von 1912, der Geistesschwäche und Geisteskrankheit als Entmündigungsgründe nennt. Seit dem Vormundschaftsgesetz von 1841 war ein Sachverständigengutachten eines Arztes zwingende Voraussetzung für die Entmündigung; ebenso für die Aufhebung der Vormundschaft. Die Veröffentlichung des Entmündigungsentscheids war schon nach der Verordnung von 1792 vorgesehen. Als Aufgaben des Vormunds nennt der Verfasser Fürsorge durch Besorgung der Angelegenheiten des Mündels, Schutz vor Dritten sowie Repression in Form von Sicherungsmaßnahmen bei Gefährdung Dritter. Am Ende dieses Abschnitts wird auf die Reformbemühungen seit 1998 hingewiesen, die sich vorwiegend am deutschen Betreuungsrecht orientieren.
Die Beschränkung der Ehefähigkeit bei geistig Behinderten findet sich in der Schweiz in einzelnen Städten und Kantonen seit dem 18. Jahrhundert. Nach altArt. 97 ZGB von 1912 war die Urteilsfähigkeit der Verlobten Voraussetzung für die Eingehung einer Ehe, wobei nach Abs. 2 Geisteskranke in keinem Fall ehefähig waren. Dieses absolute Eheverbot in altArt. 97 Abs. 2 ZGB führt der Verfasser auf eugenisches Gedankengut zurück. Erst seit dem 1. Januar 2000 gilt statt altArt. 97 ZGB nun Art. 94 ZGB, wonach die Urteilsfähigkeit im Einzelfall gerichtlich überprüft werden kann. Obwohl nur im Kanton Waadt 1928 (europaweit als erstes) ein Sterilisationsgesetz erlassen wurde, waren und sind bis heute Sterilisationen geistig Behinderter in der Schweiz auch ohne gesetzliche Grundlage gängige Praxis, wobei zu ca. 90 % Frauen betroffen sind. Dabei handelt es sich rechtlich nicht um Zwangssterilisationen, denn der Eingriff wird nur mit Einwilligung des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters vorgenommen.
Schließlich wird in einem kurzen Überblick auf Art. 4 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung von 1960 hingewiesen, wonach eine geistige Behinderung als Invalidität gilt, wenn sie eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hat. Insgesamt stellt der Verfasser im dritten Kapitel mehr oder weniger unkommentiert diejenigen Vorschriften des Schweizer Rechts vor, in denen geistig Behinderte erwähnt werden. Die Hoffnung, dass die eher trockene Darstellung der Rechtsnormen durch die im vierten Kapitel enthaltenen Fallanalysen etwas plastischer wird, erfüllt sich jedoch nicht.
Für das vierte Kapitel „Fallanalysen zur Entmündigung von Menschen mit einer ,geistigen Behinderung’“ (S. 337-421) kündigt der Verfasser eine historische Analyse der Lebenswirklichkeit von geistig Behinderten an, die wegen ihrer Behinderung entmündigt wurden. Die Untersuchung ist räumlich und zeitlich dadurch beschränkt, dass der Verfasser im wesentlichen die Akten der Stadtzürcher Vormundschaftsbehörde seit 1893 heranzieht. Er weist allerdings darauf hin, dass andere Stellen, insbesondere die angefragten psychiatrischen Kliniken, seinem Ansinnen sehr reserviert gegenüber standen.
Unter dem Titel „Biografieanalysen“ werden die Wohnsituation, Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie finanzielle Aspekte untersucht. Auch hier wird nicht chronologisch aufgebaut; häufig ist eine zeitliche Einordnung nur über die Fußnoten möglich. Entsprechendes gilt auch für den nächsten Abschnitt, in dem „psychiatrische Gutachten“, die die Grundlage für vormundschaftliche Maßnahmen, Internierungen, die Feststellung der Ehefähigkeit und die Vornahme von Sterilisationen bildeten, analysiert werden. Weiter wird das Verhältnis zwischen Mündel und Vormund beschrieben, wobei dieses nach Lage der Akten regelmäßig als gut bezeichnet werden kann.
Die Arbeit endet mit einem knappen Ausblick (S. 423-433) und der Frage, ob es ein „Sonderrecht für Menschen mit einer ,geistigen Behinderung’“ geben soll. Der Verfasser bejaht dies zwar, jedoch sollte sich nach seiner Auffassung die rechtliche Sonderbehandlung auf Förderung und Schutz beschränken. Insgesamt leidet die Arbeit darunter, dass die historische Entwicklung nicht nachvollzogen werden kann. Dies liegt vor allem daran, dass die Arbeit thematisch und nicht chronologisch aufgebaut ist. So lässt sich insbesondere nicht erkennen, ob und wie sich die Gesamtsituation von geistig Behinderten seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute in der Schweiz verändert hat. Dies hätte zumindest eine Zusammenfassung leisten müssen. So aber lässt der Verfasser den Leser am Ende der Arbeit mit einer Fülle von Informationen etwas ratlos zurück.
Leipzig Eva Schumann