Lepsius,
Susanne, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im
gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato (=
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 160). Klostermann, Frankfurt am Main
2003. XXII, 494 S.
Kurze Zeit nach dem Erscheinen des Buches „Der Richter und
die Zeugen“[1] von S.
Lepsius mit der Edition des Tractatus
testimoniorum des Bartolus de Sassoferrato liegt nun auch der angekündigte
Folgeband „Von Zweifeln zur Überzeugung“ vor, eine Untersuchung über den
Zeugenbeweis im gelehrten Recht, ausgehend von Bartolus’ Zeugentraktat. Diese
Abhandlung wird nun nach inhaltlichen Gesichtspunkten interpretiert (Vorwort p.
XV) und in das mittelalterliche gelehrte Beweisrecht eingeordnet.
Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel
(S. 2-52) nimmt die Verfasserin eine „dogmatische Einhegung“ von Bartolus vor.
Zunächst gibt sie einen Überblick über das römisch-kanonische Verfahren (S.
2ff.). Auf den Prozessablauf wird eingegangen (S. 24ff.). Die ordines iudiciarii sehen eine Gliederung
des Prozesses in Verfahrensabschnitte auf Grund der Terminbestimmungen vor. K.
W. Nörr[2] hat
Reihenfolgeprinzip und Terminsequenz aufgezeigt und die Frage der
Schriftlichkeit des Verfahrens behandelt. Bei manchen mittelalterlichen Autoren
finden sich sieben, viel häufiger aber zehn Verfahrensabschnitte. Auch bei
Bartolus findet sich die zehnteilige Gliederung des Prozesses (S. 25ff.) Vier
Termine davon sind für die Beweisaufnahme bestimmt. Bartolus befasst sich in
seinem Traktat hauptsächlich mit den Zeugenaussagen, den dicta testium, und der Erörterung derselben durch die Anwälte;
diese erfolgte im achten Verfahrensabschnitt (tempus allegationum) (S. 29)[3].
Der spätmittelalterliche Prozess war teils mündlich, teils schriftlich.
Während die herrschende Lehre für das mittelalterliche
gelehrte Recht eine strenge Bindung des Richters durch ein festes Beweissystem,
eine „Hierarchie der Beweise“, annimmt (S. 32ff.), zeigt die Verfasserin (S.
45ff.), dass bei der Beweiswürdigung eine größere richterliche Freiheit gegeben
war. Bartolus beschäftigt sich in seinem Traktat fast ausschließlich mit der
Analyse der Zeugenaussagen und deren Überzeugungskraft (S. 72).
Das zweite Kapitel (S. 79-197) befasst sich mit den
Begriffen „Rationalität - Wahrheit - Freiheit“ in Bartolus’ Traktat (erster
Teil, cap. 1-65). Diese Begriffe finden sich in den lateinischen Ausdrücken ratio, causa, veritas, libertas, arbitrium,
fides. Das Element der Rationalität sieht die Verfasserin bei Bartolus in
der Begründungspflicht der Zeugen gegeben (S. 83ff.). Bei Bartolus kommt es zu
einer stärkeren Differenzierung der Parteilrollen von Zeugen, sachverständigen
Zeugen und Sachverständigen (S. 127ff., 134ff.).
Die richterliche Ermessensfreiheit bei der Beweiswürdigung
kommt bei Bartolus in den Begriffen von arbitrium
iudicis[4] und fides (S. 157ff.) zum Ausdruck. Die
Verfasserin (S. 160, 171ff., vgl. S. 315) zeigt, dass
für Bartolus die fides, die
richterliche Überzeugung, einen Zentralbegriff darstellt. Dem Richter kommt ein
„gebundenes Ermessen“ zu, dasjenige eines bonus
vir (S. 165). Bartolus sieht die fides
„als differenzierte persönliche Zeugeneigenschaft“ (S. 179), vor allem aber
„als die innere Überzeugung des Richters“ (S. 180ff.). Der Richter müsse sich
bei jeder Aussage fragen, ob er die volle Überzeugung erlangt habe (S. 196);
der Richter habe die Freiheit, „seine eigene Überzeugung (fides) zum Maßstab der Beweiswürdigung und zur Grundlage seines
Urteils zu nehmen“ (S. 197).
Das dritte Kapitel (S. 199-319) hat Fragen der
scholastischen Jurisprudenz, praktischen Theologie und philosophischen Ethik
zum Gegenstand (zweiter Teil des Traktates, cap. 66-125). Bei Bartolus finden
sich aristotelisch-thomistische Kategorien (S. 204ff.)[5].
Die Jurisprudenz wird als Weisheit (sapientia)
(S. 221ff.), als Wissenschaft (scientia)
(S. 224ff.) und als Kunst (ars) (S.
228ff.) verstanden. Eingehend befasst sich Bartolus (cap. 69-92) mit der
Sorgfalt, der prudentia, den
verschiedenen Arten von Sorgfaltspflichten (S. 231ff.,
244ff.). Von der prudentia als
moralethischer Kategorie kommt Bartolus zur diligentia
und erörtert die Abstufungen der negligentia/culpa
(S. 275ff.). Vom dolus grenzt
Bartolus die culpa latior (cap. 107)
als eigenständige Kategorie ab, die oberhalb der culpa lata (cap. 109-114) steht[6].
Die Verfasserin (S. 297ff.) zeigt Bartolus aber auch als
„homo practicus“ und illustriert die Lebensnähe des Textes. Bartolus nimmt
seine Beispiele aus dem mittelalterlichen Alltagsleben.
Das vierte Kapitel (S. 321-428) ist dem „Fortleben des
Textes“ gewidmet. Zutreffend spricht die Verfasserin von der
„Wirkungsgeschichte“ des Zeugentraktats (vgl. S. 322ff.); diese wird sorgfältig
aufgearbeitet. In manchen Punkten hat Bartolus, wie die Verfasserin zeigen
kann, Neuland betreten, so mit der rationalen Begründungspflicht für
Zeugenaussagen und mit dem Schlüsselbegriff der fides, als fides des
Richters „im Sinne von dessen subjektiver, freier Überzeugungsbildung“ (S.
428).
Der Zeugentraktat findet sich im letzten Band von Bartolus’
Opera Omnia (Quaestiones, Consilia et Tractatus); in den
Druckausgaben finden sich dort weitere Texte anderer Autoren zum Zeugenbeweis,
so von Baldus de Ubaldis und Jacobus Egidius de Viterbo (S. 333). In der
späteren mittelalterlichen Kommentarliteratur wurden häufig die 20 ersten
Kapitel des Zeugentraktats berücksichtigt, die der herrschenden Lehre
entsprachen, nicht jedoch die originellen, schwierigeren Aussagen des Bartolus
über die richterliche Überzeugungsbildung (S. 374ff.). In der prozessualen
Praxis hat der Zeugentraktat wohl keine Rolle gespielt (S. 397ff.,
411). Berücksichtigung fand der Tractatus
testimoniorum hingegen im 17. Jahrhundert in einer Reihe von
Doktorarbeiten, die unter Samuel Stryk geschrieben wurden (S. 348ff.). Im 19.
Jahrhundert, als es um die Einführung der freien richterlichen Beweiswürdigung
ging (S. 422f.), fand der Zeugentraktat nicht die ihm zustehende entsprechende
Würdigung.
Erschlossen wird die Arbeit durch ein Quellenverzeichnis (S.
429ff.), ein umfassendes Literaturverzeichnis (S. 439ff.), ein Handschriften-
und Quellenregister (S. 467ff.), ein Personenregister (S. 479ff.) und ein
Sachregister (S. 485ff.).
Es ist das Verdienst von Susanne Lepsius, den wenig
beachteten Zeugentraktat des Bartolus ediert und dessen durchaus originelle und
fortschrittliche Gedanken zum Zeugenbeweis in eingehender Weise behandelt und
interpretiert zu haben.
Graz Gunter
Wesener
[1]Eine Untersuchung anhand des Tractatus testimoniorum des Bartolus von
Sassoferrato. Mit Edition (Frankfurt am Main 2003); dazu G. Wesener, in
diesem Band.
[2]Nun in: Iudicium est actus trium
personarum (1993) 19*ff.
[3]Zu den Playdoyers W. Litewski,
Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii, II
(Krakau 1999) 446ff.
[4]Die Verfasserin (S. 158 u. 188) verweist
auf die wenig beachtete Arbeit von W. Ullmann, Medieval Principles of
Evidence, in: The Law Quaterly Review 62 (1946) 77ff.,
bes. 85f.
[5]Vgl. Lepsius, Der Richter und die
Zeugen (o. Anm. 1) 115ff.
[6]Vgl. Lepsius, Der Richter und die
Zeugen (o. Anm. 1) 177ff.