Lenz, Martin, Konsens und Dissens. Deutsche Königswahl (1273-1349) und zeitgenössische Geschichtsschreibung (= Formen der Erinnerung 5). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002. 296 S.
An dieser gewiß überdurchschnittlichen Dissertation aus dem Fachbereich Geschichte der Universität Gießen überrascht als erstes die originelle Gliederung. Das Werk ist nicht, wie der Titel erwarten läßt, nach den deutschen Königswahlen von 1273 bis 1349 chronologisch mit den Dissensen Ottokar von Böhmen – Rudolf von Habsburg, Konrad von Teck – Adolf von Nassau, Adolf von Nassau – Albrecht von Österreich, Friedrich von Österreich – Ludwig der Baier, Ludwig der Baier – Karl IV. und schließlich Karl IV. – Günther von Schwarzburg eingeteilt. Es behandelt vielmehr in sechs Kapiteln eine Reihe von Regionen der Geschichtsschreibung: Köln, Elsass, Magdeburg, Österreich, Bayern und Böhmen. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Ziel, weniger die Königswahl selbst zu untersuchen als deren Deutung in der Geschichtsschreibung dieses Zeitabschnitts. Dabei greift die Arbeit sowohl inhaltlich als auch zeitlich über die Königswahlen dieser Epoche hinaus. Sie untersucht nicht nur das Institut der Wahl, sondern z. B. auch die Krönung des Königs. Bei der Herkunft des Krönungsrechts des Kölner Erzbischofs wird bis ins 11. Jahrhundert (S. 28) und bei den Auffassungen über den Ursprung des Königswahlrecht bis in die Zeit der Konstantinischen Schenkung, Karls des Großen oder Ottos III. zurückgegriffen (z. B. S. 37-39, 100, 122, 254, 259). Bei Magdeburg bestand das Problem, daß aus der behandelten Zeit kein chronikalisches Zeugnis überliefert ist. Der Verfasser untersucht daher dort Werke, die aus der Zeit vor 1273 oder nach 1349 stammen (S. 126-128).
„Ausgangshypothese“ ist, daß das „Interpretationsraster“ der Reichsverfassung stark regional geprägt war (S. 14). Der Verfasser will die Frage überprüfen, inwieweit die zeitgenössischen Geschichtsschreiber einer Region eine historiographische „Verfassungsregion“ konstituierten (S. 15). Er geht von der richtigen Erkenntnis aus, daß „Landes- und Reichsgeschichte keine Gegensätze darstellen müssen“ (S. 16).
Die Geschichtsschreiber sind in ihren Auffassungen nicht nur abhängig von ihrer Zugehörigkeit zu „Verfassungsregionen“, sondern auch davon, daß sie teilweise erst längere Zeit nach den Ereignissen schrieben und insofern in mancher Hinsicht mehr ein Dokument für die berichtende als für die berichtete Zeit sind, z. B. in der Verwendung von Verfassungsbegriffen. So hätte etwas deutlicher werden können, daß es Autoren des 14. Jahrhunderts waren, die schon für die Wahlen von 1273 und 1292 von „Kurfürsten“ sprechen, obwohl der Verfasser weiß, daß dieser Begriff erst 1298 aufkam (S. 12). An anderer Stelle weist der Verfasser aber korrekt darauf hin, daß die Betrachtung eines Chronisten nur ex post gemacht werden konnte (S. 173). Im einzelnen kommt der Verfasser zu folgenden Ergebnissen:
Die Kölner Perspektive war durch den Erzbischof geprägt (S. 60). So wurden in der Kölner Historiographie Krönungen, die nicht vom Kölner Erzbischof vorgenommen wurden (Philipp 1198, Friedrich II 1215, Ludwig der Baier 1314) zumeist verschwiegen (S. 28-32). Der Königstitel wurde nicht schon nach der Wahl, sondern erst nach der Krönung zuerkannt (S. 33).
Im Unterschied dazu ließen die elsässischen Historiographen das Königtum mit der Wahl beginnen (S. 105-106). Wenn Ellenhard die Absetzung Adolfs von Nassau als rechtmäßig darstellte, so ist dies nicht „als Propagierung eines spätmittelalterlichen Widerstandsrechts zu bewerten“, sondern ein Ausdruck der Treue des Autors zu den Habsburgern, der umgekehrt wohl kaum der Absetzung eines Habsburgers durch die Kurfürsten und einen Nassauer zugestimmt hätte (S. 112). Andere Elsässer, Matthias von Neuenburg und Closener, bezeichneten Adolf jedoch auch nach seiner Absetzung als König. Closener urteilte sogar: Albrecht kam an daz riche mit gewalt (S. 115-116). Der Verfasser kommt zu dem Schluß: „Das wohlwollende Interesse und der Einsatz für König und Reich sind in qualitativer wie quantitativer Hinsicht das dominierende Kennzeichen der elsässischen Geschichtsschreibung“ (S. 121).
Magdeburg lag seinerzeit weitab von Königtum. Als „Gerippe der ... von allen anderen wichtigen Ereignissen entkleideten Reichsverfassung“ verblieben nur die Königswahlen im Blickfeld (S. 146). Um dem Magdeburger Erzbischof einen gleichen Ehrenvorrang wie den rheinischen Erzbischöfen zusprechen zu können, verwiesen die Magdeburger Annalen darauf, daß der Papst dem Magdeburger Erzbischof einen Ehrenvorrang in Germanien eingeräumt habe, so wie den Erzbischöfen von Köln, Mainz und Trier „in Gallia“ (S. 132).
Die österreichischen Autoren Ottokar und Johann von Victring „neigten dazu, die Reichsverfassung zu Gunsten der Habsburger zu verstehen, zu lenken und zu formen und deren Interessen in den Vordergrund zu stellen (S. 201).
In Baiern verschwiegen zwei Chronisten die Verweigerung Ottokars von Böhmen gegenüber der Wahl Rudolfs von Habsburg. Sie teilten allerdings mit, daß der bairische Herzog nachträglich zugestimmt hatte. Eine dritte bairische Chronik erwähnte die bairische Teilnahme 1273 überhaupt nicht. Eine vierte bairische Chronik erwähnt 1273 namentlich überhaupt keinen Wähler, behandelt aber 1275 die Auseinandersetzungen über das Wahlrecht mit einer „für die bayerische Geschichtsschreibung von damals ungewöhnlichen Breite“ (S. 204-205). Spricht dies nicht doch dafür, daß bei der Königswahl 1273 gar kein abgeschlossenes Siebener-Kollegium bestand, sondern drei Geistliche und drei Weltliche als insgesamt sechs „Erste an der Kur“ – wie sie im Sachsenspiegel (Ldr III 57), in den Willebriefen vom 25. Oktober 1273 (MGH Const. 3, 18-19) und im Deutschenspiegel von 1274/75 noch mit anschließender allgemeiner Fürstenwahl (§ 303) – aufgeführt wurden? Offenbar wurde erst 1275, als eine Urkunde König Rudolfs vom Augsburger Hoftag zum ersten Mal in Deutschland die Siebenzahl der Königswähler bezeugt, die bairische Stimme (um die Zahl vollzumachen und abzuschließen) rückwirkend als siebente Stimme gezählt. Die Deutung des Verfassers erscheint demgegenüber etwas gesucht: Auf diese Weise hätten „weitere Irritationen bei der Wahl Rudolfs“ vermieden werden und das Scheitern der bairischen Kur 1289/90 unerwähnt bleiben können (S. 205). Einleuchtend erscheint jedoch das Gesamturteil: „Die bayerische Chronistik hatte enormes Interesse an den Geschicken der Wittelsbacher“ (S. 214). Ihre Perspektive war „hinsichtlich der Reichsverfassung identisch mit der Betrachtungsweise ihrer Landesherrn...“ (S. 217).
In der böhmischen Historiographie spielte das deutsche regnum – mit Ausnahme des deutschstämmigen Peter von Zittau – „nur eine untergeordnete Rolle“. Doch versuchten „fast alle Autoren den Eindruck zu erwecken, dass der Böhmenkönig der entscheidende Mann bei einer oder mehreren Wahlen gewesen sei“ (S. 248). Bezüglich der Reichsverfassung gab es „kaum Problembewusstsein“ (S. 249).
In einem Schlußkapitel „Bilanz“ werden die Begriffe des Buchtitels – Konsens und Dissens – behandelt. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß der überregionale „stille“ verfassungspolitische Konsens schmal war: „Nur das Abstrakteste blieb unstrittig: Die Würde von regnum und imperium, das Recht des rex Romanorum auf den Kaisertitel und die Existenz des Reiches als Wahlmonarchie... Auch die Existenz von Königtum und Kurfürstentum als Institutionen war unangreifbar.“(S. 254) Dissens gab es in folgendem: In ihrer Herrscherkritik folgten die Autoren „den Interessen ihrer primär prägenden politischen Kraft und in vielen Fällen dem Verfassungskern ihrer Region“. So überrascht es nicht, daß König Adolf „vor allem dort kritisiert (wurde), wo die Habsburger präsent waren, König Albrecht wiederum in Böhmen, wo er habsburgische Macht gegen den Willen vieler Böhmen zu etablieren versucht hatte“ (S. 255). Dissens gab es auch über die Spitzenposition unter den Kurfürsten, über das Wahlrecht des Böhmen, über das Mehrheitsprinzip, über das Verhältnis von Wahl und Krönung und über das Absetzungsrecht der Kurfürsten. Falscher Wahlort, falscher Krönungsort oder falscher Kröner wurden für einige Chronisten erst dann relevant, wenn sie die Legitimität eines Herrschers herabsetzen konnten, der ihrem eigenen Favoriten im Wege stand (S. 255-257).
Viele dieser Beobachtungen entsprechen der Erwartung. Dem Verfasser ist zu danken, sie im Detail belegt zu haben. Interessant ist auch seine These: „Die Reichsverfassung war so offen und formbar, dass sie nicht nur unterschiedliche Interpretationen mit formal gleicher Berechtigung zuließ, sondern es den Historiographen auch erlaubte, ihre eigenen Schwerpunkte zu setzen.“ (S. 258)
Für den Rechtshistoriker bemerkenswert ist, daß nur sehr selten „echte“ juristische Tatbestände in der Historiographie benutzt wurden, etwa durch Hinweise auf päpstliche Dekretalen oder durch die Inserierung von Urkunden. Eine Ausnahme ist jedoch der Jurist Mathias von Neuenburg, der das Rhenser Weistum von 1338 über die Königswahl für das Mehrheitsprinzip heranzog. Einige Autoren berichteten von dem Vorwurf des crimen laesae maiestatis gegen König Albrecht (S. 262). Richtig ist auch die Beobachtung des Verfassers, daß es sich beim Sachsenspiegel und dem Rhenser Weistum „nicht um Meinungsmonopole, sondern um Auffassungen, die mit anderen konkurrierten,“ handelte (S.13).
Ein wenig stört, wenn der Sachsenspiegel als Beleg (für Aachen als Krönungsort) herangezogen, aber nicht mit der Originalstelle in diesem Rechtsbuch (Ldr III 52) zitiert wird, sondern lediglich mit einem Werk der Sekundarliteratur und dies auch noch ohne Seitenangabe (S. 32). Irreführend ist die Behauptung, daß sich bei der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273 „die sieben seit 1257 allein wahlberechtigten Fürsten erstmals einig zeigten“ (S. 11-12), zumal der Verfasser an anderer Stelle richtig auf den Protest eines der späteren sieben Kurfürsten, nämlich des Königs von Böhmen gegen die Wahl Rudolfs hinweist (S. 222). Später bestätigte Rudolf seinem Schwiegersohn Wenzel von Böhmen Kurrecht und Schenkenamt wieder, aber warum „zweimal“ (S. 206, 222)? Er tat es 1289 allein, und 1290 kam die Zustimmung der Fürsten und Großen des Reiches hinzu! Die von der Fürstenfelder Chronik (irrig) berichtete Heirat eines Sohnes von Pfalzgraf/Herzog Rudolf I. mit einer Tochter König Heinrichs VII. hat es nie gegeben. Sie kann daher nicht eine Ursache des Bruderstreits mit dem späteren König Ludwig dem Baiern gewesen sein (S. 215). Mißverständlich ist die Behauptung, die Vorschriften der Goldenen Bulle seien „de facto erst nach 1411 befolgt“ worden (S. 12). Schon Ruprecht von der Pfalz wurde 1400 unter Berufung auf das in der Goldenen Bulle festgelegte Mehrheitswahlrecht zum König erhoben. In den damaligen Verhandlungen ist der (Spitz)name „Goldene Bulle“ erstmals bezeugt (RTA III p. 248).
Das wertvolle, sehr ausführliche, 28 Seiten starke Quellen- und Literaturverzeichnis des 2002 publizierten Werkes ist offenbar vom Zeitpunkt der Promotion 1999 abhängig. Es reicht grundsätzlich bis 1998 (Bláhová, Matz, Miethke, Nichtweiß, Petersohn, Stelzer), doch fehlen Arbeiten des Rezensenten über die Wahlen von 1292 (König für einen Tag, 2. Aufl. 1995), über die Königserhebung Albrechts von Österreich (1997) und über die Entstehung des Kurfürstenkollegs (1998, 2. Aufl. 2000), in denen mehrere der vom Verfasser untersuchten Geschichtswerke, besonders ausführlich die Österreichische/Steirische Reimchronik Ottokars von der Geul behandelt werden. Die Arbeit des Verfassers enthält zwar einen eigenen Abschnitt über die „Ersten an der Wahl“ im Sachsenspiegel (S. 138-139), doch bleibt ein Aufsatz über die Königswähler in den deutschen Rechtsbüchern (erschienen 1998) unerwähnt. Daher findet weder eine Rezeption noch eine Auseinandersetzung mit den neueren Thesen des Rezensenten statt. Es wird lediglich in einer Fußnote das Bewußtsein Rudolfs von Habsburg von seiner königlich-salischen Abstammung geleugnet (S. 69 Anm. 37). Dieses Bewußtsein ergibt sich jedoch nicht allein aus Rudolfs Wunsch, in Speyer begraben zu werden, sondern ebenfalls aus dem vom Verfasser verschwiegenen Zusatz „da mehr meiner vorfahren sind“. Die Überlegung des Verfassers, wenn Rudolf „von seinen altköniglichen Wurzeln gewusst haben (sollte), hätte er dies mit Sicherheit in der Argumentation gegen Ottokar und Alfons verwendet,“ stößt ins Leere; denn Rudolf hätte gewiß kein Eigentor schießen wollen. Gegenüber diesen zwei Königen, die beide eine staufische Königstochter zur Mutter hatten und insofern im Verwandtschaftsgrad erheblich „königsnäher“ waren, konnte Rudolf sich nicht auf seine viel fernere salische Königsabstammung berufen. Hier mußten andere Argumente ziehen (Ottokar: „nicht deutsch“; Alfons: nicht ins Reich gekommen; Rudolf: rechtmäßige Wahl, keine vom Papst inkriminierte staufische Abstammung). Der Verfasser verschweigt auch, daß Rudolf von seiner Zugehörigkeit zum Kreis der Königsverwandten an der für ihn nächstliegenden Stelle erfahren konnte: Die um 1250 im habsburgischen Hauskloster Muri verfaßte Fortsetzung der Genealogia Nostrorum Principum bezeugt, daß Rudolfs Urgroßmutter (soror ducis Welf VII.) dem Welfenhause angehörte, was für Rudolf königliche Abstammung und auch eine Seitenverwandtschaft mit den Staufern bedeutete. Daß Rudolf von Habsburg seinen Namen – über zwei Rudolfe als Zwischenglieder – von seinem direkten Vorfahren König Rudolf von Rheinfelden „ererbt“ hatte, wird ihm ebenfalls bekannt gewesen sein. Nach Auffassung des Rezensenten wäre nicht Rudolfs (ferne) Königsverwandtschaft die vom Verfasser unterstellte „Sensation“, sondern deren (gar nicht erwiesenes) Fehlen. Die vom Verfasser als „langwierig“ bezeichneten Genealogien waren nötig, um im 20. Jahrhundert zu zeigen, daß Rudolf überhaupt zum Kreis der Königsverwandten gehörte und daß diese Zugehörigkeit in der damaligen Praxis eine der beachteten Voraussetzungen der Wählbarkeit war. Die habsburgische Hausüberlieferung hat die Königsverwandtschaft bereits zwei Jahrzehnte, bevor an ein Königtum Rudolfs überhaupt zu denken war, ganz neutral vermerkt (ZRG Germ. Abt. 109, 1992, 59-70). Dieser Aufsatz heißt übrigens nicht „Wie konnte Rudolf ...?“ (S. 69 und 295), sondern „Warum konnte Rudolf ... König werden?“
Im Kapitel „Elsass“ findet der Verfasser die glückliche Formulierung: „Die Kurfürsten bezogen ihre Legitimation vom Königtum wie umgekehrt der König dann legitim König sein konnte, wenn er erstmal von den Kurfürsten gewählt worden war.“(S. 124) Dem stimme ich mit Überzeugung zu.
Frankfurt am Main Armin Wolf