Lasserre-Kiesow, Valérie, La technique législative. Étude sur les codes civils français et allemand, avec une préface de Pédamon, Michel (= Bibliothèque de droit privé 371). L. G. D. J., Paris 2002. 519 S.

 

Das Spannungsverhältnis zwischen dem deutschen und dem französischen Zivilrecht, begleitet und charakterisiert zugleich, seit dem 19. Jahrhundert durch gegenseitige Bewunderung und Ablehnung, durch Rezeptionsanstrengungen und zugleich unterschiedliche Entwicklungsstränge, die Geschichte des Privatrechts in Kontinentaleuropa seit der napoleonischen Zeit. Der Einfluss des französischen Zivilrechts in den romanischen Ländern, welche ihre nationalen Gesetzbücher an die französische Kodifikation seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelehnt hatten einerseits, und die Ausstrahlung der Pandektistik und später der deutschen Zivilrechtskodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Europa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts andererseits, begleiten wie zwei rote Fäden die Entwicklung des kontinentaleuropäischen Zivilrechts bis heute. Nicht so sehr die einzelnen Sachlösungen in den gesetzlichen Bestimmungen und in der Judikatur, sondern vor allem die Argumentationstechnik und die Denkweise der deutschen und der französischen Zivilrechtler unterscheiden sich bis heute grundlegend. Gerade aus diesen Gründen war die Lektüre der thèse von Frau Lasserre-Kiesow für den Rezensenten mit großen Erwartungen verbunden. Die Arbeit ist zudem gerade von Michel Pédamon betreut worden, welcher in der französischen juristischen Literatur bereits mit vielen Titeln zum deutschen Vertragsrecht hervorgetreten ist. Die thèse selbst ist ferner durch eine Reihe von französischen Auszeichnungen prämiert worden.

 

Zunächst sei einiges zu Struktur und Inhalt der Untersuchung mitgeteilt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben zahlreiche französische Zivilisten die Entstehung und die Einführung des neuen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs mit Interesse und gelegentlich auch Bewunderung verfolgt. Unzählige Veröffentlichungen und Übersetzungen sind seitdem im französischen Schrifttum dem deutschen Zivilrecht gewidmet worden. Es handelt sich nach Ansicht der Verfasserin allerdings bisher nur um Einzelbeobachtungen. Sie strebt deshalb mit ihrer thèse eine grundsätzliche Untersuchung an, welche das Verhältnis zwischen der deutschen und der französischen Kodifikation und der deutschen und der französischen Zivilrechtswissenschaft in einer Gesamtsynthese erstmals darstellen und bewerten soll. Die Untersuchung beginnt also bei den ersten Anfängen des französischen Code civil im Jahre 1804 und des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahre 1896, um die Frage aufzuwerfen, ob Form, Stil, Struktur der beiden Zivilrechtskodifikationen wirklich radikal gegensätzlich sind. Das bedeutet, dass es hier zunächst erforderlich ist, die Grundkategorie der „technique législative“, wie die Verfasserin es nennt, zu entwickeln und neu zu definieren. Daran schließt sich anschließend die Frage an, welche Rolle die zwei Gesetzbücher heute in der Justizpraxis spielen. Es gilt also festzustellen, inwieweit die jeweilige Gesetzgebungstechnik auf die Rechtsprechungspraxis und auf die interpretatorische Auslegungstechnik der Richter in beiden Ländern Einfluss hatte und hat.

 

Die thèse gliedert sich deshalb in zwei wesentliche Teile. In einem ersten Teil wird erläutert, was man unter „technique législative“ zu verstehen hat. Diese wird bedingt durch zwei wesentliche historische Faktoren. Es geht zunächst um die historische Tradition, welche sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ihren Niederschlag in der nationalen Zivilrechtskodifikation gefunden hat. So gilt dies für den französischen Code civil, dessen Terminologie, allgemeine normative Formulierungen und Gliederung in drei Bücher, tief in den Wurzeln des französischen Ancien droit des 17. und des 18. Jahrhunderts fußt. Es handele sich hier also um das Zivilrecht, welches für die französischen Rechtspraktiker der Zeit verfasst und nach den Prinzipien und Ordnungskriterien des rationalen Naturrechts strukturiert wurde. Bereits hier zeigt es sich allerdings, dass die Verfasserin nicht über den Tellerrand der jeweiligen nationalen Rechtsgeschichte schaut: bei Gliederung und Sprache des Code von 1804 erkennt man nämlich den Stil des damaligen, nicht nur französischen, sondern kontinentaleuropäischen Zivilrechtsverständnisses wieder. Man möge hierfür nur den französischen Code mit Gliederung und normativen Formulierungen des zeitgenössischen österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches vergleichen (dazu F. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, 1999, insb. S. 4-6). Auch das Bürgerliche Gesetzbuch sei nur aus seiner historischen Entstehung verständlich. Es handele sich hier um den Abschluss der Tradition der deutschen historischen Rechtsschule und des Pandektenrechts des 18. und 19. Jahrhunderts. Dies erkläre die abstrakte Terminologie der Gesetzesvorschriften, die dogmatischen Formulierungen, die Gliederung des Stoffes in fünf Bücher und vor allem das Vorliegen eines Allgemeinen Teils im ersten Buch. Es handele sich also um Charaktermerkmale, die aus einer „conception typiquement germanique“ des Privatrechts erklärt werden können. Die Verfasserin bestreitet also die Ansicht, dass die Technik beider Gesetzbücher in Frankreich und in Deutschland nur auf das Werk der jeweiligen Gesetzgebungskommission zurückgeht. Eine solche Technik der Gesetzgebung sei vielmehr die Erbschaft der jeweiligen zeitgenössischen Rechtskultur in Frankreich und in Deutschland. Andererseits sei die jeweilige Gesetzgebungstechnik keinesfalls getrennt vom materiellen Rechtsinhalt zu sehen. Umgekehrt würden die materiellrechtlichen Inhalte die Form der normativen Formulierungen prägen. Dies versucht die Verfasserin für das deutsche Recht etwa an drei typischen Instituten des Allgemeinen Teils des BGB zu verdeutlichen: der Lehre des „Rechtsgeschäfts“ (S. 127-131), den Vorschriften über die „Willenserklärung“ (S. 131-134) sowie der Lehre des „dinglichen abstrakten Vertrags“ (S. 134-141). Nicht die juristische Terminologie sei hier abstrakt, vielmehr handele es sich um abstrakte Rechtsfiguren („indissociabilité du fond et de la forme“). „En d’autres termes“ – schreibt die Verfasserin (S. 127) – „il semble par exemple que l’abstraction terminologique, en tant que spécifité du BGB, corresponde davantage à l’abstraction de certaines institutions elles-mêmes qu’à celle du vocabulaire. L’abstraction terminologique en soi, au reste, ne veut rien dire, le mot juridique lui-même correspondant le plus souvent à une construction abstraite par rapport à la réalité. Et finalement, même si l’abstraction parâit être une question de forme plus que de fond, les entrelacs sont inextricables entre la technique législative qui relève de l’aspect formel et la dogmatique juridique qui relève du contenu.“ Diese gehen auf die dogmatischen und komplexen Konstruktionen zurück, welche etwa Friedrich Carl von Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts“ entwickelt hat. Die Verfasserin bestreitet allerdings die Existenz eines radikalen Gegensatzes in der Technik der sprachlichen Formulierung der Normen bei der französischen und der deutschen Kodifikation. Der vermeintlich praktische und pragmatische Stil bei den Artikeln des Code civil sei zwar völlig anders als die abstrakte, professorale Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuchs, doch sei dies bei näherem Hinsehen eher ein Trugschluss. Die Anschaulichkeit der Artikel des Code Napoléon sei vielleicht eher durch die Eleganz des sprachlichen Stils und die Harmonie der verwendeten Formulierungen erklärbar, welche anders ausfällt als die dogmatische Präzision der deutschen Gesetzgebung.

 

In einem zweiten großen Teil wird die äußerliche Analyse der Sprache der beiden Gesetzbücher mit der Frage in Verbindung gebracht, inwieweit die Gesetzgebungstechnik einen Einfluss auf die Rechtsprechungspraxis entfaltet hat und bis heute entfaltet. Die unterschiedliche Formulierung der Gesetzesvorschriften habe möglicherweise Einfluss auf die Argumentations- und Begründungstechnik des Richters in beiden Ländern. Die Antwort darauf ist nicht einheitlich. Sie hängt nach Ansicht der Verfasserin davon ab, welche Rechtsmaterien und welche Rechtsstoffe der Gesetzgeber jeweils geregelt hat. Eine erste Feststellung wird hier deutlich: Dort, wo der Gesetzgeber in der Sorge um eine Gefährdung der Rechtssicherheit ganz eindeutige und präzise sprachliche normative Festlegungen getroffen hat, hat sich seine Entscheidung in der historischen Perspektive häufig nicht durchgesetzt. Der Versuch, den Richter an den Buchstaben des Gesetzes und der gesetzlichen Bestimmung zu binden und insoweit in seiner interpretatorischen Freiheit einzubinden, scheint in einem historischen Rückblick also gescheitert zu sein. Der klare Wortlaut täuscht gelegentlich eher eine apparente Klarheit vor, welche in der Justizpraxis nicht bestehen kann. Diese Beobachtung belegt die Verfasserin anhand einer Reihe von einzelnen Beispielen aus der deutschen und aus der französischen Rechtsprechung. Sie erkennt im Ergebnis keine wesentlichen Unterschiede im Verhalten des französischen und des deutschen Richters. Die gesetzliche Regelung wird in der Justizpraxis über den Wortlaut der Texte häufig adaptiert, vor allem, wenn neuartige Sachverhalte zu entscheiden sind oder es im Hinblick auf grundlegende Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse oder der allgemeinen Sitte unangemessen erscheint. Anders charakterisiert sich das Verhältnis zwischen Gesetz und richterlicher Anwendung, wenn der Gesetzgeber eine Technik gewählt hat, welche dem Richter von vornherein Entscheidungsspielräume und Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Die Heranziehung von Generalklauseln in der deutschen Gesetzgebung bietet ein Beispiel hierfür. Eine solche Gesetzgebungstechnik ist vor allem typisch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche dem Richter Entscheidungsspielräume und Bewertungsmöglichkeiten einräumt. Es handelt sich um eine Gesetzgebungsstrategie, welche auf die Zusammenarbeit zwischen Gesetzgeber und Richter abstellt. Diese moderne Technik der Kodifikation eröffnet auch die Möglichkeit, die Gesetzbücher aktuell zu halten, und sie würde nach Ansicht der Verfasserin den Weg eröffnen, um beiden Kodifikationen ihre Aktualität im Kontext des heutigen europäischen Zivilrechts zu belassen.

 

Die historisch-dogmatischen Analysen des Rechtsprechungsmaterials seitens der Verfasserin zur Absicherung der genannten These sind allerdings in den Augen des Rezensenten nicht immer überzeugend und vollständig. Beispielsweise erwähnt die Verfasserin als Beispiel einer „absence de précision ou de spécification dans l’énoncé“ § 130 Abs.1 BGB und die damit verbundene Problematik des Zugangs einer empfangsbedürftigen Willenserklärung (S. 276ff.). Dies wird mit der entsprechenden Problematik in der französischen Rechtsprechung verglichen. Es ist allerdings in den Augen des Rezensenten fraglich, ob Unterschiede hier wirklich erkennbar sind. Die französische Rechtsprechung hat hier übrigens keinesfalls die Theorie der „émission“ rezipiert (vgl. nur die Angaben bei F. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 64). Die technische Formulierung „Zugehen“ einer Willenserklärung in § 130 Abs. 1 BGB beinhaltet eher eine definitorische Risikoverteilung hinsichtlich der Information des Erklärenden und des Erklärungsempfängers. Es handelt sich – anders als die Verfasserin dies sieht – gerade um ein Beispiel der sprachlich-technischen Präzision in der Rechtssprache des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Als Beispiel einer richterlichen Korrektur von präzisen und streng formulierten gesetzlichen Ordnungsvorschriften erwähnt die Verfasserin zu Recht die französische Rechtsprechung zur Unterbrechung und Hemmung der Forderungsverjährung. Durch den Rückgriff auf die Billigkeitsregel aus dem „Ancien droit“ „contra non valentem agere non currit praescriptio“ habe die französische Cour de Cassation häufig die Schärfe der Verjährungsvorschriften des Code civil korrigiert (S. 360-364). Was die Verfasserin allerdings nicht sieht, ist, dass es bei den zitierten französischen Entscheidungen hier häufig nur anscheinend um das Problem der Unmöglichkeit einer Verjährungsunterbrechung geht, tatsächlich aber um Fälle, in welchen der Gläubiger durch arglistige und treuwidrige Verhaltensweise des Schuldners daran gehindert wurde, die Fristen zu unterbrechen. Es handelt sich also gerade um die Problematik, in welcher die deutsche Rechtsprechung hier auf die Einrede der Arglist und auf den Gedanken des Rechtsmissbrauchs zurückgreift, insbesondere also auf die Fälle einer sog. missbräuchlichen Berufung auf die Verjährung, welche im deutschen Recht mit Hilfe des allgemeinen Gedankens von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unterbunden wird. Mit einer völlig anderen argumentativen Konstruktion erreicht also die deutsche Rechtsprechung eine funktional gleichartige Relativierung der Verjährungsvorschriften wie die französische (vgl. die Nachweise bei F. Ranieri, Bonne foi et exercice du droit dans la tradition du Civil law, in: Revue Internationale de Droit Comparé, Heft 4/1998, p. 1055ff., insb. 1086-87). Es ist übrigens auch erwähnenswert, dass der deutsche Gesetzgeber im vergangenen Jahr bei der vollständigen Neukodifikation des Verjährungsrechts diese korrigierende Judikatur in das Gesetzbuch aufgenommen hat.

 

Die Gegensätze und die Entwicklungsähnlichkeiten zwischen deutschem und französischem Zivilrecht beschäftigen die historische und rechtsvergleichende Literatur seit Jahrzehnten. Die Verfasserin schließt ihre Untersuchung mit einer ausführlichen französischen und deutschen Bibliographie ab. Diese wird zwar als „bibliographie choisie“ bezeichnet; sie strebt allerdings wohl an, das einschlägige Schrifttum vollständig nachzuweisen. In dieser Hinsicht war der Rezensent z. T. überrascht und enttäuscht. Man gewinnt gelegentlich den Eindruck, dass die Verfasserin ziemlich eklektisch mit dem vorliegenden Schrifttum umgeht: randständige und entlegene Titel werden einerseits nachgewiesen; grundlegende Untersuchungen bleiben andererseits völlig unerwähnt. So bleibt man etwa peinlich berührt, dass die grundlegende Habilitationsschrift von A. Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jh. zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, 1991 sowie die vorzügliche Dissertation von M. Gläser, Lehre und Rechtsprechung im französischen Zivilrecht des 19. Jahrhunderts, 1996 nirgends erwähnt werden. Zur Geschichte der deutschen Zivilrechtskodifikation im 19.Jh. hätte unbedingt auch die wichtige Untersuchung von M. John, Politics and the Law in late nineteenth-century Germany. The Origins of the Civil Code, Oxford 1989, herangezogen werden müssen. Die Verfasserin ignoriert leider auch die wichtige Dissertation von B. Gast, Der Allgemeine Teil und das Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Urteil von Raymond Saleilles (1855-1912), (Diss. jur. Kiel 1999,) 2000 (Rechtshistorische Reihe 212). Nicht zitiert wird übrigens auch die kleine Untersuchung des Rezensenten „Französisches Recht und französische Rechtskultur in der deutschen Zivilrechtswissenschaft heute: Eine unwiderrufliche Entfremdung?“, in: O. Beaud/E. V. Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft? Baden-Baden 1999, S. 183-196; dasselbe gilt auch für den Beitrag des Rezensenten „Le droit civil français et la culture juridique française dans la doctrine allemande d’aujourd’hui: un éloignement définitif?, in: Droits. Revue française de théorie, de philosophie et de culture juridique, 32 (2000), S. 157-169. Zu den historischen Hintergründen der unterschiedlichen Argumentationsstile und Rechtssprachen im französischen und im deutschen Zivilrecht, vor allem zu den definitorischen und normativen Formulierungen des Code civil, hätte die Verfasserin unbedingt auch P. G. Monateri, La sineddoche. Formule e regole nel diritto delle obbligazioni e dei contratti , Milano 1984, hier insbesondere S. 375-433, heranziehen müssen; von demselben siehe auch „Règles et techniques de la définition dans le droit des obligations et des contrats en France et en Allemagne: La synecdoque“, in: Revue Internationale de Droit Comparé 1984, S. 7ff. Wenn man vom abstrakten dinglichen Vertrag in der deutschen Zivilrechtslehre spricht (siehe Verfasserin S. 136-146), kann man die grundlegende moderne Habilitationsschrift von A. Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch Abstraktion. Eine rechtsvergleichende Studie zur abstrakten und kausalen Gestaltung rechtsgeschäftlicher Zuwendungen, Tübingen 1996, nicht ignorieren; vgl. hier zum französischen Recht etwa S. 28-35 und S. 353-361.

 

Eine abschließende Bemerkung. Die Verfasserin neigt vielleicht dazu, die Rolle der gesetzlichen Vorschriften in der richterlichen Argumentation des Zivilrichters in Kontinentaleuropa heute überzubewerten. Bei realistischer Betrachtung der richterlichen Argumentation stellen die Artikel und Paragraphen der historischen Kodifikationen - und zu diesen gehören sowohl der französische Code civil als auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch - nur ein Argument besonderer Dignität dar, allerdings auch nicht mehr. Das historisch kodifizierte Privatrecht war und ist bis heute auch ein autonomes Argumentationssystem, in dem Begrifflichkeit, Denkweise und juristisch spezifische Problementdeckung und –begründung gleichberechtigt eine zentrale Rolle spielen. Welche Rolle verbleibt also den gesetzlichen Bestimmungen? Diejenige des Flussbetts, innerhalb dessen die zivilistische Argumentation und Problementdeckung verläuft – mehr aber auch nicht. Der französische Richter beruft sich zwar formell immer auf das Gesetz. Darin kann man die alte legalistische Tradition der französischen Justiz wieder erkennen, welche bis zu den Anfängen des Tribunal de Cassation am Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Der legalistische und knappe Begründungsstil der französischen Cour de Cassation wird allerdings in Frankreich zugleich von der Entwicklung eines „droit prétorien“ begleitet, welches heute die wesentlichen Teile des französischen Zivilrechts ausmacht. Eine realistische Betrachtung würde uns sogar zeigen, dass das heutige französische Zivilrecht im Kern fast zu einem System vom Case law mutiert ist. (Dazu wäre zuletzt unbedingt auf M. Lasser, Judicial (Self-)Portraits: Judicial Discourse in the French Legal System, in: Yale Law Journal, vol. 104 (1994-95), S. 1325ff., insb. 1355-1364, zu verweisen, den die Verfasserin allerdings ignoriert.) Der deutsche Richter verfährt in seinem argumentativen Stil mit den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs anders als die französischen Kollegen. Der Detailreichtum der gesetzlichen Regelung in den Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs erleichtert und gestaltet einerseits die Entscheidungsfindung in der deutschen Praxis mehr als die allgemein gehaltenen Formulierungen mancher Artikel des französischen Code. Der deutsche Richter greift zugleich aber auch gern argumentativ auf allgemeine Wertungsgesichtspunkte zurück, etwa den allgemeinen Gedanken von Treu und Glauben oder die Wertungen aus dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen werden hier argumentativ als eine Konkretisierung dieser allgemeinen Prinzipien angesehen. Dies ermöglicht zugleich die Relativierung und Korrektur der positiven gesetzlichen Norm im Einzelfall. Es ist insoweit nicht überraschend, dass – anders als im Selbstverständnis des französischen Zivilrichters - die deutsche Rechtsprechung eine richterliche Rechtsfortbildung extra legem und praeter legem – gelegentlich sogar contra legem – durchaus als legitim anerkennt. Hier liegt der zentrale Gegensatz zur legalistischen Judikatur der französischen Cour de Cassation bis heute.

 

Aus der Lektüre der Untersuchung der Verfasserin hat der Rezensent durchaus eine ganze Menge gelernt. In vielem wurde er allerdings nicht überzeugt. Das Problem der Verständigung und der Kommunikation zwischen französischen und deutschen Privatrechtlern ist und bleibt trotz der thèse der Verfasserin noch offen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri