Kohler, Marius, Die Entwicklung des schwedischen
Zivilprozessrechts. Eine rezeptionshistorische Strukturanalyse der Grundlagen
des modernen schwedischen Verfahrensrechts (= Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht
29). Mohr (Siebeck), Tübingen 2002. XXII, 598 S.
Diese rechtsvergleichende Arbeit über die
Wurzeln und europäischen Bezüge des schwedischen Prozeßrechts hat sich nichts
geringeres vorgenommen, als die schwedische Prozeßrechtsgeschichte bis zur Gegenwart
auf ihre europäische Verwurzelung durchzusehen – ein Unterfangen, das über das
gewöhnliche Maß einer Dissertation gewaltig hinausgeht. Kohler, der offenbar
vom geltenden Recht herkommt, meinte, auch das mittelalterliche schwedische
Prozeßrecht darstellen zu sollen, Das ist nur bedingt gelungen, und es hätte
genügt, im Jahre 1734 zu beginnen. Es war nicht von ihm zu erwarten, daß er
sich auch noch in das Altschwedische einarbeitet, so lebt er hier ganz aus
zweiter Hand und zitiert die alten Quellen in der neuschwedischen Übersetzung
von Holmbäck/Wessén, ohne zu bemerken, daß die wichtigsten
mittelalterlichen Landschaftsrechte (Västgötalagen I, Östgötalagen,
Upplandslagen) seit längerem in deutscher Übersetzung vorliegen. Auch das
deutsche Schrifttum zum mittelalterlichen schwedischen Recht ist ihm weitgehend
unbekannt geblieben. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die verwendeten Begriffe.
So spricht er durchgehend von Landschaftsgesetzen, obwohl bekannt ist, daß
Västgötalagen, Östgötalagen und einige andere landschaftliche Rechtsquellen
Rechtsbücher, also Privatarbeiten waren. Upplandslagen gilt zwar als
Gesetzbuch, aber hier nennt er die confirmatio
regis Birgeri (asw. staþfæstelse) eine ‚Veröffentlichung‘ und verkennt
damit die rechtsetzende Befugnis des Königs, die ihm nach der Lehre der Kirche
im Jahre 1296 bereits zukam; es hätte also ‚Bestätigung‘ heißen müssen. Die balkar übersetzt er mit ‚Kapitel‘,
obwohl ‚Abschnitte‘ oder ‚Bücher‘ gängig ist. Und daß die balkar „alle zu einem bestimmten Lebensbereich zählenden
Rechtsbestimmungen enthielten“ ist übertrieben, weil die alten Schweden ihr
Recht assoziativ gegliedert haben, so daß Sachfragen über mehrere balkar
verstreut vorkommen. Auch in seinen Übersetzungen ist der Verfasser nicht
wortgetreu. Deutlich wird das z. B. ganz am Anfang, als er das Zitat von Esaias
Tegnér Blott barbariet var ein gång
fosterländskt mit ‚Nur die Barbarei ist ein wahrhaft ursprüngliches Erbe‘
übersetzt, obwohl fosterländskt
‚vaterländisch‘ heißt. Zu übersetzen wäre also ‚Nur die Barbarei war
vaterländisches Erbe‘. Daß der Verfasser die Götar als ‚Goten‘ bezeichnet,
zeigt, daß er die heftige historische Diskussion um diese Frage nicht kennt;
deshalb sagt man besser ‚Götaland‘ statt ‚Gotenland‘. Auch die Stellung des
Rechtsprechers ist nicht voll erfaßt. Traditionell hatte er zwei Aufgaben,
nämlich lagh tælia und lagh skilia, das Recht jährlich auf den
Landsthing vorzutragen und Streitsachen zu entscheiden. Im Ostgötenrecht ist er
schon zum Richter geworden, der bereits dem königlichen Rate angehörte[1]. Daß bis ins hohe Mittelalter Zivil- und
Strafverfahren denselben Verfahrensgrundsätzen folgten (S. 42), ist kein
Wunder, denn zwischen ihnen wurde nicht unterschieden. Daß der Nämnd-Prozeß das
Verfahren mit Eidhelfern dessen Unzulänglichkeiten wegen allmählich ganz
ablöste, hätte der Verfasser deutlicher herausstellen sollen. Und der Brief des
Papstes Honorius III. vom 28. Mai 1218 steht im Diplomatarium Svecanum Bd. I,
Nr. 176, S. 175, was dem Verfasser entgangen ist, weil er seinen Inhalt nur
mittelbar aus Holmbäck/Wessén entnimmt (S. 46, Fn. 157).
Richtig hat der Verfasser beobachtet, daß
römisches und kanonisches Rechtsdenken die schwedische Rechtswissenschaft im
Mittelalter durch die Kirche, in der Neuzeit durch deutsche Gelehrte beeinflußt
hat, so daß die alte These, in Schweden sei germanisches Recht rein und ohne
Rezeption erhalten geblieben, aufgegeben werden muß. Zur Frage der Rezeption in
Schweden hat der Verfasser die grundlegenden Arbeiten Stig Jägerskiölds
benutzt, er weist auch auf Rehfeldts Aufsatz hin[2], doch leider fehlt der Titel im
Literaturverzeichnis und in Rehfeldts Namen das ‚t‘ (S. 6, Fn. 24). Es folgt
die Neugestaltung der Gerichtsverfassung und des Prozesses durch die Kodifikation
von 1734, die Kohler ‚große Novelle‘ nennt, eine Bezeichnung, die zu kurz
greift, weil es sich um eine Kodifikation handelt. Daß Verf. den Rättegångsbalk
dann fortwährend ‚Prozeßgesetz‘ nennt, will nicht einleuchten, da er nur ein
Abschnitt dieser umfassenden Kodifikation und kein besonderes Gesetz ist.
Der schwedischen Tradition entsprechend
dauerten die Arbeiten an der Novellierung von Rättegångsbalken recht lange: Sie
währten von 1810 bis zum 18. Juli 1942, wo der Nya Rättegångsbalk in Kraft
trat, nachdem Entwürfe, Kommissionsberichte etc. 1826, 1832, 1836, 1849, 1884,
1887, 1931 und 1942 vorgelegt worden waren. Sie waren nicht lediglich das
Ergebnis eigenständiger schwedischer Entwicklung, vielmehr hatten die
schwedischen Prozessualisten die Entwicklung des europäischen Zivilprozesses
aufmerksam verfolgt. Während in Frankreich der Code de Procédure civile von
1806 liberale Ideen aufnahm und vor allem die Mündlichkeit und Öffentlichkeit
verwirklichte, auch die Parteiherrschaft betonte und für eine freie
Beweiswürdigung eintrat, entwickelte Österreich ein soziales Prozeßmodell, das
zwar auch die Mündlichkeit und Öffentlichkeit beibehielt, aber berücksichtigte,
daß die Parteien faktisch sozial ungleich waren. Deshalb drängte es – gleich
Deutschland – die Parteiherrschaft zugunsten der richterlichen Prozeßleitungs-
und Aufklärungspflicht zurück und suchte im Beweisverfahren die materielle Wahrheit
zu ermitteln, auch berücksichtigte es die volkswirtschaftlichen Folgen jedes
Prozesses. Während Schweden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sich politisch
an Frankreich anlehnte, näherte es sich nach 1871 Deutschland und den deutschen
prozeßrechtlichen Institutionen an. Viele später führende Prozessualisten
(Afzelius, Hellner, Karl Schlyter, Engströmer) hatten in Deutschland studiert
und auch Frankreich und England besucht. Die dort gewonnenen Einsichten trugen
sie in die schwedische Prozeßkommission hinein. Da die deutsche
Zivilprozeßordnung von 1877 noch dem liberalen Prozeß französischer Prägung
verpflichtet war, sich aber in den Novellen von 1909, 1924 und 1933 dem
sozialen Prozeßmodell öffnete, wird diese Tendenz auch in Schweden sichtbar.
Allerdings waren die Reformer großenteils konservativ gesinnt, mit der Folge,
daß die Untergerichte weiterhin als rådstugurätter
für die Stadt und häradsrätter
für das Land beibehalten wurden. Auch ein Anwaltszwang wurde nicht
vorgeschrieben. Im übrigen regelte nya Rättegångsbalken Zivil- und Strafprozeß
gemeinsam, während alle Spezialverfahren weiterhin Sondergesetzen zugewiesen
blieben (summarischer Prozeß, Mahnverfahren, Kindschafts- und Ehesachen,
schiedsgerichtliches Verfahren, Zwangsvollstreckung und die Prozeßkostenhilfe).
Das Ganze ist ein Kompromiß zwischen moderner Zivilprozeßdogmatik und
schwedischem Herkommen, das sich auch an der Sprache von Rättegångsbalken
zeigt: Um verständlich zu sein, benützt er meist schlichte Worte und verzichtet
weitgehend auf Fachausdrücke und Legaldefinitionen. Gängige Begriffe des deutschen
und österreichischen Zivilprozesses (Feststellungsklage (fastställelsetalan), Leistungsklage (fullgörelsetalan) und Rechtskraft (rättskraft) sind übernommen.
Von S. 221–440 schildert der Verfasser
die einzelnen Teile von nya Rättegångsbalk, nämlich den Verfahrensablauf in der
ersten Instanz und den Rechtsmittelinstanzen, die Mittel der Verfahrenskonzentration,
das Säumnisverfahren, die Mündlichkeit, die Verantwortung für die Sachverhaltsermittlung
und die Grundzüge des Beweisrechtes. Der Darstellung des neuen schwedischen
Rechts folgen dabei jeweils rechtsvergleichende Bemerkungen zum französischen,
englischen, deutschen und österreichischem Prozeß.
Die Synthese aus moderner europäischer
Prozeßrechtsentwicklung und schwedischem Herkommen dauerte allerdings nicht
lange an: Zwischen 1932 und 1976 errichteten die fortwährend regierenden
Sozialdemokraten in Schweden den modernen Wohlfahrtsstaat, das Volksheim (folkhemmet). Durch politisch bestimmte
Gesetzgebung und Regierungsbeschlüsse, die als Verkörperung des Volkswillens
galten, kontrollierten und steuerten sie allmählich das gesamte öffentliche
Leben. Darin lag nicht weniger als die Aufgabe der klassischen Gewaltenteilung.
Das Recht sollte nicht in erster Linie dem Schutz des Bürgers, sondern dem
Staate dienen. So wurde nicht nur das Recht, sondern auch die Justiz politisch
in Dienst genommen. Die Richter sollten nicht länger die dritte unabhängige
Säule der Staatsgewalt sein, sondern als Sozialingenieure (samhällsingenjörer) Diener des Volkes. Das Recht galt als
Werkzeug, um politische Ziele zu verfolgen. Es war Aufgabe des Parlamentes und
der Regierung – nicht der Justiz – , dem Bürger Rechtssicherheit zu
garantieren. Fortan wurden Gesetzgebungsvorlagen dem Gesetzesrat (lagrådet), der aus hohen Richtern
bestand, nicht mehr zur Stellungnahme vorgelegt, Schweden errichtete auch keine
Verfassungsgerichtsbarkeit, und die Gerichte waren in der Gesetzesauslegung
nicht mehr frei, sondern durch die Vorarbeiten, Ausschußberichte und
Plenumsdebatten des Reichstages bei der Rechtsanwendung gebunden, die dadurch
gleichsam zum Gesetz neben dem eigentlichen Gesetz wurden. Man verstärkte die
Laienbeteiligung an Gerichtsverfahren erheblich und räumte den Laien bei der
Abstimmung auch eine persönliche Stimme ein, so daß sie den Richter überstimmen
konnten. In den vielfältigen neu eingerichteten Spezialgerichten (Marktgericht,
Wohnungsgericht, Grundstücksgericht, Wassergericht) waren die Laien sogar in
der Mehrheit. Daneben schuf man gerichtsähnliche Behörden (z. B. die Allgemeine
Reklamationsbehörde, Miet- und Pachtbehörde), die Streit entschieden oder
schlichteten. Die schwedische Verfassung von 1974 schrieb diese Tendenz fort,
denn sie sagt deutlich, daß die Gerichte – ähnlich der Verwaltung – lediglich
die Aufgabe haben, die Beschlüsse des Reichstags und der Regierung auszuführen,
aber nicht befugt seien, die Gesetzgebung zu kontrollieren und Lücken
schöpferisch zu schließen.
Nachdem Schweden 1953 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) und am 1. Januar 1995 der Europäischen
Union beigetreten war, hatte dies Folgen für den schwedischen Prozeß: Der
Begriff der „zivilen Rechte und Pflichten“ in Art. 6, Abs. I EMRK hat dazu
geführt, daß die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg ein gängiger Rechtsbehelf wurde; der Begriff der ‚privaten Rechte‘
einer Partei wurde präzisiert und hat den nationalen Rechtsweg neu gestaltet.
Der Anspruch auf mündliche Verhandlung hat sich verbreitert, die Mitwirkung von
Interessenvertretern (intresseledamöter)
an Spezialverfahren ist zurückgedrängt, die Gruppenklage zugelassen. Vor allem
aber hat die EU-Mitgliedschaft Schwedens die Stellung der Justiz in Schweden
verändert: Die korporativ-kollektivistische Vorstellung des Richters als
Sozialingenieur und Ausführungsorgan von Gesetzen und Regierungsbeschlüssen ist
der Europäischen Union fremd. Ihr Rechtsschutz gilt dem einzelnen Bürger, und
die Gerichte werden als unabhängige dritte Gewalt begriffen. Infolgedessen
ändert sich jetzt die schwedische Vorstellung von der Rolle des Richters: Er
ist nicht mehr der verlängerte Arm des Gesetzgebers, sondern hat nun eine
rechtskontrollierende und rechtsgestaltende Aufgabe. Infolgedessen ist er auch
nicht mehr an die Vorgaben der Gesetzgebungsmaterialien gebunden.
Der Verfasser hat ein ungeheures Material
zusammengetragen und eine Arbeit vorgelegt, die der rechtswissenschaftlichen
Fakultät in Freiburg im Breisgau erfolgreich als Dissertation vorgelegen hat.
Da eine Dissertation vor allem die Fähigkeit des Kandidaten zu
wissenschaftlicher Arbeit zeigen soll; hätten kürzere Ausführungen genügt, deshalb
598 Druckseiten zu schreiben, war nicht erforderlich. Daher hätte sein
Doktorvater ihm von diesem uferlosen Thema abraten sollen, das den Umfang einer
Doktorarbeit erheblich sprengt. Hinzu kommt, daß der Verfasser alles, was er
weiß und gelesen hat, auch in Text und Fußnoten ausbreitet. Eine solche
Materialhuberei wäre kaum einem Handbuch angemessen, hier ist sie völlig
verfehlt. Ein Handbuch aber hat der Verfasser nicht vorgelegt, weil er – nach
Art einer juristischen Hausarbeit – eine verwirrende Gliederung wählt, die in
Mikrologie ausartet und den Überblick erschwert. Seine internen Verweise wie:
‚vgl. 2. Teil, III. 3. a) cc) β) (2)‘ ohne Nennung der Seitenzahl sind für
den Leser ein Brechmittel und nur durch mühsame Recherche im Inhaltsverzeichnis
zu entschlüsseln. Zudem pflegt der Verfasser einen substantivischen
Juristenstil (‚Der Antrag wird vom Gericht einer Eingangsprüfung auf seine
Vollständigkeit unterzogen‘ (S. 221), benutzt anwaltliche Floskeln (‚vollumfänglich‘,
S. 59, 367), undurchdachte Fremdwörter (‚kollektive Gruppeninteressen‘,
S. 443 – gibt es auch individuelle?) oder harte Fügungen (‚ab der 2. Hälfte
des 17. Jhs.‘). Auch der Ausdruck ‚Uppsaler Statuten‘ ist falsch, es müßte
‚Uppsalaer‘ oder ‚Uppsalenser Statuten‘ heißen. Im Literaturverzeichnis sollten
mehrere Arbeiten eines Verfassers nach der Zeitfolge geordnet werden. Zu
begrüßen ist das Sachverzeichnis, aber es ist so kurz, daß viele Begriffe
fehlen. Da die Arbeit die europäischen Bezüge der schwedischen Prozeßordnung an
Personen festmacht, wäre auch ein Personenregister erwünscht gewesen. – Was
bleibt? Eine umfängliche und nützliche Darstellung der schwedischen
Zivilprozeßentwicklung im europäischen Vergleich, die bisher in Deutschland
gefehlt hat. Insofern doch ein brauchbares Ergebnis.
Köln am
Rhein Dieter
Strauch
[1] Vgl. Dieter Strauch, Das Ostgötenrecht (Östgötalagen), aus dem Altschwedischen übersetzt und erläutert, Weimar 1971, S. 280, Art. Rechtsprecher.
[2] „Rezeption in Schweden“, in: ZRG, GA, Band 82 (1965) S. 316-326 und Band 85 (1968), S. 248-252). Übersehen ist dabei der zweite Beitrag Rehfeldts, „Eine Urteilsberatung der schwedischen Rezeptionszeit“, in: Gedächtnisschrift f. Rudolf Schmidt, hrsg. v. Erwin Seidl, Berlin 1966, S. 441-461.