Kalss, Susanne/Burger, Christina/Eckert, Georg, Die Entwicklung des
österreichischen Aktienrechts. Geschichte und Materialien. Linde, Wien 2003.
1012 S.
Das moderne
Unternehmensrecht ist überwiegend vom Gesellschaftsrecht, insbesondere vom
Aktien- und GmbH-Recht bestimmt. Für die Entwicklung des Aktienrechts fehlte
bislang für Österreich eine umfassende Darstellung, die mit dem Werk von Kalss/Burger/Eckert
nunmehr vorliegt. Es handelt sich hierbei um eine von Kalss aufgrund des
START-Preises des Fonds für Wissenschaftliche Forschung begründeten Projekts:
„Kapitalgesellschaftsrecht“. Im ersten Teil des Werkes ist die Entwicklung des
österreichischen Aktienrechts seit dem 18. Jahrhundert bis heute nachgezeichnet,
der zweite Teil (S. 447-998) bringt den Text der geltenden Fassung des
österreichischen Aktiengesetzes von 1965 mit Wiedergabe der Stammfassung des
1938 in Österreich eingeführten Aktiengesetzes 1937 und der amtlichen
Begründung sowie mit Wiedergabe der amtlichen Materialien zum Aktiengesetz 1965
und der nachfolgenden Novellen. Es fehlt auch nicht der Hinweis auf die
jeweilige Regelung im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, im deutschen
Handelsgesetzbuch von 1897 (1938 in Österreich eingeführt) und auf das
Aktienregulativ von 1900. Auf diese Weise hat der Leser einen vollständigen
Überblick über das jeweils geltende österreichische Aktienrecht von 1862 an.
In den
vergangenen 150 Jahren hatten das österreichische und das deutsche Aktienrecht
denselben Ausgangspunkt, 1861 mit dem ADHGB, das allerdings landesrechtlich
modifiziert werden konnte, und mit dem Aktiengesetz von 1937. Schon aus diesem
Grunde ist die Darstellung der Verfasser rechtsvergleichend angelegt. Bei den
Versuchen der vorletzten Jahrhundertwende, das Aktienrecht neu zu regeln, wurde
stets auf den Vorbildcharakter der deutschen Regelungen verwiesen, jedoch
wurden auch gleichzeitig die eigenständigen Ansätze der österreichischen
Entwicklung hervorgehoben. Die frühe Aktienrechtsentwicklung ist gekennzeichnet
durch das Privilegien- oder Octroisystem, das in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts durch das Konzessionssystem schrittweise abgelöst wurde
(Hofkanzleidekret von 1843 und Vereinspatent von 1852). Das ADHGB schrieb das
Konzessionssystem fest, das in Österreich bis 1938 bestand und dessen Vorzüge
und Nachteile die Verfasser ausführlich analysieren. Gegenüber einem
Normativsystem, das der deutsche Gesetzgeber bereits 1870 einführte, lag der
Hauptvorteil des Konzessionssystems in der Möglichkeit, rasch auf Krisen durch
Änderung der Konzessionspraxis zu reagieren. Auf der anderen Seite bot letztere
„keinen durchgreifenden Schutz gegen Missbrauch, Spekulation und
Schwindelgründungen“ (S. 110). Bei fehlender wirtschaftlicher Kompetenz der
Konzessionsbehörde konnte ein „starres und formales Vorgehen“ das Entstehen
zukunftsträchtiger Unternehmen erschweren bzw. verhindern. 1869, 1874 und 1882
lagen Reformentwürfe vor, welche die Aufhebung der Konzessionspflicht vorsahen.
Die Ausstrahlungswirkung dieser Entwürfe auf die deutsche Aktienrechtsnovelle
von 1884 war beträchtlich; in ihr befinden sich zahlreiche Regelungen, die in
Österreich ansatzweise entwickelt worden waren (S. 186ff.). Das deutsche
Aktienrecht von 1884 und das neugefasste HBG von 1897 beeinflussten dann
wiederum das Aktienregulativ von 1899 (als Verwaltungsrichtlinie bzw.
–anweisung) und den von Franz Klein
maßgeblich beeinflussten Justizministerial-Aktiengesetzentwurf von 1900. Im
folgenden gehen die Verfasser den Gründen für das Scheitern des letzten
Vorkriegsentwurfs nach und kommen sodann zur rechtspolitischen Diskussion in
Deutschland und Österreich vor dem 1. Weltkrieg.
Zu einer
gemeinsamen Ausarbeitung eines Aktiengesetzentwurfs kam es in der Weimarer Zeit
nicht – anders als auf dem Gebiet des Straf- und Urheberrechts -, da das Wiener
Finanzministerium, die Industrie und vor allem die einflussreichen Banken eine
Abschaffung des Konzessionssystems kategorisch ablehnten. In die Darstellung
eingeflochten sind die Entwicklung des Bankrechts, des Rechts der Besteuerung
von Aktiengesellschaften, des Kartell- und UWG-Rechts sowie des
Kapitalherabsetzungsrechts. Besonders detailliert arbeiten die Verfasser die
rechtlichen Grundstrukturen der Aktiengesellschaft in den jeweiligen Gesetzen,
Entwürfen und Regulativen heraus (Gründung, Finanzverfassung, Organisation).
Hinsichtlich der Organisation ist bemerkenswert, dass von den nach dem ADHGB
möglichen Organisationsmodellen das in Deutschland seit 1870 zwingend
vorgeschriebene zweigliedrige System (Trennung von Geschäftsführung und Aufsichtsrat)
von der österreichischen Praxis nicht angenommen wurde. Nur zwölf von 90 der
von den Verfassern untersuchten Gesellschaften hatten einen Aufsichtsrat. Der
Hauptgrund hierfür ist in der „historisch gewachsenen und verfestigten Struktur
des Verwaltungsrats“ zu sehen (S. 269f.). Unter Hinweis auf die
Reformdiskussion unter dem Nationalsozialismus folgt eine Darstellung des Inhalts
des Aktiengesetzes von 1937. Von 1956 an setzte sich unter dem Einfluss der gewerblichen
Wirtschaft und des maßgebenden Referenten im Justizministerium Walther
Kastner die Überzeugung durch,
dass das deutsche Aktienrecht beibehalten werden sollte und bei einer Reform
nur österreichische Besonderheiten berücksichtigen sollte. Dies geschah durch
das Aktiengesetz von 1965, das die meisten Regelungen des Gesetzes von 1937
bewahrte. Die Neuregelungen des deutschen Aktiengesetzes von 1965 wurden nicht
übernommen, u. a. weil es bei den Neuregelungen „sich zum Großteil um geradezu perfektionistische
Klarstellungen dessen, was Lehre und Praxis der vergangenen Jahrzehnte
erarbeitet hatten“, handelte. Zahlreiche Änderungen des deutschen
Aktiengesetzes 1965 hätten nur klarstellende, nicht fortbildende oder
rechtsändernde Funktion (S. 346). Für die letzten vier Jahrzehnte ist die
Entwicklung des österreichischen Aktienrechts durch die „Politik der kleinen
Schritte“ gekennzeichnet, mit denen es, z. T. über die EU-Anpassung, wiederum
zur Übernahme vieler Einzelregelungen des deutschen Aktienrechts von 1965 kam.
Die Darstellung wird abgeschlossen mit einer präzisen Zusammenfassung („Der
rote Faden in der Entwicklung des Kapitalgesellschaftsrechts“, S. 379ff.), mit
einem Verzeichnis der ausgewerteten Statuten und mit einer umfassenden Literaturübersicht
insbesondere zur Geschichte und zum aktuellen Stand des österreichischen
Aktienrechts.
Das Werk lässt
nur wenige Wünsche offen: Die Aktienrechtsreform der Weimarer Republik und die
Entstehung des Aktiengesetzes 1937 werden im Hinblick auf die Bedeutung dieses
Gesetzes für die Rechtsentwicklung auch in Österreich etwas sehr knapp
behandelt (vgl. S. 305ff.). Gleiches gilt für das deutsche Aktiengesetz von
1965 (S. 344f.). Auf der anderen Seite fehlt zumindest für den mit dem österreichischen
Aktienrecht nicht voll vertrauten Leser eine zusammenfassende Darstellung des
österreichischen Aktienrechts nach dem Muster der bis zum Aktiengesetz von 1937
gebrachten Kennzeichnungen der jeweiligen Gesetze und Entwürfe. Zu Beginn des
Teils 2 müsste unter genauer Datumsangabe deutlich herausgestellt werden, dass
der aktuelle Text des Aktiengesetzes wiedergegeben wird. Voll zuzustimmen ist
der von der rechtshistorischen Forschung noch immer vernachlässigten Forderung
der Verfasser: „Rechtsgeschichte
bedarf der vergleichenden Perspektive, denn historische Entwicklungen lassen
sich nur im Vergleich mit anderen einordnen und beurteilen“ (S. 38). Mit Recht
haben die Verfasser sich zunächst auf die wechselseitige Befruchtung des
österreichischen und des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts beschränkt, da
eine volle Einbeziehung insbesondere der Einflüsse des englischen und französischen
Aktienrechts des 19. Jahrhunderts den Rahmen der Entwicklungsgeschichte des österreichischen
Aktienrechts wohl gesprengt hätte. Insgesamt liegt mit dem Werk von Kalss/Burger/Eckert eine umfassende Geschichte des österreichischen
Aktienrechts vor, die es dem österreichischen und deutschen Leser ermöglicht,
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Aktienrechte zu überblicken und
historisch einzuordnen. Auf die Weiterführung der Geschichte des österreichischen
Kapitalgesellschaftsrechts durch eine Entwicklungsgeschichte des GmbH-Rechts,
die Kalss/Eckert vorbereiten
(vgl. S. 205 Fn. 1210), darf man schon jetzt gespannt sein.
Kiel Werner
Schubert