Kaiser, Reinhold, Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter. Böhlau, Köln 2002. 389 S.

 

Reinhold Kaiser, Professor für frühmittelalterliche Geschichte an der Universität Zürich, hat hier ein sehr abgerundetes Buch veröffentlicht. Er beschreibt z. B. auch die allmählich immer weitere Ausdehnung des Weinanbaus in Europa. Die Begegnung der Germanen, Slawen, Angelsachsen oder Skandinavier mit dem Wein charakterisiert Kaiser als „Kulturschock“ (S. 59). Denn diese Völker waren mit Met oder Bier weit schwächere Alkoholika gewohnt. „Antike und barbarische Trinksitten stehen sich gegenüber, das führt zur Bewusstwerdung ethnischer oder «nationaler» Eigenheiten des Umganges mit Wein, zur Ausprägung von Verhaltensweisen, die als charakteristisch für gewisse Völker angesehen werden.“ (S. 21) Die Barbaren trinken in den Augen von Römern und Griechen ungezügelt, regellos. Doch der Vorwurf der Trunksucht gehört zum Standardarsenal an Diffamierungen, an austauschbaren Stereotypen, die in mittelalterlichen Spottversen mal den Engländern, mal den Deutschen vorgehalten werden.

 

In das eigentliche Kernthema – Alkoholkonsum und Gewalt – führt der Autor ein mit der Analyse von „Archetypen“ (S. 24) der Verbindung von Trunkenheit und Gewalt im Alten Testament: der Wein als Verursacher, Begleiter von oder Aufforderer zur Gewalt; die Gewalt von oder an Betrunkenen oder – wie bei Noah – von wieder Ernüchterten zur Rache ihrer Entehrung im Zustand der Trunkenheit, verursacht wiederum durch die violentia vini. Die Macht oder Gewalt des Weines selbst gründet einerseits in der physiologischen Wirkung des Alkohols, genauso sehr aber im sozialen Zwang beim Trinken. In diesem Zusammenhang entwickelt Kaiser eine Typologie der „Grundformen“ des kollektiven Trinkens im Mittelalter (S. 136): 1. caritas (das Minnetrinken zum Gedenken an Lebende oder Tote), 2. potatio (das kollektive Trinken einer sozialen Gruppe), 3. convivium (das gemeinsame Trinken zum Herbeiführen oder Besiegeln einer politischen Entscheidung oder sozialen Bindung). Bei den auf heidnische Gewohnheit zurückgehenden convivia wurde mit übergroßen Gefäßen zum Wetttrinken aufgefordert. Als Druckmittel dienten der Spott und der Zorn des Gastgebers, der Sieger dagegen erhielt soziale Anerkennung; auch übernatürliche Legitimationen sind überliefert: So beschreibt Arnold von St. Emmeram einen Besuch Ottos I. in dem Kloster in Regensburg, bei dem ein Mönch eine Teilnahme am Minnetrinken zu Ehren des Klosterheiligen verweigerte, da er keinen Platz mehr in seinem Bauch habe; der Heilige streckte ihn mit einem Schlag zu Boden. Man konnte dem Trinkzwang also kaum entkommen.

 

Caesarius von Arles (gest. 542) widmete sich in vielen Predigten der Trunkenheit, besonders der sozialen Komponente. Wieso sollten die im Vollrausch zu Boden Gesunkenen männlicher sein als die aufrecht stehenden Nüchternen: Jacent prostrati, et viri sunt; stant recti, et vir non sunt? Die seit karolingischer Zeit ergangenen Verbote fruchteten jedoch offenbar nicht. Danach erlahmte auf dem Kontinent nördlich der Alpen die weltliche gesetzgeberische Aktivität hinsichtlich des Alkohols. Zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert wurden lediglich in England neue Gesetze erlassen. Die Zeit zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert gilt „geradezu als die Hochphase des Zutrinkens, dem auch die Reichsgesetzgebung nicht zu steuern wusste“ (S. 97).

 

Die hochmittelalterlichen Kirchenrechtssammlungen bieten ein anderes Bild. Doch konzentrierte man sich hier in erster Linie auf  die Repression der Trunkenheit bei Klerikern. Die Unterschiede zwischen kirchlichem und weltlichem Recht erklärt Kaiser mit der sozialen Akzeptanz des Rausches bei Römern und Griechen, der eine Ablehnung bei Juden und Christen gegenübersteht. Diese jüdisch-frühchristliche Bewertung der Trunkenheit schlug sich in den kirchlichen Normen stärker nieder als in den profanen.

 

Kaiser kritisiert die „harmonisierende Sichtweise“ der alltagsgeschichtlichen Perspektive, die den friedens- und gemeinschaftsstiftenden Charakter des gemeinsamen Essens und Trinkens im früheren Mittelalter hervorhebt. Streit und Gewalt waren aber nicht „Abweichung von einer Sollensordnung, der Friedensherstellung und –wahrung“, sondern Äußerungsformen des den Trinkgelagen „inhärenten Streitprinzips“; es handelte sich nämlich nicht um Gemeinschaften sozial Gleichgestellter, sondern um hierarchisch strukturierte Gesellschaften (S. 135). „Da die Gastmähler / Trinkgelage die Gelegenheiten bieten, die Rangordnung manifest zu machen und zu stabilisieren bzw. zu destabilisieren, gehörten Streit und Gewalt wesensmäßig dazu.“ (S. 136) Diesen Gedanken sollten nach Ansicht der Rezensentin auch Forscher berücksichtigen, die Gewalt in Mittelalter und früher Neuzeit als „ritualisiert“, „eingehegt“ (Martin Dinges u. a.) oder Mittel sozialer Kontrolle (Gerd Schwerhoff) verharmlosen.

 

Speziell das convivium hat noch einen zweiten Aspekt: „Einerseits stiftete es Frieden, Bündnisse, Gemeinschaft oder bekundete sie zumindest öffentlich, andererseits barg das Gastmahl stets die latente Gefahr in sich, Rivalitäten, Feindschaften, Hass [...] zum Ausbruch zu verhelfen.“ Die friedensstiftende Wirkung war „bei Beziehungen zu Fremden, zu den «anderen», leicht außer Kraft zu setzen“ (S. 175), der Charakter des Gastmahls war also ambivalent, es bot auch die optimale Gelegenheit zur Vorbereitung von Gewalttaten gegen Dritte. Gemeinschaftsstiftend sind die convivia also nur aus der Binnenperspektive. Die Außenperspektive aber hält der Autor zu Recht für ebenso der Berücksichtigung wert: Die convivia „geben der latenten Gefahr eine bestimmte Stoßrichtung, indem das gemeinsame Mahl die Teilnehmer auf den gemeinsamen Feind fixiert.“ (S. 176)

 

Diese grundsätzlichen Anregungen und Einwände machen das Buch noch lesenswerter, als es das ohnehin schon ist.

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour