Imperium
Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat.
Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, hg. v. Schnettger, Matthias (= Veröffentlichungen des Instituts
für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 57). Philipp von Zabern,
Mainz 2002. XI, 336 S., 16 Abb.
In den
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Diktatur in Deutschland
hat die Erforschung des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“
bekanntlich einen großen Aufschwung genommen. Es erschien eine Vielzahl von
Quellenstudien zu den inneren und äußeren Geschicken des Alten Reiches, über
dessen Institutionen und Akteure. Nicht wenige Rechtshistoriker und Historiker
haben sich mit ihren Publikationen über das Reich einen Namen in der
Geschichtswissenschaft gemacht. Das im Lichte des Aufstiegs des kleindeutschen
National- und Machtstaates durch eine borussophile
Historiographie entworfene Bild von der Zeit des Alten Reiches als einer Dekadenzphase
der deutschen Geschichte verblasste angesichts einer Fülle neuer Erkenntnisse
und Einsichten. Dennoch hält das Alte Reich noch immer Fragen an den
Verfassungs- und Rechtshistoriker bereit, darunter diejenige nach dem
typologischen Begriff, nach dem Deutungsmodell dieses eigentümlichen Gebildes
in der Mitte Europas.
Der vorliegende
Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die im September 2001 am Institut für
Europäische Geschichte zu Mainz, also an einem wichtigen Standort für die
Erforschung der Reichsgeschichte stattfand. Das gut ausgestattete Buch hat vier
Teile: Das Alte Reich im Urteil der Zeitgenossen; das Alte Reich in der
Historiographie; Aktuelle Forschungstendenzen; Diskussionsbeiträge. Am
interessantesten wohl für viele Leser die beiden letzten Teile, in denen es um
unseren Begriff vom Alten Reich geht. Die verschiedenen vorgetragenen
Perspektiven und Positionen haben alle – jede auf ihre Weise – ihre
Plausibilität, ohne daß sich eine von ihnen als
stringent richtig erweisen ließe. Der Wert und Gewinn der Debatte besteht
darin, daß sie den ganzen Reichtum der Eigenheiten
des Reiches noch einmal eindrucksvoll vor Augen führt, seine Vorzüge und
Leistungen wie seine Gebrechen und Versäumnisse. Dabei überwiegen die
positiven, in gewisser Weise sogar die zukunftsträchtigen Aspekte.
Georg Schmidt
stellt die Frage nach dem frühneuzeitlichen Reich als einem Sonderweg und
Modell für Europa oder einem Staat der deutschen Nation? Nach seinem „Konzept
des komplementären Reichs-Staates“ verliert die frühneuzeitliche deutsche
Geschichte in einem wesentlichen Punkt ihre Besonderheit, „weil so der
Vergleich mit anderen Ländern erleichtert wird und Deutschland als Teil des
frühneuzeitlichen Staateneuropa betrachtet werden muß“ (S. 248). Reichs-Staat mit Bindestrich bedeute eine Prozeßkategorie: „Das Reich ist in seinen deutschen
Gebieten bemüht, immer mehr Staat zu werden“. Komplementär sei dieser
Reichs-Staat, so der Autor, weil die Reichsinstitutionen sich dann gefordert
sahen, wenn sich die Probleme auf den unteren Ebenen nicht lösen ließen – und
umgekehrt (S. 275).
Heinz Schilling
folgt einem anderen Ansatz. Er sieht im Alten Reich keinen Staat, sondern „ein teilmodernisiertes System als Ergebnis der partiellen
Anpassung an die frühmoderne Staatsbildung in den Territorien und den
europäischen Nachbarländern“. Der Verfasser verkennt nicht die Schübe der
Verdichtung, Institutionalisierung und Professionalisierung, die das Alte Reich
erfuhr, doch kann er in ihnen keine Verstaatung
erkennen, weder bei der keineswegs negativ zu beurteilenden
Reichswehrverfassung, noch bei der Organisation der politischen und
diplomatischen Außenbeziehungen, noch auf dem ökonomischen Felde, das für die
Nationalstaaten immer mehr Bedeutung gewann, von der Kolonialpolitik ganz zu
schweigen. Die nicht-staatliche Qualität der Reichsgrenze, das Fehlen einer
Reichs-Staats-Kirche, schließlich der heilsgeschichtliche Zug des Sacrum Imperium Romanorum ließen nicht mehr zu als ein teilmodernisiertes System.
Johannes Burkhardt plädiert „für einen neuen Entwicklungsdiskurs zur
konstruktiven Doppelstaatlichkeit des frühmodernen Reiches“. Der Autor
konzentriert sich auf die politisch-rechtliche Verfassungskonstruktion und die
unmittelbar daraus fließenden „Staatsleistungen“. Dieses Wort deutet an, daß der Verfasser keinerlei Probleme damit hat, das Reich
mit Georg Schmidt als Staat aufzufassen. Er betont zu Recht die „gewaltige
Organisationsleistung der Reichsreform“, „die mit der Einbindung des
universalen Kaisertums und der Konstituierung der drei den Gesamtstaat
garantierenden Kerninstitutionen Reichstag, Reichsgerichte und Reichskreise
eine der politisch erfolgreichsten Reformen überhaupt war“ (S. 309f.). Er
betont weiter mit Grund Rechtssicherheit und Friedensleistung.
Zu den aktuellen
Forschungstendenzen von hoher Attraktivität gehört der kulturalistische Ansatz
für die Reichsverfassungsgeschichte, den Barbara Stollberg-Rilinger
entwickelt. Dabei geht es nicht um dekorative Schnörkel, randständige
Zeremonien und folkloristischen Zierat, sondern um identitätsstiftende Präsenzsymbole. Der kulturalistische
Ansatz beansprucht, „mit dem symbolischen Handeln ein Konstituens
aller politisch-sozialen Ordnung zum Thema zu machen“ (S. 236). Die Autorin
verweist auf das Beispiel der je und je auftretenden Zeremonialkonflikte,
die nach ihrem einleuchtenden Urteil keine störenden Nebensächlichkeiten
darstellen, auch nicht nur tieferliegende
Verfassungskonflikte spiegeln, sondern genuine Verfassungskonflikte sind.
Die Verfasserin versteht auch zu begründen, warum „die symbolisch-zeremonielle
Inszenierung der Reichsordnung von substantieller Bedeutung für das
Funktionieren des Reichsverbands als Handlungsgeflecht und Orientierungssystem“
gewesen ist (S. 243ff.). Und wieder fällt dabei Licht auf die Charakteristika
und Strukturmerkmale des Alten Reiches.
Der Teil des
Sammelbandes, der zeitgenössische Urteile zur Darstellung bringt, bietet neben
anderen neue ausländische Perspektiven: schwedische, französische,
niederländische und Moskowiter Sehweisen. Der Herausgeber Matthias Schnettger erörtert unter dem Titel Impero
Romano – Impero Germanico
die italienische Sicht der Dinge. Dabei zeigt sich, daß
Reich und Reichsidee in Italien auch während der frühen Neuzeit „eine nicht
unerhebliche Bedeutung“ besaßen. Das spreche dafür, „einen Reichsbegriff zu
wählen, der neben den <modernen> auch die <archaischen> Strukturen
und außer den deutschen Kern – auch die nichtdeutschen Randgebiete zu erfassen
vermag, einen Reichsbegriff also, der so offen ist, wie sich das Alte Reich
trotz aller partiellen Verdichtung gerade in seinen Randbereichen auch in der
Frühen Neuzeit noch präsentierte“ (S. 75).
In dem Kapitel
über das Alte Reich in der Historiographie fehlen leider die Rechtshistoriker,
die doch aus dem Prozeß des Erkennens und aus den
Debatten um die Eigenart des Reiches schlechterdings nicht wegzudenken sind.
Dafür erscheinen Treitschke, Erdmannsdörffer und von Srbik, auch - sehr begrüßenswert – französische und
polnische Stimmen. Ein Personen – wie ein Orts- und Sachregister beschließen
ein Werk, das neuerlich Interesse, Verständnis und Sympathien weckt für einen
Gegenstand, der es verdiente, auch im Schulunterricht und beim gebildeten
Publikum mehr Aufmerksamkeit zu finden.
Heidelberg Adolf
Laufs