Immunität und Landesherrschaft.
Beiträge zur Geschichte des Bistums Verden, hg. v. Kappelhoff,
Bernd/Vogtherr, Thomas unter Mitarbeit v. Ehrhardt, Michael/Mindermann,
Arend (= Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer
Bremen und Verden 14). Verlag des Landschaftsverbandes der ehemaligen
Herzogtümer Bremen und Verden e. V., Stade 2002. XI, 265 S.
Am 14. Juni
849 verlieh König Ludwig der Deutsche dem Bischof Waldgar von Verden und seinem
Bistum erstmals die Immunität und den Königsschutz. Damit hatte das Bistum
Verden seine Anfangsphase als Missionsbistum hinter sich gebracht und war den
übrigen Bistümern des Karolingerreiches gleichgestellt. Es besaß von nun an
neben den geistlichen Rechten auch weltliche Herrschaftsrechte und unterstand
durch sein Immunitätsprinzip nicht mehr den Gerichten der königlichen Grafen.
Zum 1150jährigen Jubiläum dieses Ereignisses fand am 16. Juni 1999 in Verden
ein Kolloquium statt, dessen Vorträge und weitere Beiträge zur Geschichte des
Bistums Verden im vorliegenden Sammelband publiziert werden. Zur Mitte des 9.
Jahrhunderts nahm das Bistum Verden, das am nördlichen Rand des
Karolingerreiches lag und in gewisser Hinsicht von dem benachbarten Erzbistum
Hamburg-Bremen umklammert war, zweifellos keine herausragende Stellung in der
fränkischen Reichskirche ein. Es zählte vielmehr zu den weniger bedeutenden
Bistümern, die weder durch ihre Lage noch durch ihre weltliche Kraft ein
Gewicht für sich beanspruchen konnten. Diese relativ geringe Bedeutung des
Bistums Verden in der fränkischen und deutschen Reichskirche hat sichtbare
Auswirkungen auf die historisch Forschung gehabt, da das Bistum Verden und
seine Bischöfe von der Geschichtswissenschaft stark vernachlässigt worden sind.
Man war lange Zeit auf die veraltete Gesamtdarstellung zur Bistumsgeschichte
Verdens aus dem Jahre 1830/34 und auf eine Dissertation zur Verdener Geschichte
des Mittelalters von 1905 angewiesen, wollte man sich notdürftig über die Grundlinien
der Verdener Bistumsgeschichte informieren. Neuere Darstellungen der
Bistumsgeschichte lagen demnach nicht vor, und auch eine umfassende
Veröffentlichung der Urkundenfonds des Bistums Verden ließ lange auf sich
warten.
Diese
unerfreuliche Lage hat sich seit einiger Zeit geändert und neue
Forschungsarbeiten sind entstanden. Das „Urkundenbuch der Bischöfe von Verden“
liegt nun in gedruckter Form bis zum Jahre 1300 vor, während gleichzeitig für
denselben Zeitraum Regesten der Bischöfe von Verden und ihres Domkapitels vor
dem Abschluss stehen. Ferner sind einige neuere Darstellungen zu wichtigen
Aspekten der Bistumsgeschichte erschienen, so dass ein erheblicher Fortschritt
der Forschung festzustellen ist. Wie ist nun in diesem Forschungsnetz der vorliegende
Sammelband einzuordnen? Welche Ergebnisse und neuen Erkenntnisse zur Geschichte
des Bistums Verden werden vorgelegt? Die Autoren des Sammelbandes und des
vorausgegangenen Kolloquiums stammen aus dem engen Kreis von Historikern, die
sich seit einiger Zeit in besonderem Maße mit der Verdener Geschichte befasst
haben und gegenwärtig zu den besten Kennern der historischen Entwicklung von
Stadt und Bistum Verden zählen. Unter dem Obertitel „Immunität und
Landesherrschaft“ wurden die Beiträge von Mediävisten, Frühneuzeithistorikern
und Archäologen zusammengefasst, die vor allem die Entwicklung der Verdener
Landesherrschaft vom Mittelalter bis zur Neuzeit verfolgen. Dieser Obertitel
ist demnach allzu verkürzt, so dass der Untertitel „Beiträge zur Geschichte des
Bistums Verden“ zwar bescheidener, aber zutreffender ist.
Thomas
Vogtherr (Osnabrück) untersucht in einem einleitenden Aufsatz „Das Bistum
Verden in der Reichskirchenpolitik der Karolinger und Ottonen“ die Position des
Bistums Verden im Reich der karolingischen und ottonischen Herrscher. Von den
manchmal nur schemenhaft erkennbaren Anfängen des Bistums unter den Karolingern
bis zum Beginn der Salierherrschaft reichen seine aufschlussreichen
Ausführungen. Verden war offenbar in seiner Gründungszeit ein typisches
Missionsbistum, dessen erste Bischöfe aus der Abtei Amorbach stammten. Im 10.
Jahrhundert geriet das Bistum Verden dann unter den dominierenden Einfluss der
billungischen Herzöge von Sachsen, die die politischen Geschicke des Bistums
und seiner Repräsentanten weitgehend bestimmten. Der Beitrag von Konrad
Elmshäuser (Bremen) „Immunitätsverleihung, Königtum und Landesherrschaft im
Erzstift Bremen“ untersucht die Bremer Entwicklung im direkten Vergleich mit
Verden. Obwohl Bremen sich in ähnlicher Randlage wie Verden befand, wurde aus
Bremen im Zusammenhang mit der ursprünglich von Hamburg ausgehenden
Skandinavienmission ein imposantes Erzbistum, dessen kirchenpolitischer
Anspruch im bekannten Bremer Patriarchatsplan des Erzbischofs Adalbert um die Mitte
des 11. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichte. Arend Mindermann (Stade)
beschreibt in seinem Beitrag „Zur Frühgeschichte des Hochstifts Verden“ die
Grundlagen, Anfänge und Entwicklungslinien der Verdener Landesherrschaft bis
zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Spät erst wurde der Ausbau des Hochstifts
Verden planvoll begonnen, und entsprechend unbefriedigend blieben die
Resultate. Die Randlage der Bischofsstadt war offenbar nicht dafür geeignet,
intensive Herrschaftsformen der Bischöfe zu ermöglichen. Statt dessen
dominierten lange Zeit im näheren und weiteren Umkreis des Bischofssitzes
mächtige lokale Adelsgeschlechter, gegen die sich die Bischöfe nur durch
Anlehnung an die Billunger und Welfen behaupten konnten. Die Beziehungen des
Bistums Verden zu Rom und dem Hof der Päpste analysiert Brigide Schwarz
(Berlin) in ihrem Beitrag „Die römische Kurie und das Bistum Verden im
Spätmittelalter.“ Sie untersucht dabei besonders die interessanten Pläne zur
Verlegung des Bischofssitzes von Verden nach Lüneburg um das Jahr 1400; diese
Überlegungen scheiterten allerdings an vielfältigen Widerständen. Ferner geht
sie näher auf die Errichtung einer Propstei in Lüneburg im Jahre 1445 und die
Kontakte unterhalb der Ebene von Bischof und Domkapitel mit der Kurie ein. Matthias
Nistal (Oldenburg) setzt in seinem Beitrag „Verdens evangelische Bischöfe als
Landesfürsten bis 1648“ den chronologischen Durchgang durch die Verdener
Bistumsgeschichte bis zum Ende des Bistums im Jahr 1648 fort. Dieser Aufsatz
gibt wichtige Aufschlüsse zur Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts, in der um die
Durchsetzung der Reformation heftig gerungen wurde. Nicht als punktuellen
Einschnitt darf man demnach die Reformation bewerten, sondern als einen Prozess
mit Fortschritten und Rückschlägen für beide Konfessionen. Frank Wilschewski
(Kiel) gibt in seinem Beitrag „Siedlung und Bischofssitz Verden an der Aller im
frühen Mittelalter. Der archäologische Forschungsstand“ Einblick in eine noch
in Arbeit befindliche Dissertation über die Verdener Domburg samt angrenzender
Siedlung. Die bisher bekannt gewordenen archäologischen Funde und Befunde
erlauben es, die Verdener Verhältnisse mit denen anderer norddeutscher
Bischofssitze zu vergleichen; es entsteht auf diese Weise das Bild einer im
wesentlichen ähnlich verlaufenden Entwicklung der Befestigungen und Siedlungen
seit dem 9. Jahrhundert. In einem zweiten, abschließenden Beitrag von Arend
Mindermann „Die Siegel der Bischöfe und des Domkapitels von Verden bis 1300“
werden die entsprechenden Siegel in einem umfassenden Katalog zusammengestellt
und geordnet. Ein Index der Orts- und Personennamen, eine Karte der Diözese
Verden und eine Liste der Bischöfe von Verden vom 9. bis zum 17. Jahrhundert
schließen diesen hervorragenden Sammelband ab, der wichtige neue Aufschlüsse
zur Geschichte des Verdener Bistums vermittelt. Viele Forschungsaufgaben
bleiben aber auch weiterhin bestehen, wenn man die Entwicklung des Bistums
Verden in Mittelalter und Früher Neuzeit angemessen verstehen und einordnen
will.
Gießen Werner Rösener