Zwei Jahre nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland, 1935, wurde auf Veranlassung des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler innerhalb des Sicherheitsdienstes der SS ein sonderbares Projekt in Angriff genommen, der „H-Sonderauftrag“. Acht „SS-Forscher“ wurden darauf angesetzt, in über 260 Archiven und Bibliotheken nach den verbliebenen Zeugen der Hexenverfolgung des 16. und 17. Jahrhunderts zu suchen und sie systematisch auszuwerten. 1939, als der Sicherheitsdienst der SS gemeinsam mit Kriminalpolizei und Gestapo unter dem Dach des „Reichssicherheitshauptamtes“ zusammengefaßt wurde, lief die Arbeit des „H-Sonderauftrag“ in der „Abteilung für Grundlagenforschung“ fort. Neun Jahre dauerten die Forschungen, bis das Projekt 1944 aus Kriegsgründen aufgegeben wurde. Ergebnis dieser neunjährigen Suche ist neben einer umfangreichen Bibliothek auch eine Kartei mit insgesamt 33.846 Erhebungsbögen zu einzelnen Hexenprozessen, die sich heute im Woiwodschaftsarchiv im polnischen Poznan befindet. Der vorliegende, zuerst 1999 publizierte Sammelband, der auf eine Tagung des Arbeitskreises Interdisziplinäre Hexenforschung aus dem Jahre 1988 zurückgeht, untersucht die Motivationen und Hintergründe dieses Projekts sowie seine Brauchbarkeit für die moderne Hexenforschung.
Barbara Schier und Wolfgang Brückner stellen zunächst die unterschiedlichen Strömungen der Hexen- und der allgemeinen Volkskundeforschung im Nationalsozialismus dar. Demnach gab es im wesentlichen zwei Auffassungen zum Hexenwahn und zum Germanenbild allgemein. Der ersten, auf Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ zurückreichenden (S. 5ff) These zufolge waren Hexenwahn und Aberglaube gänzlich „ungermanisch“. Die Hexenprozesse werden als eine gezielte Überfremdungskampagne der Kirche gegen das „germanische Wesen“, insbesondere gegen die „germanische Frau“ verstanden, durch die die deutsche Volksgemeinschaft zersetzt werden sollte und hinter der man letztlich die Juden vermutete. Dem stand die im „SS-Ahnenerbe“ ausgebildete und u. a. von Otto Höfler vertretene These gegenüber, die Hexenjagd sei als Beseitigung „individualistischer“ Tendenzen durch kultische „Männerbünde“ als Formen germanischer Gemeinschaftsbildung akzeptiert gewesen und erst durch den Hexenhammer zum unkontrollierten und zersetzenden Wahn geworden (S. 9ff). Letztere Auffassung hatte stärkere politische Aktualität, konnte sie doch die „Männerbünde“ der SA und SS rechtfertigen. So sieht Schier zwar zu Recht in beiden Thesen eine mögliche Motivation Himmlers (S. 16). Himmler hat freilich dem „SS-Ahnenerbe“ die Beschäftigung mit dem Hexenthema verboten und damit praktisch Stellung für die erste These bezogen. Wie Klaus Graf in seinem Beitrag zeigt, war diese Auffassung in der Nähe Himmlers verbreitet, und auch Jörg Rudolph, der sich im umfangreichsten Beitrag des Bandes mit der Genese des „H-Sonderauftrages“ beschäftigt, beschreibt die Motivation Himmlers als eine antikirchliche.
Grundlage der Beschäftigung mit der Hexenverfolgung war also das intentionalistische und ahistorische Erklärungsmodell, die Kirche (die mit der katholischen Kirche der NS-Zeit gleichgesetzt wurde) habe diese Verfolgung planmäßig durchgeführt. Dabei handelte es sich nicht bloß um eine Arbeitshypothese, sondern um eine ideologisch bedingte Vorgabe, nach deren historischer Wahrheit nicht gefragt wurde. Dieses methodische Vorgehen wurde ganz bewußt gewählt: Man betreibe „keine Wissenschaft an sich, sondern nur eine zweckbestimmte Überwachung der Erkenntnisse des Gegners und seines politischen Verhaltens“. Es handelte sich um „Gegner-Forschung“, die dann ab 1939 im Reichssicherheitshauptamt systematisiert wurde, wo die Hexenforschung bald hinter der Erforschung der Juden, Marxisten und Freimaurer stark zurücktreten mußte. Ziel dieser Forschung war nicht der Erweis oder Nichterweis einer Hypothese, sondern Sammlung von Material, das sich propagandistisch auswerten ließ (dazu auch S. 149).
Der Band macht nicht nur die Motivation der „SS-Forscher“ speziell am Hexenthema deutlich, er wirft auch ein Streiflicht auf die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Tätigkeit in der NS-Zeit. In den Beiträgen von Jürgen Matthäus und Wolfgang Behringer werden Lebensläufe sichtbar, die zeigen, in welchem Umfang sich Historiker von der Ideologie der Nationalsozialisten vereinnahmen ließen und die Politisierung der Geschichte als Sprungbrett für die eigene Karriere zu nutzen versuchten. Als Angehörige einer elitären Führungsidee genossen sie erhebliche Freiräume, die ihnen freilich bei dem Bemühen, akademische Würden zu erlangen, nicht unbedingt weiterhalfen. Die Universitäten galten den „SS-Forschern“ trotz der längst vollzogenen „Gleichschaltung“ immer noch als Hort bürgerlich-liberalen Denkens. Rudolf Levin wurde über den Versuch, sich über den „H-Sonderauftrag“ im universitären Wissenschaftsbetrieb zu etablieren, zur tragischen Figur des Projekts. Seine in München eingereichte Habilitation wurde im Juli 1944 u. a. mit der Begründung zurückgewiesen, „die Grundthese, daß der Hexenwahn dem Germanentum eigentlich fremd und südlicher Import sei, ist falsch“. Der Zweitgutachter, der die Arbeit zum Fallen brachte, war ausgerechnet jener Otto Höfle, der der Männerbund-These des „SS-Ahnenerbe“ anhing (S. 103ff, 134). Mit Günther Franz, dem Koordinator der „Gegnerforschung“ im Reichssicherheitshauptamt, lernen wir im Beitrag von Behringer schließlich einen universitär etablierten Wissenschaftler kennen, der über sein Engagement bei der SS versuchte, auch dort den wissenschaftlichen Standard durchzusetzen und die politische Wirksamkeit der Wissenschaft zu fördern (S. 109ff).
In den neun Jahren seiner Existenz war der „H-Sonderauftrag“ trotz enormer finanzieller und personeller Ressourcen ineffektiv. Grund dafür war neben der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Archive und der unzureichenden wissenschaftlichen Reputation und Methodik der „SS-Forscher“ sowie dem Beginn des Luftkrieges, in dessen Verlauf auch einige der „SS-Forscher“ einberufen wurden oder zu Tode kamen, auch das ideologische Konzept des Auftrags selbst: Mit der Ablehnung der Habilitation Levins hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die monokausale These, die der Forschung zugrunde lag, nicht stimmte. Abgesehen davon gaben auch die bis dahin angesammelten Erhebungsbögen dieser These keine Nahrung. Da die politische Verwertbarkeit der Forschung im Vordergrund stand, war für die „SS-Forscher“ besonders fatal, daß sich die Vorgaben in den Quellen nicht fanden, daß ein dominierender Einfluß der Kirche ebensowenig festzustellen war wie die Zugehörigkeit der Opfer zur „germanisch-arischen Rasse“. Damit entfiel der Grund für die Forschung; unter Günther Franz wurde das Forschungsvorhaben, wie Behringer zeigt, seit 1939 zugunsten anderer „Gegnerprojekte“ mehr und mehr „abgewickelt“.
In weiteren vier Beiträgen gehen Gerhard Schormann, Walter Rummel, Wolfgang Behringer und Hans Sebald der Frage nach, inwieweit die Kartothek für die moderne Hexenforschung ein nützliches Hilfsmittel ist. Die Ergebnisse fallen für die einzelnen Regionen und „SS-Forscher“ unterschiedlich aus. So kommt Rummel für die sponheimischen und kurtrierischen Gebiete zu einem „vernichtenden“ Urteil: Verwechslungen, Mehrfachzählungen und Lesefehler der Kartothek führten hier zu erheblichen Fehlern, so daß man allein auf der Grundlage der Kartothek zu völlig falschen Schlüssen käme. Behringer und Sebald betonen hingegen den Wert dieser ersten quantifizierten Arbeit zum Hexenthema, die für Bayern und das Fürstbistum Bamberg zwar ebenfalls nicht zuverlässig sei, deren Fehler sich aber gegenseitig in etwa ausglichen. Die Kartothek könne daher Grundlage einer Quantifizierung sein, müsse aber immer anhand der Quellen verifiziert werden.
In zweierlei Hinsicht wird der Kartothek eine methodische Stärke zugesprochen. Zum einen habe der „H-Sonderauftrag“ mit der Einbeziehung der sozialen Dimension methodisches Neuland betreten, nach der erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder gefragt werden sollte (S. 145). Zum anderen habe er erstmals eine Quantifizierung der Hexenforschung betrieben. Beide Stärken resultieren aber aus der eigentlichen Schwäche des Forschungsvorhabens, seiner ideologischen Vorgaben. Die soziale Dimension kam nur in den Blick, weil man Hinweise auf einen Vernichtungsschlag gegen die „germanische Rasse“ brauchte, und auch die Quantifizierung war letztlich bloß deshalb notwendig, weil man sozusagen den Blutzoll errechnen wollte, den das deutsche Volk in der Hexenverfolgung zu zahlen hatte und den man jetzt zurückfordern wollte. Hier drängt sich die Frage auf, ob Quantifizierung generell eine sinnvolle Forschungsmethode ist oder ob man nicht mit weniger, aber besser ausgewähltem und bearbeitetem Material ein genaueres Bild von den Hintergründen der Hexenverfolgung erhält.
Die facettenreiche Publikation zeigt exemplarisch, daß das Interesse der Wissenschaft an bestimmten Themen zeitgeschichtlich bedingt ist. Das gilt auch für die moderne Hexenforschung. Hinter der Beschäftigung mit den Hexenprozessen stehen auch heute ganz bestimmte zeitgeschichtliche Fragen: Die feministische Forschung sucht in den Hexenprozessen die Unterdrückung der Frau, kirchenkritische Kreise eine „Schuld der Kirche“. Für die Juristen ist die Hexenforschung als negatives Gegenbild wichtig, und zwar in doppelter Hinsicht: Hexenforschung kann zeigen, daß trotz scheinbar zwingender Nutzenerwägungen Grundsätzliches gegen die Anwendung der Folter spricht. Und sie kann dafür stehen, daß der moderne, bloß auf äußere, kausal wirksame Handlungen bezogene Verbrechensbegriff nicht wieder verwässert werden darf. Die Geschichtsschreibung sollte sich dieser Zeitbezogenheit immer bewußt sein.
Basel Harald Maihold