Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, hg. v. Blickle, Peter/Kissling, Peter/Schmidt, Heinrich Richard, red. v. Schüpbach, Andrea (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Klostermann, Frankfurt am Main 2003. XV, 595 S.
In seinem
brillanten Vorwort zu dem überaus lesenswerten und lehrreichen Band weist Peter
Blickle, auf dessen akademische Arbeit im Historischen Institut der Universität
Bern das Gemeinschaftswerk zurückgeht, mit Grund darauf hin, daß „gute Policey“ – ein aus den
Quellen gezogener Begriff – die Schlagworte Sozialdisziplinierung und
Absolutismus als Paradigmen zur Beschreibung der Frühen Neuzeit während der
letzten Jahre zunehmend verdrängte. Das Wort wurzelt etymologisch in „Politik“
und bedeutet – streng aristotelisch – die Kunst, gute Gesetze zum Besten der
Allgemeinheit zu machen mit einer gleichfalls gemeinwohlorientierten
Verwaltung. Die deutschsprachigen Entsprechungen heißen Ordnung und Ordnung
schaffen. Inhaltlich geht es um Verfassung, Frieden, Landwirtschaft, Forst und
Jagd, um Handel und Gewerbe, Geld- und Kreditwesen, um den Status der Juden, um
Armut und Bettel, Religion, Ehe und Familie.
Die Beiträge des
Sammelbandes gelten dem oberdeutschen Raum, der Schwaben und die Schweiz
einschließt, und dem 16. Jahrhundert. In jenem Oberdeutschland mit seinen
kleinen Territorien, seinen Kloster- und Adelsherrschaften, seinen
Reichsstädten, seinen reichsunmittelbaren Talschaften und Ländern, in jenem
buntscheckigen Oberdeutschland mit seinen geistlichen und weltlichen
Obrigkeiten, städtischen und ländlichen Gebieten, katholischen, lutherischen
und reformierten Territorien, fürstlich und republikanisch verfaßten
Räumen bewirkten „die Policeyen“ eine Transformation, die sich als eine solche
von Herrschaft in Staat charakterisieren ließe – ein Prozeß,
der sich im wesentlichen während des 16. Jahrhunderts vollzog. Weithin galten
nun neue Landes- und Policeyordnungen, Landrechte
und– bücher: umfassende Regelwerke, die einen
öffentlichen Raum schufen, den die Herrschaften des Mittelalters in dieser
Dimension und Intensität nicht gekannt hatten und der „Problemlagen und
Erwartungen der Zeit sein Entstehen verdankt, deren letzte Gründe noch nicht
hinreichend deutlich sind“ (Blickle, S. XI). Jedenfalls sind „die Policeyen“
nicht allein das Werk der Obrigkeiten. Ihre Legitimation gewinnen sie, indem
sie sich in den Präambeln auf die Ehre Gottes und den Gemeinen Nutz berufen.
Bevor der
dreiteilige Band das erarbeitete Material editorisch aufbereitet, darbietet und
teils nach regionalen Fallstudien, teils nach systematischen Kategorien
gruppiert, gibt Andreas Hieber einen
Forschungsüberblick: Policey zwischen Augsburg und
Zürich. Er zeigt die Lückenhaftigkeit des historischen Bildes und die
Unausgeschöpftheit der reichlich fließenden Policeyquellen:
eine neugierig machende Begründung für die nun vorliegenden Aufarbeitungen der Policeymaterie.
Der erste Teil
enthält die Landesordnung des Fürststifts Kempten:
Edition, Kommentar und Einordnung. Der von Peter Kissling
mustergültig edierte Text (S. 34-152), gegen Ende des 16. Jahrhunderts
redaktionell zu einem keineswegs definitiven Abschluß
gekommen, stand gut zweihundert Jahre in Gebrauch – ein umfassendes Regelwerk,
das Recht und Sitte farbig widerspiegelt. Kleinere Aufsätze verschiedener
Autoren analysieren einzelne Stücke der Landesordnung, bevor der Editor den
Vergleich mit der Reichsstadt Kempten anstellt, wobei er erhebliche Unterschiede
konstatiert, und Lucas Marco Gisi den Zusammenhang
mit der reichspoliceylichen Normsetzung untersucht
mit dem Ergebnis: „der Höhepunkt der Interaktion als Rückwirkung auf die
Territorien liegt bei der Ordnung von 1548“ (S. 316).
Der zweite Teil
des Buches liefert regionale Fallstudien, die insgesamt eine hohe Akzeptanz der
Policeygesetzgebung und -verwaltung bei den
Untertanen, den Normadressaten, zeigen können. Für die Kantone Appenzell und
Glarus (Philipp Dubach) will dieser Befund um so eher
einleuchten, als an der Gesetzgebung die Gesamtheit der erwachsenen Männer
teilnahm. Wenngleich weniger stark ausgeprägt, zeigt sich diese Akzeptanz auch
in der Klosterherrschaft Ochsenhausen (Laurenz Müller), in der die Untertanen
Freiheit und Eigentum in Gestalt von Rechtsgarantien genossen, sogar im Amt
Rettenberg-Sonthofen des Hochstifts Augsburg (Philipp Dubach),
wo langezeit Konflikte schwelten. Beiträge zur Wirtschaftspolicey des Landes Glarus im 16. Jahrhundert
(Adrian Bürki) und zu den Zürcher Policeymandaten
im Spiegel zwinglischer Sozialethik (Arman
Weidenmann) beschließen den zweiten Teil.
Der dritte gilt
den normativen Aspekten der guten Policey, nachdem
bereits die Fallstudien ihrerseits systematische Fragen aufgenommen hatten.
Praxis und Theorie der Policey begründeten die
Ordnungen mit dem „Gemeinwohl“ (bonum commune), der umfassenden, allgemeinen und höchsten
Legitimation der Normen. Den Zusammenhang zwischen Policey
und bonum commune hat
zuerst Hans Maier am Beispiel der Polizeiwissenschaft dargestellt. Sein
reizvoller wissenschaftsgeschichtlicher Essay: Polizei als politische Theorie
zu Beginn der Frühneuzeit beschließt den Band. „Unterscheidet man mit Kant (und
Goethe) die spezifischen Wirkungen der Polizei - Disziplinierung, Kultivierung,
Zivilisierung -, und hält man sich zugleich den Zusammenhang staatlicher
Ordnungsvorgaben und bürgerlicher Selbsterziehung vor Augen, dann zeigt sich, daß Begriffe wie <Sozialdisziplinierung> oder – noch
gröber - <Gewalt> für den Prozeß der <Policirung> von Gesellschaften zu grob und vordergründig
sind. Die Sprache der Quellen ist sehr viel konkreter, differenzierter und
sachnäher. Ihr gilt es sich wieder zu nähern, wenn man teleologische
Fehlschlüsse – und damit historische Fehlurteile - vermeiden will“ (S. 574).
Diese Schlußsätze bestätigt das ganze Buch.
Die alte Frage
Hans Maiers nach den Anfängen des Begriffs Policey
erfährt durch Blaise Kropf eine Antwort: die Spuren führen zurück in das
Frankreich des 14. Jahrhunderts. Als gemeinwohlorientiert
tritt die Policey dort augenfällig hervor, wo sie
Nachhaltigkeit für sich geltend machen kann, so bei der Nutzung und Pflege des
Waldes, einer knappen Ressource (Peter Kissling).
Peter Blickle bestätigt den Zusammenhang von Untertaneninteressen und Policeygesetzgebung im Blick auf das Recht der Bauern und
Bürger, sich zu beschweren und zu supplizieren. Er
schreibt von „der Staatsbildung aus dem Gesetz, gekleidet in den Begriff der
Polizei“. „Indem mit den Forderungen der Untertanen auch deren
Legitimitätsmuster in der Figur des Gemeinen Nutzens übernommen wurden, konnte
die Obrigkeit als eine solche erscheinen, die integrierend tätig geworden war“
(S. 568 f.).
Originell ist
neben anderem der Untertitel des Bandes, der auf die Schaffung eines
öffentlichen Raumes über Gesetze hinweist. „Trat jetzt der Bauer und der Bürger
aus seinem Haus, bewegte er sich in jenem Raum des Öffentlichen, den die
Ordnungen mit ihren Normen erst geschaffen hatten“ (Blickle, S. VIII). Gewiss
besteht, wo Recht und Rechtspflege sich abspielen, immer Öffentlichkeit, man
denke an Gerichtslinden, Gerichtslauben, Richtstätten. Aber im Zeichen der Policey erst erreichte der öffentliche Raum seinen modernen
Charakter. Mit seinem Reichtum an Aufschlüssen und Gedanken kann das Buch als
Standardwerk gelten.
Heidelberg Adolf
Laufs