Gschwend,
Lukas, Studentenmord von Zürich. Eine kriminalhistorische und
strafprozessanalytische Untersuchung über die unaufgeklärte Tötung des
Studenten Ludwig Lessing aus Freienwalde (Preußen) am 4. November 1835.
Zugleich ein Beitrag zur Erforschung der politischen Kriminalität im Vormärz.
Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2002. 476 S., 19 Abb.
1. Die Zürcher Habilitationsschrift von 2001 hat ein Thema
zum Gegenstand, das man gemeinhin in mehr oder minder bekannten Sammlungen
historischer Kriminalfälle ‑ etwa nach Art des Pitaval ‑ vermutet.
Stehen doch im Mittelpunkt der Darstellung die Tötung des preußischen
Jurastudenten Ludwig Lessing am 3. November 1835 in Enge bei Zürich, die -
vergeblichen - Bemühungen der Zürcher Polizei und Justiz um Aufklärung der Tat
sowie der politische und gesellschaftliche Hintergrund des ganzen Geschehens.
Namentlich der letztere Hinweis deutet bereits an, dass die Quellenstudie Lukas
Gschwends sich nicht auf die Schilderung und Analyse der kriminalistischen,
prozessualen und strafrechtlichen Aspekte des Falles selbst beschränkt.
Vielmehr ist die Untersuchung methodisch wie inhaltlich der neueren
kriminalhistorischen Forschung verpflichtet, welche die Kriminalität und ihre
Kontrolle im politischen und sozialen Umfeld der entsprechenden Zeit verortet.
So erklärt sich auch der Umstand, dass der Verfasser nicht nur explizit diesen
interdisziplinären Ansatz für sich reklamiert, sondern auch demgemäß jenen
Rahmenbedingungen ausgiebige Aufmerksamkeit zuteil werden lässt.
Freilich macht das allein noch nicht den Umfang des Werkes
verständlich, der - gemessen an einer Falldarstellung - prima facie
unverhältnismäßig erscheinen mag. Doch hat Gschwend seiner Untersuchung eingehende
Quellenstudien zugrunde gelegt, die praktisch gedruckte wie ungedruckte
Dokumente aus dem ganzen deutschsprachigen Raum - von Zürich über Berlin bis
Wien - einbezogen haben (S. 433-446). Fülle und Vielfalt des ausgewerteten
Materials werden etwa dadurch veranschaulicht, dass nicht nur alle zugänglichen
Akten über das Tatopfer selbst und sein Umfeld sowie die einschlägigen Zürcher
Kriminalakten - in denen Gutachten und Protokolle über Einvernahmen eine maßgebliche
Rolle spielen - berücksichtigt wurden, sondern auch zeitgenössische Medien (z. B.
Presseberichte), die Geschichtsschreibung und die rechts- und
kriminalwissenschaftliche Literatur jener Epoche. Natürlich fehlen auch
Bezugnahmen auf kriminalhistorische Falldarstellungen und Vergleiche mit ähnlich
gelagerten Fällen keineswegs.
Wie groß der Kreis der Personen ist, der entweder mit dem
Tatopfer selbst in Verbindung stand oder wenigstens gebracht wurde oder bei
denen es sich um geschichtliche Gestalten handelt, deren Wirken zum näheren
Verständnis des politischen und sozialen Hintergrundes Eingang in die
Darstellung fand, lässt sich bereits am einschlägigen Verzeichnis ablesen (S.
471-476). Das Bestreben Gschwends, das zeitgeschichtliche Panorama zu erhellen,
wird auch am beachtlichen Anhang sichtbar, der außer Briefen Lessings (S. 285-298)
und Biographien teilweise weniger bekannter zeitgenössischer Persönlichkeiten
(S. 271-284) Auszüge aus Statuten jener Organisationen wiedergibt, die (wie z.
B. das Junge Deutschland, die Junge Schweiz und das Junge Europa) in der Ära
Metternichs unter mehr als bloßem Verdacht staatsfeindlicher Umtriebe standen.
2. Die weitausgreifende Studie ist in neun Teile gegliedert.
In der Einleitung skizziert Gschwend Zielsetzung, Methode und Quellen seiner
Arbeit. Dem folgt eine Darstellung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes, in
dem der Kriminalfall angesiedelt ist. Hier kommt nicht nur die seinerzeitige
Organisation der Zürcherischen Strafrechtspflege - insbesondere das
Strafrechtspflegesetz von 1831 mit seinen Neuerungen - zur Sprache, sondern
auch und vor allem die politische Situation, die sowohl für die Ermittlungen
der Zürcher Organe als auch für Ansätze zur Erklärung und zum Verständnis der
Tat - aus der damaligen wie der heutigen Sicht - bedeutsam geworden ist. Dazu
zählen etwa die Demagogenverfolgungen in den Staaten des Deutschen Bundes, die
Tätigkeit staatskritischer und revolutionärer Vereinigungen - deren Mitglieder
ja angesichts ihrer Verfolgung häufig in die Schweiz flüchteten, um dort ihr
Wirken fortzusetzen, was wiederum ganze Scharen von Agenten, Konfidenten und
Spitzel anzog - und die Schweizer Flüchtlingspolitik selbst, die in mehr oder
minder gelungener Weise das heikle Spannungsverhältnis zwischen Liberalität und
Frieden im Inneren sowie Verständigung mit dem Ausland auszubalancieren suchte.
Das neue Zürcher Strafprozessrecht, das im Fall Lessing zum Zuge kam, zeichnete
sich - ungeachtet aller Lückenhaftigkeit und Unvollkommenheit - durch relativ
moderne, rechtsstaatliche Züge aus - namentlich was die Regelung der
Rechtsstellung des Beschuldigten anlangte (z. B. Voraussetzungen der
Untersuchungshaft). Die Anwendung dieses Rechts sollte offensichtlich den
zahlreichen Personen zugute kommen, die in diesem Falle nach und nach in den
Verdacht der Tatbegehung oder wenigstens der Teilnahme gerieten: Keine von
ihnen wurde denn auch wegen des Tötungsdelikts verurteilt.
An dieses Kapitel schließt sich eine Wiedergabe des Sachverhalts
selbst an - soweit er sich aus den verfügbaren Quellen rekonstruieren ließ. Danach
war Lessing seit dem Wintersemester 1834/35 an der jungen Zürcher Universität
als Jurastudent immatrikuliert. Am 3. November 1835, seinem 23. Geburtstag -
der ja zugleich sein Todestag war - begegnete er dem Vernehmen nach
verschiedenen Personen, nicht zuletzt Bekannten. Abends verlor sich dann seine
Spur - in jedem Sinne des Wortes - im Dunkeln. Am nächsten Morgen wurde er in
Enge, offensichtlich als Opfer mehrerer Messerstiche, tot aufgefunden.
Die Strafuntersuchung, die nunmehr folgte, bildet - samt den
politischen und sozialen Hintergründen des Falles - den Schwerpunkt der
weiteren Darstellung, in deren Zentrum namentlich zahlreiche Vernehmungen durch
den Verhörrichter Hans von Meiss stehen. In drei Schritten nähert sich Gschwend
seinem komplexen, wenig übersichtlichen Gegenstand und hellt ihn auf, soweit
dies die zwar umfänglichen und vielseitigen, aber keineswegs durchweg klärenden
Quellen hergeben.
Zunächst schildert er den Ablauf der Kriminaluntersuchung
samt den verschiedenen Versionen des Tathergangs und -motivs, die im Rahmen der
Ermittlungen eine Rolle spielten. Dann diskutiert er an Hand seines Materials
die Frage, die schon damals während der Untersuchung und in einschlägigen
Presseberichten ventiliert wurde: ob es sich bei der Tat um einen politischen
Mord gehandelt hat. In einem dritten Schritt verfolgt Gschwend den Fortgang der
Ermittlungen, der gerade unter dem Vorzeichen politischer Zusammenhänge des
Falles mit Agenten- und Spionagetätigkeit stand. Hier wird denn auch die ganze
Verwicklung von Tat und Untersuchung in jene zeitgeschichtlichen Umstände
deutlich, welche die Metternich’sche Restaurationsphase kennzeichnen: die
Verfolgung demokratischer und liberaler Bestrebungen und Organisationen durch
den Deutschen Bund, die Versuche politischer Flüchtlinge, in der Schweiz Fuß zu
fassen und ihre Tätigkeit fortzusetzen sowie deutscher Staaten, den
Flüchtlingen nachzuspionieren, wenn nicht sogar ihnen im Ausland das Handwerk
zu legen, und die Bemühungen kantonaler Behörden, mit den aus alledem
resultierenden Problemen - wie auch immer - fertig zu werden. Auch als die
Hoffnung bereits illusorisch erschien, den Kriminalfall doch noch aufklären zu
können, tauchten - gleichsam „in letzter Minute“ (S. 212f.). Hinweise auf,
welche die Verfolgung weiterer Spuren zu ermöglichen schienen; doch mündeten
auch diese Ermittlungen letztlich in einem non liquet.
Gschwend fährt nun in seiner weiteren Darstellung nicht mit
der Wiedergabe des Urteils des Criminalgerichts fort, welches das
Hauptverfahren gegen das tatverdächtige Ehepaar von Eyb, namentlich gegen Carl
August Baron von Eyb alias Zacharias Aldinger, mit einem Freispruch
hinsichtlich der Teilnahme am Mord beendete. Vielmehr analysiert er vorab in
kritischer Absicht die Ermittlungen, die dem Hauptverfahren vorausgegangen
sind. Sie erklären denn auch, weshalb es überhaupt zur Anklageerhebung gegen
jenes Ehepaar kommen konnte. Schließlich stand der zwielichtige, angebliche
Baron von Eyb seit Juni 1834 als Polizeispitzel in österreichischen Diensten
und passte nach seinen bisherigen Lebensumständen und Kontakten mehr oder
minder gut in die immer wieder von Neuem auflebende Version vom politischen
Mord.
3. Gschwends kritische Auseinandersetzung mit Anlage und
Qualität der Untersuchungen belegt auf nachdrückliche Weise, weshalb ihnen der
Erfolg versagt blieb, ja bleiben musste. Es ist eine ganze Reihe von Gründen,
die er dafür ins Geld führen kann. Sie reicht von Defiziten „der
verhörrichterlichen Untersuchungsleistung“ (S. 215ff.), namentlich Mängeln der
Vernehmungstechnik (z. B. untaugliche Einvernahmen), über „Aussage-Blockaden“,
dem beharrlichen Schweigen von Zeugen und Beschuldigten (z. B. deutscher
Flüchtlinge), Vorenthaltung amtlicher Informationen (etwa als Folge
unzureichender Kooperation zwischen beteiligten Behörden), politischer
Einflussnahme auf das Verfahren (S. 222ff.) bis hin zur Vernachlässigung
bestimmter, nach Sachlage in Betracht kommender Ermittlungsrichtungen (S.233
ff.).
Das war beileibe nicht alles dem damaligen Stand der
Kriminal- und Vernehmungstechnik geschuldet; jedenfalls hätten etliche Mängel
bei entsprechender Gründlichkeit und Sorgfalt sowie natürlich bei entsprechend
gutem Willen der Beteiligten (und Betroffenen) - wie der Verfasser im einzelnen
darlegt - sehr wohl vermieden werden können. Manche der kritisierten
Ermittlungsschritte verweisen auf die alte, bis heute relevante
kriminalistische Erfahrung, dass die vorschnelle Festlegung auf bestimmte
Szenarien des Tatgeschehens zwangsläufig zu einer verhängnisvollen Einengung der
Untersuchungsperspektive führt. Freilich bleiben auch Zweifel, ob die
Ausschöpfung sämtlicher Möglichkeiten, die der Polizei, Staatsanwaltschaft und
dem Gericht damals zu Gebote standen, eine restlose Aufklärung des
Tötungsdelikts verbürgt hätten.
Das Hauptverfahren vor dem Criminalgericht, dessen Urteil
gleichsam den Schlussakkord hinter langwierige und - im Ganzen - wenig
überzeugende Ermittlungen setzte, legte folgerichtig gleichfalls von deren
Mängeln Zeugnis ab. So wurde z. B. der Vorwurf des Landesverrats nicht
thematisiert. Der Hauptangeklagte Aldinger wurde lediglich wegen Fälschung
öffentlicher Urkunden, Anmaßung fremden Familienstandes und Ungehorsam gegen
amtliche Verfügungen zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, aber
alsbald nach der gerichtlichen Entscheidung aus der Haft entlassen. Das Urteil
selbst - das gedruckt und publiziert wurde (sowie in seinem maßgeblichen Teil
in Gschwends Studie wiedergegeben ist) - bot der zeitgenössischen Presse
reichlichen Anlass zu Kommentaren, vor allem aber einmal mehr zu Hypothesen und
Spekulationen hinsichtlich des mutmaßlichen Tatgeschehens. Bezeichnenderweise
gab es aber auch hernach noch ein Nachspiel: Ein Flüchtling bezichtigte sich
selbst der Tatbegehung; doch erschien sein Geständnis wenig glaubhaft. „Zu
einer Wiederaufnahme des Verfahrens sollte es nie kommen.“ (S. 265)
4. Der damalige Kriminalfall und dessen Einbettung in sein
politisches, soziales und wissenschaftliches Umfeld lässt der Studie Gschwends
zufolge in wenigstens dreierlei Hinsicht eine bemerkenswerte Modernität
erkennen: Zum einen äußert sich darin jene - keineswegs nur rechtliche -
Problematik, die bis heute unter dem Vorzeichen des V-Mannes und des UCA (i. e. Under-Cover-Agenten) Geheimdienste,
Polizei und Justiz beschäftigt. Zum anderen spielen in jenem Fall Emigrantendasein
und Asylpolitik - der Schweiz - eine unübersehbare Rolle. Schließlich wird
darin - zumindest ansatzweise die gesellschaftliche und rechtspolitische
Bedeutung der Öffentlichkeit - namentlich in Gestalt der Presse - sichtbar.
Sämtliche drei Aspekte weisen naturgemäß jeweils rechtliche Bezüge auf,
erschöpfen sich aber nicht in ihnen, weil sie eben im zeitgeschichtlichen
Kontext verankert sind. Im historischen Rückblick fällt auf, dass und in
welchem Maße das zeitgenössische Zürcherische Prozessrecht - eben das kantonale
Strafrechtspflegegesetz von 1831- und dessen doch recht normgetreue Anwendung
rechtsstaatliche Züge getragen haben - nicht zuletzt mit der Konsequenz, dass
dadurch immerhin Justizirrtümer zu Lasten Beschuldigter und Angeklagter
vermieden worden sind.
Wir haben es hier mit dem nicht eben häufigen Fall zu tun,
dass eine rechtsgeschichtliche Studie ungeachtet ihres wissenschaftlichen
Zuschnitts und Anspruchs auch für juristische Laien leicht zugänglich, vor
allem gut lesbar ist. Das ist sicher dem Gegenstand selbst, aber auch der Art
seiner stofflichen Aufbereitung und sprachlichen Gestaltung zu verdanken.
Wiedergabe und Deutung des Geschehens bergen zugleich jene Spannungsmomente,
welche die Ingredienzen einer Fallschilderung - jenseits ihrer
wissenschaftlichen Relevanz - ausmachen.
Gschwends Studie besticht durch Akribie, Detailmalerei und
kombinatorische Phantasie. Darstellung und Analyse des Geschehens zeichnen sich
gerade durch jene Qualitäten aus, die den Untersuchungen des von ihm
geschilderten Kriminalfalles abgegangen sind: durch Gründlichkeit, Sorgfalt und
Gespür für die weitverzweigten politischen und gesellschaftlichen
Zusammenhänge, die der Zürcher Studentenmord erkennen lässt. Die Arbeit
Gschwends löst zwar das kriminalistische Rätsel gleichfalls nicht, vermag aber
an Hand der subtilen Auswertung der verfügbaren Quellen die Defizite und
Versäumnisse der Ermittlungen sowie die mehr oder minder absichtsvolle
Vereitelung eines dem wahren Ablauf angenäherten Untersuchungsergebnisses
aufzuzeigen. Die Wahl des Gegenstandes erscheint insofern als ein Glücksgriff,
als sie Gelegenheit bot, auf der Grundlage eines vergleichsweise begrenzten
Themas einen weiterführenden Beitrag zur Rechts-, Gesellschafts- und
politischen Geschichte des Vormärz zu leisten. Damit hat die Studie einmal mehr
die Fruchtbarkeit eines interdisziplinären Ansatzes zu demonstrieren vermocht,
der sich - mit Recht - in der neueren kriminal- und sozialhistorischen
Forschung durchgesetzt hat.
Saarbrücken Heinz
Müller-Dietz