German, Cristiano, Politik und Kirche in
Lateinamerika – Zur Rolle der Bischofskonferenzen im Demokratisierungsprozeß
Brasiliens und Chiles (= americana eystettensia. Publikationen des
Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität
Eichstätt. Serie B Monographien, Studien, Essays 9). Vervuert, Frankfurt am
Main 1999. 515 S.
Die gedruckte Fassung der Habilitationsschrift des Autors
Christiano German erweitert als Band 9 die Reihe der bisherigen Publikationen
von americana eystettensia über
Geschichte, Politik und Recht der Länder Lateinamerikas und ist von
rechtshistorischem Interesse, denn die Rolle der katholischen Kirche im
Demokratisierungsprozeß wird mit ihren Licht- und Schattenseiten sehr
differenziert und nachvollziehbar in vier Kapiteln dargestellt.
In Kapitel I definiert German zunächst seine Vorgehensweise.
Er geht von zumindest drei Ressourcen aus, die es der Kirchenführung erlauben,
ihren Einfluß in autoritären Regimen erfolgversprechend zu gestalten: die
Überzeugungskraft moralischer Werte des Katholizismus, die durch die
Forderungen und Verlautbarungen der Kirche zum Ausdruck kommen; bedeutende
institutionelle Kapazitäten und Fähigkeiten, welche auf der traditionellen
Sonderstellung der Kirche als Institution im Staat und ihrer effektiven Organisationsstruktur
beruht; sowie die Druckmittel, wie etwa die Drohung bzw. Umsetzung einer
Mobilisierung der internationalen Öffentlichkeit und Presse beziehungsweise der
Vereinten Nationen zur Ächtung eines Regimes, die Verweigerung von
Gottesdiensten und religiösen Zeremonien, die Androhung und der Vollzug der
Exkommunikation als Ultima-ratio-Versuch zur Durchsetzung der Menschenrechte
(S. 35). Kapitel II mit dem Titel „Zum Wandlungspotential autoritärer
Herrschaftssysteme und der katholischen Kirche in Lateinamerika“ untersucht die
Stellung der Kirche zu den politischen Akteuren der „autoritären Regime“ in
Brasilien von 1964-1985 sowie in Chile von 1973-1989 (S. 47-183). In Kapitel
III problematisiert der Autor die Rolle der Bischofskonferenzen im Liberalisierungs-
und Demokratisierungsprozeß Brasiliens und Chiles als „Ersatzopposition“ vor
und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Reformstrategie dieser
Bischofskonferenzen zielte nach ersten Mißerfolgen bei den Bemühungen um eine
Liberalisierung und Phasen der Verhärtung der Regime grundsätzlich auf das
weitergehende Konzept der Demokratisierung hin, ohne dabei das Regime in seinem
Grunde gänzlich zu verändern. Die Länder Brasilien und Chile dienen hier als
Fallstudien für die Problembereiche von Menschenrechten, Verfassung und
Behandlung der Indianer (S. 185-406). In Brasilien setzten sich die Bischöfe
Dom Waldyr Calheiros und in Sonderheit der bekannten Dom Hélder Câmara, seit
April 1964 Erzbischof von Olinda/Recife im Staate Pernambuco, wiederholt für
die Freilassung politischer Häftlinge und gegen die Folterpraktiken ein.
Kapitel IV unterrichtet über Umfang und Auswirkungen episkopalen Handelns,
insbesondere über die oppositionelle Tätigkeit der Bischofskonferenzen im
einzelnen (S. 407-440).
Germans Literaturverzeichnis bezeugt, daß der Autor sich
sorgfältig mit den erhältlichen Quellen und der Sekundärliteratur
auseinandergesetzt hat (S. 441-492). Der Index zu Personen, Orten und
Institutionen am Schluß des Buches (S. 493-515) ist hilfreich und erlaubt ein
schnelles Auffinden der gesuchten Themata.
Der Autor arbeitet sehr gut heraus, daß die Arbeit der Kirche
von großer Bedeutung für die Bewußtseinsschaffung in Brasilien und Chile war,
eine Lösung der dortigen Indianerprobleme herbeizuführen. Seit 1970 konnte die
Kirche in nahezu zwanzigjähriger Bewußtseinsarbeit über die Schwierigkeiten der
Indianer informieren und die Regierungspolitik kritisieren. Aufgrund ihrer
Sonderstellung war sie die einzige Institution, die trotz aller Diffamierungen,
Drohungen und Gewaltanwendung dazu in der Lage war und wahrgenommen wurde. In
der Erklärung „Em favor da causa indígena“ („Für die Sache der Indianer“)
erklärten die brasilianischen Bischöfe zum Abschluß ihrer 26. Vollversammlung
im April 1988 (S. 297):
Angesichts der dramatischen Situation, in der sich die Indianervölker Brasiliens befinden, möchten wir, ... anläßlich der in kurzer Zeit stattfindenden Promulgation der neuen Verfassung einen dringenden Appell zugunsten der Indianer erlassen ...
Im Sinne des Evangeliums, das jede Kultur schätzt und zu erleuchten sucht, und im Namen des Völkerrechts bekennen wir uns erneut zu den in der pastoralen Erklärung „Für eine neue Verfassungsordnung“ verteidigten Grundrechten der Indianervölker: Recht auf kulturelle Eigenart, auf Selbstbestimmung, sowie auf ihre angestammten Territorien innerhalb des brasilianischen Staates.
Wir erwarten, daß jegliche Integrationspolitik, die die Indianer marginalisiert und ihre Identität zerstört, überwunden wird. In gleicher Weise verwerfen wir die verfängliche Unterscheidung zwischen „akkulturierten" und „nicht akkulturierten“ Indianern.
Wir fordern, vorbehaltlich des Rechtes und der Pflicht Brasiliens zur Verteidigung seiner Grenzen, die vollständige Revision des bereits in Durchführung befindlichen Projektes ,Calha Norte’, solange es die Bestrebungen der Indianer ignoriert, ihre Stammesführer kooptiert und ihre Rechte erheblich verletzt.
Zusätzlich zu diesen Dokumenten und kritischen Stellungnahmen
nutzten hohe Kirchenvertreter ihre Möglichkeiten, in persönlichen Gesprächen
mit Ministern und dem Präsidenten selbst ihren Einfluß geltend zu machen.
Wichtige Rechte der Indianer wurden daraufhin in Kapitel VIII der
brasilianischen Verfassung von 1988 aufgenommen (S. 303-304):
Art. 231. Anerkannt werden die soziale Organisation der Indios, ihre Gebräuche, Sprachen, Glauben, Traditionen und die originalen Rechte auf das Land, das sie traditionell in Besitz haben. Der Union (Bund) fällt die Aufgabe zu, die Grenzen der Landbesitze festzulegen, alle Güter der Indios zu schützen und ihnen Achtung zu verschaffen ...
§ 2. Das im traditionellen Besitz der Indios befindliche
Land ist zu ihrem dauernden Besitz bestimmt, ihnen ist die ausschließliche
Nutznießung der vorhandenen Ressourcen des Bodens, der Flüsse und Seen
vorbehalten.
§ 3. Die Nutznießung der Wasserressourcen einschließlich der
Energiepotentiale, die Erschließung und Ausbeutung der Erzstätten, soweit sie
sich auf Indio-Gebiet befinden, dürfen nur mit Genehmigung des
Nationalkongresses und nach Anhörung der betroffenen Stämme erfolgen, denen
nach Maßgabe des Gesetzes eine Beteiligung an der Schürfausbeute zugesichert
wird.
Und der wichtige § 5, der die Indios vor Vertreibung schützen
soll (S. 304):
Die Entfernung indigener Gruppen aus ihren Gebieten ist verboten, es sei denn ad referendum des Nationalkongresses im Fall von Naturkatastrophen oder Epidemien, die eine Gefährdung der Bevölkerung darstellen, oder im Hoheitsinteresse des Landes, nach Beratung im Nationalkongreß und unter Zusicherung der Garantie der Rückkehr in die Gebiete, sobald die Gefahrenlage nicht mehr besteht.
Auf die Vergangenheit bezogen schreibt § 6 vor (S. 304):
Nichtig, erloschen und rechtlich wirkungslos sind alle Akte, die Okkupation, Eigentums- und Besitznahme von Land im Sinne dieses Artikels zum Ziel haben oder die Ausbeutung der vorhandenen natürlichen Ressourcen des Bodens, der Flüsse und Seen, vorbehaltlich eines relevanten öffentlichen Interesses der Union (des Bundes) entsprechend den Regelungen eines verfassungsergänzenden Gesetzes, wobei die Nichtigkeit und das Erlöschen kein Entschädigungs- oder Klagerecht gegen die Union (Bund) schaffen, ausgenommen im Rahmen des Gesetzes für auf gutgläubigen Besitz beruhende Wertsteigerungen.
Art. 232 räumt den Indios eine Art Möglichkeit zur
„Sammelklage“ zwecks Durchsetzung ihrer Rechte und Interessen ein (S. 304):
Die Indios, ihre Gemeinschaften und Organisationen bilden Einheiten mit Klagerechten zur Verfolgung ihrer Rechte und Interessen bei umfassender Prozeßbeteiligung des Ministério Público.
Für Chile gestalteten sich die Verhandlungen der Kirche schwieriger als in Brasilien, so daß es nicht verwundert, daß die Ergebnisse zugunsten der Indianer geringer ausfielen als in Brasilien (S. 388-406). Aber auch in Chile bemühte sich die Kirche, seit dem Staatsstreich von 1973 im Dialog mit Pinochet die Rolle der abwesenden politischen Opposition einzunehmen. In seinem Buch beschreibt Christiano German die einzelnen Schritte hierzu sehr genau. Zur Charakterisierung der Rolle der Kirche in der Politik der Demokratisierung Lateinamerikas sei mit dem Autor abschließend der zentrale Satz festgehalten: „Der bescheidenste Erfolg liegt in einer vorübergehenden Humanisierung des autoritären Regimes, der größte realisierte in der verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen Demokratie.“