Fuhrmann, Martin, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 101). Schöningh, Paderborn 2002. 458 S.
Die vorliegende Untersuchung stellt die geringfügig überarbeitete Fassung der rechtswissenschaftlichen Dissertation des Autors aus dem Jahre 2000 dar. Sie verfolgt das Ziel, „die Zusammenhänge und mögliche Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungstheorie, Bevölkerungspolitik, Familien- und Ehetheorie sowie staatlicher Ehepolitik im Zeitraum von ca. 1760 bis 1870 in Deutschland zu analysieren“ (S. 12) – was allerdings hinsichtlich des Endes des Bearbeitungszeitraumes im Vergleich zum Titel eine eingehendere Begründung wünschenswert gemacht hätte. Einen Schwerpunkt bildete dabei insbesondere die Frage, wie die einzelnen Bevölkerungstheorien das Recht auf Eheschließung und die damit verbundene Frage der Ehehindernisse und -verbote thematisierten. Wenngleich die Einleitung aufgrund sprachlicher Unschärfen den Eindruck zu erwecken vermag, es würde auch die konkrete Staatenpraxis unter diesem Gesichtspunkt behandelt werden, so ist klarzustellen, daß konkrete staatliche Ehepolitik nur fallweise am Rande angesprochen wird. Im Wesentlichen wertet die Studie die vom Verfasser herangezogenen Quellen aus, wobei es sich um rund 400 naturrechtliche, kameralistische, polizeiwissenschaftliche und ökonomische Schriften sowie bevölkerungstheoretische Spezialabhandlungen handelt.
Nach einer Einleitung zu Fragestellung und Methodik, Quellen und Forschungsstand, beschäftigt sich der Verfasser zunächst mit der merkantilistischen Bevölkerungspolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (S. 23–71). Er untersucht anhand der Quellen den bekanntlicherweise hohen Stellenwert der Bevölkerung in der kameralistischen Ökonomie, die Diskussion um das Verhältnis von Bevölkerungszahl und ökonomischen Ressourcen, den im untersuchten Schrifttum vorherrschenden Optimismus hinsichtlich der Fortschrittsfähigkeit von Wirtschaft und Staat verbunden mit der Negation einer Überpopulationsgefahr, die Anfänge der wissenschaftlich-statistischen Erfassung der Bevölkerung, die konkreten Strukturelemente merkantilistischer Bevölkerungspolitik, die insbesondere in einem technisch-rationalem Zugang, einem alle Lebensbereiche umfassenden Staatsinterventionismus und einer die Interessen des Individuums vernachlässigenden Staatswohl-Maximierung bestanden. Nach der Darstellung eines frühen Kritikers des Populationismus wendet sich der Verfasser den mit „améliorisation“ bezeichneten qualitativen Aspekten merkantilistischer Bevölkerungspolitik zu, deren Interesse bloß der Vermehrung von gesunden und damit dem Staat nützlichen Individuen galt. Er zeigt sodann auf, daß die Bevölkerungsvermehrung als Hauptgrundsatz der Staatswissenschaft anzusehen und der Bevölkerungspolitik eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des modernen Staates zuzuweisen ist, wobei diese staatstheoretisch nicht hinterfragt, sondern nur lapidar mit dem Staatszweck einer zahlreiche Population voraussetzenden Förderung der allgemeinen Wohlfahrt legitimiert wurde.
In einem zweiten Abschnitt skizziert der Verfasser sodann die in den untersuchten Schriften formulierten Auswirkungen der merkantilistischen Bevölkerungspolitik auf Ehe und Familie (S. 72–114), wobei im Mittelpunkt der bevölkerungspolitischen Forderungen konsequenterweise die Steigerung der Verehelichungsquote und damit eine Instrumentalisierung der Ehepolitik für staatliche Zwecke stand. Die große Bedeutung der absolutistisch-bevölkerungspolitischen Ambitionen für die Ehepolitik wird anhand einiger Aspekte der theoretischen Ehedebatte vorgeführt: zunächst anhand einer Analyse der bevölkerungspolitischen Relevanz der Ehezwecklehre mit ihrer Fixierung auf den Fortpflanzungauftrag, der schließlich als „Untertanenpflicht“ postuliert wurde – für welche „Kaninchenethik“ der Verfasser auch humoristisch wertvolle Beispiele anführt – und zu einer völligen „Verpolizeylichung“ und staatlichen Funktionalisierung der Sexualität mit verstärkter Verfolgung von Prostitution, Pönalisierung der Abtreibung sowie Diskreditierung von Ehe- und Kinderlosigkeit führte. Schließlich führt der Verfasser die Verknüpfung der beginnenden deutschen Eugenik mit der Ehepolitik vor – propagierten doch zahlreiche medizinalpolizeiliche Schriften eugenische Ehehindernisse als Präventivinstrumente einer Züchtung nützlicher Untertanen – und erörtert anhand des Schrifttums die Forderungen nach Abschaffung bestimmter Ehehindernisse, vor allem des geistlichen Zölibats, der Eheverbote für Soldaten und Arme bzw. Mittellose.
Im dritten Kapitel (S. 115–127) untersucht der Verfasser die tiefgreifend unterschiedliche Sicht von Ehe und Bevölkerung bei den Physiokraten, welche den bevölkerungspolitischen Staatsinterventionismus als Störung der natürlichen Ordnung betrachteten und daher auch eine aktive staatliche Ehepolitik ablehnten. Die mit dem Aufkommen liberaler Ideen gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbundene Wende in der Bevölkerungspolitik und -theorie zeigt der Verfasser sodann im vierten Kapitel (S. 128–167). Wie er vorführt, rückte nun die Frage einerseits nach den Gefahren einer Überpopulation und andererseits nach der Rechtmäßigkeit staatlicher Eingriffe in den demographischen Prozeß in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Er stellt zunächst den radikalsten Kämpfer gegen die absolutistisch-merkantilistische Bevölkerungspolitik bzw. -theorie, A. F. Lueder, vor, präsentiert dann das Spektrum derjenigen Autoren, die nicht für eine gänzliche Abschaffung der Bevölkerungspolizei eintraten, sondern eine negative Bevölkerungspolitik durch Beseitigung existierender Hindernisse propagierten, wobei er den Wandel der bevölkerungspolitischen Anschauungen im Aufkommen des Liberalismus in der politischen und ökonomischen Theorie begründet sieht, dessen Strukturelemente und Determinanten in weiterer Folge aufgezeigt werden. Vor allem die Kritik des Staatszweckes der Glückseligkeit als Einfallstor absolutistischer Bevormundungen und die Neuformulierung der Staatsaufgaben sowie die Trennung von Staat und Gesellschaft werden als wesentliche Erklärungsmodelle für den propagierten Teilrückzug des Staates aus der Bevölkerungspolitik genannt.
Im fünften Kapitel (S. 168–205) behandelt der Verfasser sodann die Auswirkungen der liberalen Ideen auf die Eherechtskonzeption der von ihm ausgewerteten Autoren, die in einer Ablehnung direkter staatlicher Eheförderungen, der Bestrafung freiwilliger Ehelosigkeit sowie einer rechtlichen Heiratspflicht bestanden, und mit der Absage an eine Instrumentalisierung der Ehe für staatliche Zwecksetzungen verbunden war. Vielmehr wurde nun das Recht auf Eheschließung und Fortpflanzung als Menschenrecht postuliert, das weitestgehend von staatlichen Eingriffen frei zu halten sei. In Zusammenhang damit veränderten sich auch die Ehezwecklehren, freilich ohne daß von 1790 bis weit in das 19. Jahrhundert ein allgemein akzeptiertes Modell vorgelegen hätte. Wie der Verfasser vorführt bestanden mindestens drei konkurrierende Ehekonzeptionen nebeneinander, die aber alle in der Fortpflanzung nicht mehr den alleinigen und/oder wichtigsten Ehezweck erblickten, womit die Ehe als Vehikel der Bevölkerungspolitik an Bedeutung verlor.
Da sich die liberale Bevölkerungstheorie nicht uneingeschränkt durchsetzte, untersucht der Verfasser im sechsten Kapitel (S. 206–283) eine breite Strömung des Schrifttums, das als Alternative zum Liberalismus starke Kontinuitäten zur reformabsolutistischen Bevölkerungs- bzw. Ehepolitik insofern aufwies, als insbesondere die administrative Regulierung der Eheschließungen und die staatliche Steuerung des Reproduktionsverhaltens weiter postuliert wurden. Der Verfasser zeigt daher zunächst das Fortleben der Theorie einer aktiven staatlichen Bevölkerungspolitik am Beispiel von vier Autoren (G. H. von Berg, A. Eisenhuth, W. J. Behr, R. von Mohl) und analysiert sodann die Gründe für die Fortexistenz inventionistischer Ehe- und Bevölkerungspolitik, die er vor allem in einer Reaktivierung des Interventionsstaates vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Krise des Vormärz, in einer Veränderung der Staats- und Gesellschaftslehre hin zu einer (Wieder)Ausdehnung des staatlichen Aktionsfeldes sowie in einer „Verstaatlichung“ von Ehe und Familie erblickt.
Er behandelt weiters die bedeutende Rolle der Bevölkerungsstatistik in diesen Schriften und führt anhand medizinalpolitischer Literatur vor, daß mit der liberalen Zeitwende keineswegs der Ruf staatlicher Einflußnahme im Hinblick auf eine qualitative Verbesserung der Population verstummt war und insbesondere eine konsequente eugenische Ehepolitik weiterhin im Mittelpunkt der medizinalpolitischen Überlegungen stand.
Das letzte Kapitel (S. 284–423) ist dem vom Anti-Etatismus geprägten, prototypisch liberalen Bevölkerungsgesetz von Malthus gewidmet, das zunächst ausführlich dargestellt wird. Es folgt eine Analyse der Malthus-Rezeption in Deutschland, die bis etwa 1870 reicht. Besondere Berücksichtigung finden dabei die jeweiligen Auffassungen im Schrifttum zum Eheschließungsrecht und zur Fortpflanzungsfreiheit, wobei die Malthus-Anhänger – in „echte“, liberalinterventionistische, konservative und „kathedersozialistische“ Malthusianer unterschieden – ihren liberalen Widersachern gegenübergestellt werden. Den Abschluß des Bandes bilden eine Zusammenfassung und ein reichhaltiges Quellen- und Literaturverzeichnis. Auf Indizes hat der Verfasser bedauerlicherweise verzichtet, zumindest aber ein Personenverzeichnis, dessen Erstellung in Zeiten der Textverarbeitungsprogramme nun wahrlich einfach gewesen wäre, hätte die Auffindbarkeit von einzelnen, oft in diversen Kapitel besprochenen Autoren erheblich erleichtert.
Inhaltlich gesehen fällt auf, daß der Verfasser der Kehrseite von Ehepolitik, nämlich der Frage der Produktion von unehelicher Nachkommenschaft mit ihren unerfreulichen rechtlichen Begleitumständen nur marginal Beachtung schenkt, obzwar hier wohl interessante Entwicklungsstränge in Korrelation zur staatlichen Bevölkerungs- bzw. Ehepolitik festzustellen wären. Wünschenswert wäre auch eine Kontrastierung der vom Verfasser dargestellten Bevölkerungstheorie mit zumindest den Grundzügen konkreter staatlicher Ehe- bzw. Bevölkerungspolitik gewesen, aber dies hätte wohl den Rahmen der Dissertation gesprengt.
Hinsichtlich der inhaltlichen Gliederung erscheint es als nicht ganz verständlich, warum die Malthus-Rezeption abgekoppelt von den die liberalen Ehe- und Bevölkerungspolitik und ihre Auswirkungen bzw. Alternativen behandelnden Kapiteln untersucht wurde, da dies die ansonsten chronologische Struktur ohne erkennbare Vorteile durchbricht. Ein wenig störend empfindet die Renzensentin auch die vielfachen inhaltlichen Redundanzen, die durch regelmäßige Zusammenfassungen an Kapitelanfängen und -enden entstehen. Freilich mag aber vielleicht gerade dieser Stil dem Leser ohne bevölkerungstheoretisches Vorwissen die Lektüre erheblich erleichtern.
Ungeachtet der genannten Kritikpunkte muß jedoch die Arbeit als eine sehr anregende, mit Gewinn auch für Rechtshistoriker lesbare Arbeit bezeichnet werden, die streckenweise sogar notgedrungen humoristische Aspekte hat, wenn sie nämlich so manch sonderbare Ansicht einzelner Autoren wörtlich wiedergibt.
Wien Ilse Reiter