Fasel, Urs, Handels- und obligationenrechtliche Materialien. Haupt, Bern 2002.
XXXIII, 1735 S.
Wie den Protokollen der 1.
BGB-Kommission von 1877/78 zu entnehmen ist, waren dieser Kommission die
Entwürfe zu einem schweizerischen Obligationenrecht von 1875 und 1877 über das
Auswärtige Amt bzw. die Schweizer Botschaft zugegangen, so dass insbesondere
der Schuldrechtsredaktor diese Vorlagen wie später auch die endgültige Fassung
des Obligationenrechts 1881 berücksichtigen konnte. Andererseits wurden der
Schweiz die Zusammenstellung der Kommissionsbeschlüsse und die Vorlagen des
Schuldrechts-Redaktors Kübel zur
Verfügung gestellt (Werner Schubert,
in: Jakobs/Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, 1978,
S. 258, 260f.). Die Quellensammlung Fasels macht die
wichtigsten gedruckten und ungedruckten Materialien zum schweizerischen
Handels- und Obligationenrecht von 1881 und 1911 erstmals in einer
zusammenhängenden Edition zugänglich. Im ersten Teil bringt Fasel
drei Gutachten von 1862 über die Frage der Möglichkeit bzw. des Bedürfnisses
einer schweizerischen Handelsgesetzgebung. Für eine möglichst weitgehende
Vereinheitlichung trat Walther Munzinger ein, der noch im selben Jahr den Auftrag erhielt, ein auch das Wechselrecht
umfassendes Handelsgesetzbuch auszuarbeiten. Die Edition bringt sowohl den
Vorentwurf von 1863 als auch den aus Kommissionsberatungen hervorgegangenen
Entwurf von 1864 mit den ausführlichen Motiven Munzingers, über den Fasel inzwischen eine separate Biographie veröffentlicht
hat (Bahnbrecher Munzinger, 2003; vgl. auch Fasel, in ZEuP
2003, S. 345ff.). Munzinger (geb. 1830 in Olten als
Sohn des späteren Bundesrates Joseph Munzinger) war nach Studien in Paris und
Berlin 1857 ao. und 1863 ord. Professor an der
Universität Bern geworden (1870/71 in Lausanne). Der zweite Teil der Edition
enthält die auch das Obligationenrecht umfassenden Entwürfe von 1869 und 1871,
die, nachdem die Mehrheit der Kantone 1868 für die Vorbereitung eines
gemeinsamen Obligationenrechts votiert hatte, sehr rasch entstanden waren. Allerdings
wurde erst 1874 die verfassungsrechtliche Zuständigkeit des Bundes für das
gesamte Obligationenrecht begründet. Während der Teilentwurf von 1869 allein
das Werk Munzingers ist – er wird in der Edition aus einem Archivexemplar
erstmals wiedergegeben -, geht der von Munzinger redigierte Entwurf von 1871
auf die Beschlüsse einer Expertenkommission zurück. Dieser Entwurf wurde 1872
erneut beraten; der auf diesen Beratungen aufbauende Entwurf von 1875 trägt
noch weitgehend die Handschrift des 1873 verstorbenen Munzinger, da sein
Nachfolger in den Redaktionsarbeiten, der Züricher Rechtslehrer Heinrich
Fick, am Stil seines Vorgängers
möglichst wenig änderte. Der Teilentwurf von 1875 bildet mit den Entwürfen von
1877 und 1879 den dritten Teil der Edition. Der Entwurf von 1879 war zugleich
die Parlamentsvorlage, zu der Fasel die
aufschlussreiche Botschaft des Bundesrates von 1879 mit abdruckt, die einzige
amtliche Begründung der Grundentscheidungen des Entwurfs (vgl. u. a. über die
Form der Verträge und des Zessionsvertrags; formloser Übergang eines
Forderungsrechtes; unerlaubte Handlungen; Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn
für sein Personal; Lehre von der Verjährung; Mobiliarsachenrecht;
Kollektivgesellschaft; korporative Vereine [Aktiengesellschaften und Genossenschaften]).
Es folgen
im fünften Teil der Gesetzestext von 1881 und im abschließenden sechsten Teil
die Botschaften des Bundesrates vom März 1905 zur Vorlage von 1905 und von 1909
über die Anpassung des Obligationenrechts an das Zivilgesetzbuch sowie ferner
die dazu gehörigen Entwürfe. Während über die umfangreichen
Kommissionsberatungen, die zum Entwurf von 1879 führten, so gut wie keine
Protokolle vorliegen, hat Fasel wohl aus Platzgründen
auf den Abdruck der Protokolle der Expertenkommission von 1908/09 verzichtet.
Generell nicht berücksichtigt sind auch die parlamentarischen Beratungen von
1880 und 1910/11. Die Textedition wird erschlossen durch vier Einleitungen (S. 1ff., 507ff., 693ff., 1433ff.), die allerdings für den mit
der schweizerischen Gesetzgebungsgeschichte nicht
vertrauten Leser wohl zu knapp ausgefallen sind. Hinweise auf nicht
berücksichtigte Materialien und Quellen fehlen in der Regel. Eine
Konkordanztabelle erschließt die einzelnen Abschnitte in den Entwürfen (S.
XXXII-XXXIII). Allerdings bleiben einige Untergliederungen vor allem der 6.
Titel des OR 1881 über „Dingliche Rechte an beweglichen Sachen“
unberücksichtigt. Eine detailliertere Erschließung
sollte in einer Neuauflage nachgeholt werden.
Die Edition ist – von ihrer
Bedeutung für die schweizerische Rechtsgeschichte abgesehen – auch für die
deutsche und österreichische Rechtsgeschichte von großer Wichtigkeit, und zwar
nicht nur für das allgemeine Zivilrecht, sondern auch für das Handels‑,
Gesellschafts- und das Aktienrecht. Beispielsweise wurde das OR 1881 für die
Aktiengesetznovelle von 1884 und den österreichischen Aktiengesetzentwurf von
1882 mit herangezogen. Die Edition vermittelt einen anschaulichen Vergleich der
schweizerischen mit der deutschen Gesetzgebungstechnik,
etwa für die systematisch ähnliche Kodifizierung des Bereicherungsrechts im
Vorentwurf Kübels und im 1. BGB-Entwurf. Erst der Entwurf von 1879 und das OR
1881 stellen einen Einheitstatbestand an die Spitze des Bereicherungsrechts
(Art. 78: Wem ohne rechtmäßigen Grund aus dem Vermögen eines Anderen eine
Bereicherung zugegangen ist, hat dieselbe herauszugeben.“, bzw.: „Wer ohne
rechtmäßigen Grund aus dem Vermögen eines Andern bereichert wurde, ist zur
Rückerstattung verpflichtet.“). Während der Entwurf von 1877 noch das
Konsensprinzip enthielt (Art. 202), folgten der Entwurf von 1879 und das OR
1881 dem Traditionsprinzip (Begründung hierzu S. 1249). Dagegen verblieb es bei
dem an den Art. 1382, 1383 C. c. orientierten Deliktstatbestand (Art. 50 OR
1881: „Wer einem Andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei
es aus Fahrlässigkeit, wird demselben zum Ersatze verpflichtet.“; Begründung
hierzu S. 1235); allerdings ließ das Obligationenrecht bei der Haftung für den
Gehilfen den Entlastungsbeweis in Art. 62 zu (anders noch Art. 96 des Entwurfs
1877). Insgesamt waren die Entwürfe bis 1877 stärker französischrechtlich
ausgerichtet, was damit zusammenhängen dürfte, dass Munzinger den Code civil
seit seinem Pariser Studium sehr schätzte. Die Ähnlichkeiten sowohl der
Entwürfe Munzingers als auch der Vorlagen des deutschen Schuldrechtsredaktors
Kübel beruhen darauf, dass beide den Dresdener Entwurf des Obligantionenrechts
als Vorlage benutzten. Insgesamt vermittelt die Edition Fasels,
die leider einen nur wenig aussagekräftigen Titel trägt, ungeachtet der
weitgehend fehlenden Begründungen einen tiefen Einblick in die kontinentale
Kodifikations- und Dogmengeschichte der zweiten Hälfte des 19. und des
beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie sollte deshalb in keiner rechtshistorischen
Bibliothek fehlen.
Kiel |
Werner Schubert |