Europa und die Türken in der Renaissance, hg. v. Guthmüller, Bodo/Kühlmann, Wilhelm (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 54). Niemeyer, Tübingen 2000. 451 S.
Der vorliegende
Band präsentiert zwanzig Beiträge eines Kolloquiums, das der Wolfenbütteler
Arbeitskreis für Renaissanceforschung bereits im Jahr 1997 gemeinsam mit der
Ungarischen Akademie abgehalten hat. Die Einnahme Konstantinopels durch die
Türken (1453) und mehr noch die Belagerung Wiens durch osmanische Truppen
(1529) waren für die Zeitgenossen Ereignisse von unerhörter, geradezu
eschatologischer Bedeutung. Nie zuvor hatte man sich in ähnlich existentieller
Form mit Andersartigem und Fremdem auseinandersetzen müssen, nie zuvor hatte es
auch eine so vielfältige und reiche literarische Reaktion auf zeitgenössische
Phänomene gegeben. „Der Türke“ war politisches Menetekel und endzeitliche
Mahnung, eine Chiffre für alles Fremde, das die lateinische res publica christiana störte und
bedrohte. Angesichts einer solchen vielschichtigen Bedrohung wird „Europa“ zu
einem alle nationalen Differenzen überspielenden Identitätskonzept. Die
Beiträge des Sammelbandes widmen sich der Frage nach den literarischen, weniger
den politischen Reaktionen der Zeitgenossen, ihren Versuchen, mit Hilfe
christlicher und antiker Deutungsschemata der Erschütterung ihres Welt- und
Geschichtsbildes Herr zu werden. Einleitend stellt Martin Brecht in
seinem Beitrag „Luther und die Türken“ dessen wechselnde Haltungen zu Türken
und Türkenkrieg eindringlich dar. In seiner Studie „Geschichtsdeutung und
Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen
Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit“ geht Ulrich
Andermann Endzeitgefühlen und Versuchen nach, die Türken durch eine
eschatologische Interpretation ihrer militärischen Erfolge in das christlichen
Weltbild einzugliedern. Die heilsgeschichtliche Perspektive erlaubt es, Angst
zu artikulieren, zugleich aber auch abzubauen. Johann Helmrath spürt in
seinem umfangreichen Beitrag „Pius II. und die Türken“ dem Auseinanderklaffen
zwischen der politischen Oratorik der Kreuzzugsappelle und der politischen
Wirklichkeit nach, das er zu der Frage nach dem Verhältnis von „Vision“ und
„Realismus“ in der Persönlichkeit Pius‘ II., dieser „oratorische[n] Existenz“
(S. 84), zuspitzt. Ein christlicher Erfolg ist ohne eine strikte Moralisierung
nicht denkbar; so entwickelt Pius in seinen Reden, die immer wieder um die justitia, facilitas und utilitas eines Türkenfeldzugs kreisen,
ein Ethos des Krieges. Wie die Überlegungen, den Deutschen Orden im Kampf gegen
die Türken als Vorposten einzusetzen, nach einem gescheiterten Feldzug 1497
„zur unendlichen Geschichte“ (S. 175) werden, schildert Matthias Thumser
in seinem Beitrag „Eine neue Aufgabe im Heidenkampf? Pläne mit dem Deutschen
Orden als Vorposten gegen die Türken“. Dieter Mertens zeigt den
Historiker und päpstlichen Sekretär Flavio Biondo (1388-1463) „als politischen
und militärischen Ratgeber an der Arbeit“ (S. 73); seine unmittelbar nach dem
Fall von Konstantinopel verfaßte Schilderung des ersten Kreuzzuges läßt diesen
zur Chiffre des militärischen Sieges über die Türken werden. Einen Einblick in
die französische Türkenpolitik und die Spannungen zwischen den offiziellen
Bemühungen um eine französisch-türkische Kooperation und der in der Bevölkerung
verbreiteten Türkenfurcht gibt Klaus Malettke. Zu den thematischen
Schwerpunkten des Bandes gehört auch Ungarn. J. János Varga skizziert in
seinem Beitrag „Europa und ‚Die Vormauer des Christentums‘. Die
Entwicklungsgeschichte eines geflügelten Wortes“ die Ausbildung ungarischen
Selbstverständnisses angesichts der türkischen Bedrohung. Den Einfluß Luthers
und Melanchthons auf die Geschichtsauffassung der ungarischen Reformation
schildert András Szabó, während Ferenz Szakály in die Geschichte
der protestantischen Reformation des unteren Donauraums einführt. Einen Blick
ins Innere der osmanischen Herrschaft wirft Pál Ács in seiner
exemplarischen Untersuchung der Lebensläufe zweier in Wien geborener
Unterhändler und Dolmetscher des Sultans.
Knapp die Hälfte
der Beiträge befaßt sich mit literarischen Bildern des „Türken“ (Kühlmann,
Wiegand, Neuber, Jankovics, Guthmüller, Friedrichs,
Deitz, Milewska-Waźbińska). Ob England, Ungarn oder
Polen, das topische Bild vom Türken als Inkarnation aller Laster variiert
wenig. Tatsächliche Kontakte und konkrete Erfahrungen, wie sie etwa die Ungarn
unter türkischer Besetzung machen, spiegeln sich im literarischen Bild kaum
wieder. Ebenfalls gemeinsam ist die Mahnung zur Einigkeit des christlichen
Europas. Dessen nationale Zersplitterung und Zerstrittenheit wird als Ursache
der türkischen Erfolge empfunden, einem christlich-einmütigen Europa habe
dagegen das osmanische Reich nichts entgegenzusetzen, so die weitverbreitete
Auffassung. Anders als die Literaten geben sich die italienischen Maler des
Cinquecento nicht mit topischen Bildern vermeintlich lasterhafter Türken
zufrieden, sondern streben in ihren Porträtserien, denen umfangreiche
Quellenstudien vorangehen, nach möglichster Authentizität der individuellen
Abbildung. Hans Georg Majer geht in seinem Beitrag „Giovio, Veronese und
die Osmanen. Zum Sultansbild der Renaissance“ den Spuren mehreren Serien von Sultansporträts
nach, die im 16. Jahrhundert, zum Teil nach osmanischen Vorlagen, in Italien
entstanden sind und zeichnet ein Bild von wechselseitigen künstlerischen
Einflüssen zwischen venezianischen Malschulen und Miniaturenmalern am
osmanischen Hof. Einen literarischen Sonderfall präsentiert Wolfgang
Friedrichs in seinem Beitrag „Das Türkenbild in Lodovico Dolces Übersetzung
der Epistolae magni Turci des
italienischen Humanisten Laudivio Vezzanense“. Diese im 16. und 17. Jahrhundert
populäre Sammlung fiktiver Briefe eines (ebenso fiktiven) Sultans präsentiert
den türkischen Herrscher als Teilnehmer eines humanistischen Streitgesprächs
über politische Moral und Herrschaftsethik, der seine Diskursthemen und
Argumente weniger der zeitgenössischen Politik, als vielmehr einer „antikischen
Scheinwelt“ (S. 343) entnimmt. Versuche, italienischer Humanisten, die Türken –
ein Volk, über das weder die antiken Autoren noch die Bibel Auskunft geben – in
ihr Welt- und Geschichtsbild einzugliedern, beschreibt Margaret Meserve in
ihrem Beitrag „Medieval Sources for Renaissance Theories on the Origins of the
Ottoman Turks“. Während die Frühhumanisten in ihnen Nachfahren der Trojaner
sehen, spricht man ihnen ausgangs des 15. Jahrhunderts jegliche Verbindung mit
der zivilisierten mediterranen Welt ab, indem man die Abstammung der Türken von
den notorisch barbarischen Skythen postuliert.
Nahezu alle
Beiträge sind durch eine leitmotivische Wiederkehr zentraler Fragen eng
miteinander verwoben und aufeinander bezogen. So eröffnet der Band ein weites,
europäisches Panorama und bietet einen ausgezeichneten Überblick über die
disziplinenübergreifende Forschung zur Türkenfrage in der frühen Neuzeit.
Würzburg Christiane
Birr