Essner, Cornelia, Die >>Nürnberger Gesetze<< oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945. Schöningh, Paderborn 2002. 477 S. Besprochen von Werner Schubert. ZRG 121 (2004) 63. 10691 2002-08-30 von Werner Schubert gewünscht, bestellt, zusenden, sobald eintrifft, 2002-09-16 eingetroffen, versandt, 2002-10-01 Besprechung erhalten

 

Obwohl zur Entstehung und Weiterentwicklung der „Nürnberger Gesetze“ von 1935 (Reichsbürgergesetz und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre) bereits zahlreiche Untersuchungen vorliegen, sind grundlegende Fragen noch immer nicht geklärt. Die von Lösener, dem Rassereferenten des Reichsinnenministeriums nach 1945 aufgebrachte These einer „Parthogenese“ der Nürnberger Gesetze („plötzlich einer Laune des Führers entsprungen“, S. 448) diente dem „Mythos einer ,an sich’ mäßigenden Kraft in der Bürokratie“, „der indirekt die Existenz einer ,an sich’ dominanten, radikalen Gegenkraft beschwört, der gegenüber nur die Methode eines ,getarnten’ Verhaltens und einer ,Tarnsprache’ übrig blieb“ (S. 448). Essners Anliegen war es zunächst, die Vorgeschichte der genannten Gesetze, sozusagen den Nährboden, aus dem heraus sie zu erklären sind, detailliert zu beschreiben. In einem ersten Kapitel geht es um den „Irrgarten der Rassenlogik“ (1871-1935), der bestimmt war von zwei Strömungen, der älteren, präeugenischen-kontagionistisch zu nennenden Richtung und der jüngeren Strömung, die erbbiologisch argumentierte und sich in der frühen NS-Zeit mit der „Nordischen Rassenlehre“ verband. Die beiden Richtungen unterschieden sich in der Frage der genealogischen Reichweite dessen, was als „jüdisches Blut“ anzusehen war. Diese elementare Differenz des kontagionistischen und des erbbiologisch gewandeten Antisemitismus drückte sich insbesondere in der Mischlingsfrage aus. Im zweiten Kapitel behandelt die Verfasserin die nur verstreut überlieferten Entwürfe eines Rassenrechts aus der Zeit vor den Nürnberger Gesetzen (S. 76ff.). Anschließend rekonstruiert sie das Geschehen auf und nach dem „Reichsparteitag der Freiheit“ vom September 1935. Hierbei geht es vor allem um die Konfrontation des Erinnerungsberichts von Lösener mit den tatsächlichen Geschehnissen und um das weitere Tauziehen um den Judenbegriff bis zum 14. 11. 1935 (Erlass der ersten Ausführungsverordnungen zu den Nürnberger Gesetzen). Einen weiteren Schwerpunkt des Werkes bilden der Ausbau und die Funktionsweise des Trennungssystems (Bedeutung des Religionskriteriums; Gleichstellung über den „Gnadenweg“; Kontaktverbote; Visualisierung der Ausgrenzung durch „Kennzeichnung“ des Ortes oder der Person; S. 174ff.). Es folgt ein Abschnitt über die Entstehung der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 1941 (mit einem Exkurs über den Madagaskar-Plan), welches dem Juden die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn und sobald er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatte, raubte.

 

Die beiden letzten Abschnitte befassen sich mit der Verschärfung des Judenbegriffs (Ausdehnung auf Mischlinge) in den „besetzten“ Ostgebieten und um das Mischlingsproblem im Reich, das trotz wiederholter Vorstöße bei Hitler bis zuletzt ungelöst blieb, d. h. es waren insoweit für das Reich weiterhin die „Nürnberger Gesetze“ maßgebend. Essner erörtert insbesondere detailliert die Frage, inwieweit auf der sog. „Wannsee-Konferenz“ (20. 1. 1942) mit den versammelten Staatssekretären der Reichsministerien in aller Offenheit über Tötungstechniken gesprochen worden ist, was aufgrund der detaillierten Analyse der Verfasserin eher unwahrscheinlich sein dürfte. Es gelingt der Verfasserin, die Weichenstellungen auf dem Weg zum Holocaust neu zu bewerten, indem sie insbesondere auf den zentralen Diskussionsgegenstand, die Lösung der Mischehen-Frage auch im Reichsgebiet, abstellt, die für die Berliner Ministerialbürokratie im Vordergrund stand. Es ist hier nicht der Ort, auf den für die NS-Geschichte im allgemeinen bedeutsamen Ertrag für die Definition der Konturen und Inhalte des rassistischen „modernen“ (klassifikatorischen) Antisemitismus näher einzugehen. Nach Essner ging es auch darum, den eingangs erwähnten Mythos „aufzubrechen“ (S. 448). Wie der Reichsjustizminister Gürtner bereits Ende 1936 feststellte, konnte die „These von der Reinheit des deutschen Blutes nicht zur Diskussion gestellt werden“ - sie wurde innerhalb des NS-Systems auch niemals in Frage gestellt –, „denn sie ist ein Grundsatz und ein Glaubenssatz des neuen Staates und es ist völlig zwecklos, über richtig und unrichtig zu reden“ (S. 228). Von dieser Feststellung aus dürfte das Verhalten der Berliner Ministerialbürokratie in erster Linie zu bewerten sein.

 

Das Werk von Essner, das am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Berlin als Habilitationsschrift entstand, ist auch für die Rechtsgeschichte von größter Bedeutung. Nicht nur die unmittelbare Genese der Nürnberger Gesetze trifft auf das Forschungsinteresse der Rechtshistoriker, sondern dies gilt vor allem auch für die Vorgeschichte und die Entstehung der ersten Durchführungsverordnungen, die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission über den strafrechtlichen Rasseschutz am 5.6.1934 (vertrauliches Protokoll bei J. Regge/W. Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, II. Abt., Bd. 2, 2, 1989, S. 277ff.), die Vorgänge, die zur extensiven Auslegung der §§ 2 und 5 des Blutschutzgesetzes (Rassenschande) durch das Reichsgericht (Beschluss v. 9. 12. 1936) führten, sowie für die Bedeutung der vom Reichsgericht durch Urteil vom 15. 6. 1939 anerkannten Abstammungsklage (unzutreffend ist allerdings, S. 205, die „Einrede des Mehrverkehrs“ sei in der Weimarer Republik kodifiziert worden; sie stammt vielmehr aus dem 19. Jahrhundert). S. 207 finden sich Ausführungen zu einem eventuellen, von Hitler abgelehnten Zwang der Mutter, den Vater des nichtehelichen Kindes zu nennen (so Hitler bereits 1937, vgl. Regge/Schubert, a. a. O., Abt. II 1, 2, S. 624; vgl. ferner § 10 Abs. 2 des Nichtehelichengesetzentwurfs von 1940). Ferner bringt das Werk wichtige Beiträge zum geplanten Sippenamtsgesetz, das nach Meinung des Reichsjustizministeriums das Personenstandsgesetz ersetzen sollte, zur Aufhebung des Mieterschutzes für Juden, zur Schutzangehörigkeit und zu den Plänen bzw. den Gesetzentwürfen von 1942/43, nach denen eine Zwangsscheidung von Mischlingsehen vorgesehen war. Unter den aufgezeigten Aspekten enthält das auf archivalischer Grundlage in den Hauptteilen sorgfältig erarbeitete Werk von Essner zahlreiche neue Erkenntnisse, die für die deutsche Rechtsgeschichte unter dem Nationalsozialismus höchst beachtenswert sind.

 

Kiel

Werner Schubert