Drecktrah, Volker Friedrich, Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der Preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879 (= Rechtshistorische Reihe 259). Lang, Frankfurt am Main 2002. 519 S. 10668

 

Das säkularisierte Erzstift Bremen mit dem Hochstift Verden war 1648 an die Krone Schweden gefallen. Im Nordischen Krieg wurden diese Gebiete zunächst 1712 von Dänemark besetzt, das sie 1715 an Kurhannover abtrat. Seitdem gehörten sie dem hannoverschen Kurstaat bzw. Königreich an, um mit der Annektion von 1866 als Bestandteil der nunmehrigen Provinz Hannover an Preußen zu fallen.

 

Das vorliegende Buch, eine von Götz Landwehr in Hamburg betreute Dissertation, bietet eine mit großer Sorgfalt aus den archivalischen Quellen erarbeitete Darstellung des Gerichtswesens jener Region im 18. und 19. Jahrhundert. Als Zäsuren erscheinen dabei die Jahre 1803, 1813, 1850/52 und 1866. Sie bezeichnen weithin zugleich auch die Epochen der Verwaltungsgeschichte, denn eine Trennung von Justiz und Verwaltung erfolgte im Königreich Hannover erst zum 1. Oktober 1852. Die Darstellung schließt mit den Reichsjustizgesetzen von 1877/79.

 

Auf die Einleitung (S. 1-34) folgt das besonders umfangreiche 2. Kapitel (S. 35-215), das die vielgestaltigen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand hat. Läßt man das Konsistorium beiseite, so sind es vier Kollegien, welche die Regierungs- und Gerichtshoheit in den Herzogtümern verkörpern: die Regierung, das von der Ritterschaft dominierte landständische Kollegium, die landesherrliche Justizkanzlei, und das landständisch geprägte Hofgericht. Sie alle haben ihren Sitz in Stade und unterstehen den Zentralinstanzen des Kurstaates, dessen Regent als englischer König in London residierte: nämlich dem Kollegium der „heimgelassenen Geheimen Räte“ in Hannover und dem Oberappellationsgericht in Celle. Unter ihnen stehen (außer den absterbenden Landgerichten) die landesherrlichen Ämter und Gerichte verschiedenster Art sowie die adligen Patrimonialgerichte mit ihren wechselnden, oft umstrittenen Zuständigkeiten. Endlich sind noch die Stadtgerichte von Stade, Buxtehude und Verden zu nennen.

 

Alle diese Institutionen werden im einzelnen vorgestellt, wobei die Darstellung, wie der Rückentext zutreffend sagt, zugleich als Quellendokumentation erscheint. Mehrfach wird der Personalbestand der Stader Kollegien dokumentiert (zum Jahre 1736 vgl. S. 107ff., zum Jahre 1761 S. 184ff.). Auch für die Untergerichte gibt es mehrfach Übersichten, so zum Jahre 1718 (S. 137f.), zum Jahre 1736 (S. 139) für 1752 und 1758 (S. 160ff.), und schließlich für die Jahre 1761 und 1766 (S. 200ff.). Die häufigen Abweichungen zeigen, daß es selbst den Stader Stellen schwer fiel, sich von den komplizierten Verhältnissen ein zutreffendes Bild zu machen. Besonders lesenswert ist vor diesem Hintergrund die Darstellung einzelner Ämter und Gerichte und der dort geltenden unterschiedlichen Rechte (S. 77ff., 93ff.). Als besondere Kuriosität mag dabei die Struktur zu Bremen Erwähnung finden (S. 89f.) – ein Überrest der welfischen Vogtei über das Erzstift. Mitten in der seit 1646 freien Stadt Bremen umfaßte sie den Dom und die zugehörigen vormals erzbischöflichen und domkapitularischen Häuser sowie im Landgebiet das Gericht Achim und die vier Bremer Gohe.

 

Ein eigenes 3. Kapitel (S. 217-231) ist dem Land Hadeln gewidmet, das aus dem Erbe der Herzöge von Sachsen-Lauenburg 1689 und endgültig 1731 an Kurhannover gelangt war. In seiner bäuerlich-republikanischen Struktur war es den kleineren bremischen Ländern wie dem Alten Land oder den Ländern Kehdingen und Wursten verwandt. Hadeln stand selbständig neben den Herzogtümern; nur in Personalunion war der Präsident der Stader Regierung zugleich Gräfe des Landes Hadeln.

 

Von besonderem Interesse ist das 4. Kapitel über die „Übergangszeit“ von 1803-1813 (S. 233-282); es umfaßt eine Periode raschen Wechsels. Da ist zunächst die Zeit der französischen Besetzung seit 1803. Die hannoversche Regierung war nach Lauenburg, dann nach Schwerin ins Exil gegangen, und in Hannover selbst blieb nur der Minister von der Decken zurück – „der heimgelassene Rat der heimgelassenen Räte“, wie der Verfasser schreibt. Über ihn setzten sich die Stader Behörden in beinahe konspirativer Weise, durch scheinbare Privatkorrespondenz mit der exilierten Regierung in Verbindung und erbaten Weisungen selbst für Einzelfälle. Die wenigen Monate der preußischen Herrschaft im Jahre 1806 sind nicht nur dadurch bemerkenswert, daß die hannoversche Regierung ihren Beamten nahegelegt hatte, auf ihren Posten zu verbleiben und auch die von den Preußen geforderten Loyalitätserklärung abzugeben, wenn auch mit dem Vorbehalt „jedoch meiner mir nicht erlassenen Dienstpflichten unbeschadet“ (S. 251 Anm. 61). Vielmehr erfolgte durch die preußische Regierung auch eine so umfangreiche und zuverlässige Bestandsaufnahme des Gerichtswesens, wie es sie weder zuvor noch längere Zeit danach nicht gegeben hatte. Der dabei verwendete „Fragebogen“ war offenbar von einem Kenner der hannoverschen Verhältnisse verfaßt worden (S. 253; vgl. auch Anlage 4–7). Nach der preußischen Niederlage von 1806 schloß sich eine erneute französische Besetzung an, bis die Herzogtümer 1810 dem Königreich Westphalen, 1811 sogar dem französischen Kaiserreich eingegliedert wurden, was die Einführung des französischen Gerichtswesens und französischen Rechts zur Folge hatte.

 

Nach dem Ende der Franzosenzeit wurden die hannoverschen Einrichtungen „auf dem vorigen Fuße“ wiederhergestellt (5. Kapitel, S. 283-340). Dies galt sogar für das Stader Hofgericht, das anders als in den übrigen Landesteilen wiedererstand und bis 1832 existierte. Auch die Patrimonialgerichte wurden wiederhergestellt; allerdings betrieb die Regierung ihre Aufhebung im Vereinbarungswege. Auch gemischte Gerichte suchte man zu bereinigen, wie das Beispiel der Stadt Verden (S. 319) zeigen mag. Das Kriminalgesetzbuch von 1840 brachte den Abschied von der Carolina. Das Landesverfassungsgesetz vom 8. September 1848 endlich eröffnete den Weg zu grundlegenden Reformen, indem es die Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, die Aufhebung der privilegierten Gerichtsstände, die Mündlichkeit und Öffentlichkeit im Verfahren sowie die Einführung von Schwurgerichten vorsah. - Die Durchführung dieser und anderer Reformen zwischen 1850/52 und 1866 ist Thema des 6. Kapitels (S. 341-398).

 

Die preußische Annektion von 1866 (7. Kapitel, S. 399-411) hatte zwar die Einführung des preußischen Straf- und Strafprozeßrechts zur Folge, führte aber nicht zu Änderungen im Gerichtsaufbau. Diese wurden erst durch die Reichsjustizgesetze von 1877 herbeigeführt (8. Kapitel, S. 413-420), an denen übrigens der hannoversche Jurist Adolf Leonhardt als nunmehriger preußischer Justizminister wesentlichen Anteil hatte.

 

Eine übersichtliche Zusammenfassung (S. 421-432), das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie umfangreiche Anlagen vor allem zu den Kapiteln 2, 4 und 5 (S. 443-519) bilden den Abschluß.

 

Das gründliche, trotz seines Detailreichtums gut zu lesende Buch leistet einen wesentlichen Beitrag zur neueren Rechtsgeschichte Niedersachsens und darüberhinaus zur Geschichte des deutschen Gerichtswesens insgesamt.

 

Au im Breisgau                                                                                   Karl Kroeschell