Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe, hg. v. Linke, Hansjürgen, 3 Bände. Francke, Tübingen 2002. XII, 91, 1-370 S., 371-701 S.., 370 u. 331 S.

 

„Obra bien, que Dios es Dios“, so lautet in einem Satz zusammengefasst, wie der spanische Schriftsteller und Jurist Pedro Calderón de la Barca (1600-1681) die zugeteilte Rolle des Menschen dem göttlichen Gebot entsprechend sah. Der Mensch solle diese Rolle möglichst gut spielen, um nicht das diesseitige Glück, sondern das jenseitige, das ewige Heil zu erreichen, so dass es gleichgültig ist, ob der einzelne in seinem kurzen Leben auf Erden die Rolle des Bettlers, des Bauern oder die des Reichen oder des Königs zu spielen hat; im Gegenteil: dem Armen ist das Heil gewisser als dem Reichen, der so vielen Versuchungen ausgesetzt ist. Diese Weltsicht zeigt sich ganz besonders deutlich in Calderóns berühmtestem auto sacramental, dem gran teatro del mundo (also dem Großen Welttheater) aus dem Jahre 1641, das im Spanien des 17. Jahrhunderts große Verbreitung und Erfolge feierte. Die autos sacramentales (Fronleichnamsspiele) waren eine Bühnengattung, die das Theater im so genannten „goldenen Zeitalter“ (siglo de Oro) mit seiner ganzen Ästhetik des Barock hervorgebracht hatte. Die autos wurden zunächst nur an einem einzigen Tag, also dem Fronleichnamsfest aufgeführt, später auch während einiger weniger Tage nach diesem Fest. Das Fronleichnamsfest, das am Donnerstag nach Trinitatis gefeiert wird, wurde 1264 von Papst Urban IV. eingesetzt und 1443 von Papst Eugen IV. nochmals bestätigt. Es wurde folgendermaßen gefeiert: Am Vormittag fanden ein Gottesdienst mit Predigt sowie eine aufwendige Prozession statt, bei der die geweihte Hostie in immer prunkvoller gestalteten Monstranzen mitgeführt wurde, in die aber auch dem heiteren Charakter des Festes entsprechend allerlei Staunen erweckende Gestalten eingereiht waren, darunter die Tarasca, eine feuerspeiende Riesenschlange. Am Nachmittag wurden in der Regel zwei autos sacramentales im Freien aufgeführt. Nach Calderón waren die autos sacramentales in Verse gefasste Predigten, in darstellbare Vorstellungen umgesetzte Fragen der heiligen Theologie. Die theologischen Fragen reichten von der Erbsünde bis zur Erlösungstat Christi und zur Jungfräulichkeit Mariens, die in einer dem Zuschauer einsichtigen Handlung, häufig unter Verwendung allegorischer Gestalten (Glaube, Willensfreiheit, Sünde) dem Publikum als zwar rational nur bedingt einsichtige, doch auf jeden Fall bewundernswerte Wahrheiten der Kirche dargestellt wurden. Es fanden aber nicht nur am Fronleichnamstag Festspiele statt, sondern auch zu den anderen hohen Feiertagen wie insbesondere Weihnachten und Ostern.

 

Für das deutsche Sprachgebiet sind nun etliche Weltgerichtsspiele erhalten, die im vorliegenden Band in synoptischer Gesamtausgabe vorliegen; von den volkssprachigen Spielen sind zu nennen: Tiroler Neidhartsspiel, Kasseler Paradiesspielfragmente, Schwäbisches Weihnachtsspiel, Admonter Passionsspiel, Kaufbeurer Passionsspiel, Straßburger Salvator-Rolle eines zweitägigen Passionsspiels, Trierer Marien-Rolle, Brandenburger und Melker (rheinhessisches) Osterspiel, Göttweiger Dirigierrolle eines Osterspiels, Berner, Güssinger und „Jantzsches“ Weltgerichtsspiel, Marburger Spiel von den letzten Dingen, Schwäbisches Spiel vom Sterben des Armen und des Reichen (Fragment), Berliner (thüringisches) Moralitäten-Fragment sowie die Erfurter Moralität.

 

In der Erfurter Moralität wird zunächst auf einzigartige, hochintellektuelle Weise aus den Haupttugenden und Hauptlastern ein sich weit verzweigendes begriffliches System entwickelt, das in Gestalt von Personifikationen teils agierend, teils wenigstens deklamierend auf der Bühne präsent ist; danach wird dann richtige und falsche, d. h. tugendhafte und sündige Lebensführung kontrastierend demonstriert - hier u. a. anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. In den thüringischen Zehnjungfrauenspielen erfolgt eine gleiche Demonstration anhand des Gleichnisses von den klugen und törichten Jungfrauen. In den Sünderrevuen der zahlreichen Fronleichnams-, Oster- und Passionsspiele (und in einigen der letzteren gelegentlich auch schon beim Abschluss des descensus ad inferos) werden die seelenverderbenden Folgen ganz alltäglicher Handlungen, nämlich vorwiegend die der konkreten berufsspezifischen Praktiken, vor Augen geführt, mit denen Angehörige der Hinterziehungsgewerbe ihre Mitmenschen betrügen und vornehmlich um Nahrung und Kleidung bringen. Diese moralisierenden Texte erinnern sehr an den mittelalterlichen Pilgerführer, der sich an die Pilger nach Santiago de Compostela richtete (vgl. die Besprechung zu Klaus Herbers, Der Jakobsweg, in diesem Band).

 

Das Weltgericht stellte für die Christen des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine Projektion des Gewissens in die imaginierte individuelle und universale Endzeit dar. Die darin vom Menschen geforderte Rechenschaftslegung vollzog sich zunächst unmittelbar nach dem Tod im Eigengericht, sodann am Ende aller Zeiten in dem auf die ganze Schöpfung ausgeweiteten Jüngsten Gericht. Die Darstellungen von Himmelsfreuden einerseits und Höllenqualen andererseits in den Spielen sind stets von recht unterschiedlicher Eindringlichkeit. Bildende Kunst und Theologie wirkten dabei eng zusammen, denn in den Totentänzen und Sterbebüchlein ergänzten sich Bild und Text gegenseitig. Als Werke der bildenden Künste allein finden sich Weltgerichtsdarstellungen in Gestalt von Miniaturen, Altarbildern und sakralen Fresken sowie in der Kathedralplastik. Die so genannten Gerechtigkeitsbilder waren dagegen in den Gerichtssälen weit verbreitet.

 

Sprachgeographisch sind die Spieltexte fast ausschließlich westoberdeutscher, überwiegend alemannischer Herkunft, nur drei sind bayrisch. Jedoch waren die Spiele dem Zeugnis der Aufführungsnachrichten nach im gesamten Sprachgebiet verbreitet: im Oberdeutschen ebenso wie im West-Mitteldeutschen und sogar im Niederdeutschen.

 

Mit dem Weltgerichtsspiel-Text sind eschatologische Vorstellungen sogar in die juristische Sachliteratur hineingenommen worden. Ulrich Tengler (Tenggler) erweiterte seine erstmals 1509 erschienene Rechtssumme für Laienjuristen in der 1511 unter dem Titel „Der neü Layenspiegel“ gedruckten zweiten Fassung, insbesondere um einen dritten Teil, in dem er umfängliche Textpartien aus einem Weltgerichtsspiel darbot, und stellte diesem mit dem Endgerichts-Holzschnitt Hans Schäufeleins ein gedrucktes Gerechtigkeitsbild voran. Tengler war Stadtschreiber, Landvogt und kaiserlicher Pfalzgraf und schrieb in bayrisch-schwäbischer Sprache des frühen 16. Jahrhunderts. Auch den selbstständigen Nachdruck von „Der neü Layenspiegel“ durch Wolfgang Stöckel im Jahre 1512 eröffnet ein allerdings von anderer Hand stammender Holzschnitt vom Jüngsten Gericht. Gerade in der Umbruchzeit vom Mittelalter zur Neuzeit entfaltete die Vorstellung vom Jüngsten Gericht die Utopie absoluter Gerechtigkeit, die für die damaligen Zeitgenossen eine große Anziehungskraft hatte. Nicht nur christliche Sozialethik wurde verbreitet, die Weltgerichtsspiele waren auch ein bedeutendes Instrument zur Gewissensbildung der Menschen.

 

Das hier vorliegende dreibändige Werk gibt nicht nur einen Einblick in die Editions- und Methodengeschichte der Erforschung der Weltgerichtsspiele, sondern liefert eine ausgezeichnete synoptische Edition, mit Hilfe derer der Leser Einsichten in die Text-, Überlieferungs- und Inszenierungsgeschichte, in dramaturgische Verfahren sowie in die dazu gehörende Sprach- und Orthographiegeschichte erhält. Für das Churer und das Luzerner Weltgerichtsspiel liefert der Autor sogar die Melodien mit Transkriptionen. Hansjürgen Linkes Edition ist nicht zuletzt deshalb eine Pionierleistung, weil er sowohl bereits edierte Spiele überarbeitet hat, als auch drei zum ersten Mal ediert. Für den Rechtshistoriker sind die Weltgerichtsspiele gerade wegen ihres engen Bezuges von Theologie und Recht eine willkommene Quelle zur Erschließung des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die synoptische Gesamtausgabe von Linke hilft hierbei zweifelsohne, die Texte gründlich zu erschließen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen