Denken und Umsetzung des
Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Kirsch, Martin/Schiera,
Pierangelo (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte
28). Duncker & Humblot, Berlin 1999. 272 S.
Der Sammelband mit dem sperrigen Titel
ist aus einer internationalen und interdisziplinären Tagung der
Humboldt-Universität hervorgegangen und wird von zwei ausgewiesenen Kennern des
europäischen Konstitutionalismus herausgegeben. Da die meisten der vier
Autorinnen und neun Autoren ihre Dissertationen, Habilitationen und Monografien
zusammenfassen oder Teilfragen daraus behandeln, werden keine grundsätzlich
neuen Einsichten vermittelt. Dennoch sind auch die präsentierten Aspekte zum
Thema anregend; anerkennenswert ist vor allem das Bemühen, der europäischen
Entwicklung und der deutschen Verflechtung damit nachzugehen.
Bei der immer mal wieder aufflammenden
Diskussion, ob denn Kontinuitäten zwischen dem Alten Reich und dem Deutschen
Bund vorhanden gewesen seien, bestätigen die Beiträge die vorherrschende
Überzeugung, dass es keine nennenswerten Verbindungen gegeben habe. Gewiss, so Hans
Boldt, hatte das Reichsstaatsrecht moderne Züge und sei die Diskussion über
die föderale Umgestaltung des Reiches lebhaft gewesen, doch nichts davon sei
verwirklicht worden. Vielmehr entstand ein Staatenbund, der den Interessen
seiner Schöpfer entsprach: den deutschen Fürsten und den europäischen
Großmächten. Es ist wohl richtig und sicherlich auch zu wenig beachtet, wie Wolfgang
Burgdorf betont, dass in kaum
einem europäischen Land so viele Verfassungstexte vorgelegt worden seien wie in
Deutschland und dass es eine ausgefeilte Publizistik dazu gegeben habe. Dennoch
hat auch hier nichts über die Epochengrenze der Französischen Revolution hinaus
gewirkt. Es fragt sich daher, worin denn dann der Bezug dieses umfangreichen
Beitrags über die Versuche von Staatsrechtslehrern, die kaiserlichen Wahlkapitulationen
zu einer Verfassung für das Alte Reich weiter zu entwickeln, zum
Konstitutionalismus besteht. Die Tatsache, dass einige der Diskutanten dann
auch noch im Vormärz ihrer Profession nachgingen oder aber in den Staatsdienst
gewechselt waren, ist denn doch etwas wenig. Schließlich war auch der Einsatz
des Philosophen Kant, einen Weg zu finden, wie aufgeklärte Monarchie und
repräsentative Verfassung miteinander verbunden werden können, innerhalb dieser
aufgewühlten Debatte um die politische Zukunft des Alten Reiches vergeblich (so
Otto Dann).
Doch standen die aktuellen
Machtverhältnisse nach den napoleonischen Kriegen nicht nur einem Anknüpfen an
des Alte Reich entgegen, sondern diese haben auch auf die Ausgestaltung der
Verfassungen in den deutschen Bundesstaaten gewirkt. Dieser Lage fiel unter
anderem der Plan Wilhelm von Humboldts einer Verfassung für Preußen mit
weitgehender ständischer Mitbestimmung zum Opfer (Carla De Pascale).
Gerade in Preußen kam hinzu, dass alle politische und gesellschaftliche
Modernisierung „von oben“ mit dem massiven Widerstand eines interessenhomogenen
Adels, der zudem im Land fest verwurzelt war, rechnen musste (so Paul Nolte).
Dass andererseits aus der Tradition einer kommunalen Selbstverwaltung sich eine
moderne Verfassung heraus bilden kann, zeigt Ursula Meyerhofer am Beispiel der Schweiz.
Ansonsten unterstreichen die Beiträge
aber mehr die Parallelitäten zwischen der deutschen und der europäischen
Entwicklung und stellt insbesondere Martin Kirsch die Vorreiterrolle und zeitweilige Vorbildfunktion Frankreichs
dabei heraus. Die Gründe für den Erlass konstitutioneller Verfassungen in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in den deutschen Bundesstaaten, von
denen Hartwig Brandt Württemberg
exemplarisch vorführt, maßgeblich waren, fanden sich auch anderswo: die
Integration neu erworbener Gebiete, Abbau der Staatsverschuldung und die
allmähliche Heranziehung von Teilen der Bevölkerung zur staatlichen
Gesetzgebung. Obwohl England und Deutschland meist als grundsätzlich verschiedene
Fälle des Konstitutionalismus angesehen werden, seien doch, wie Monika
Wienfort ausführt, zumindest in der Hochschätzung der integrativem Funktion
des Monarchen gemeinsame Grundüberzeugungen vorhanden gewesen. Es ging
letztlich in Europa um die Begründung staatlicher Unabhängigkeit und nationaler
Selbstständigkeit und nicht zuerst um die Verfassungen als solche; sie waren
nur Mittel zu diesen Zielen. Und wie in Deutschland verdankte sich die neue
politische Ordnung zu einem nicht geringen Teil der Einwirkung ausländischer
Mächte, bis hin zur Intervention zugunsten eines gefährdeten Monarchen, wie Werner
Daum für das Königreich
Neapel-Sizilien nachweist.
Das europäische Geflecht wird schließlich
auch noch an der gegenseitigen Rezeption von Verfassungen und politischen Ideen
sichtbar. So hat die spanische Verfassung von Cadiz aus dem Jahre 1812 nicht
nur die deutschen Liberalen beeindruckt (Horst Dippel), sondern auch die
Revolution von 1821/22 im Königreich Neapel-Sizilien beflügelt (Werner Daum).
Dabei konnte die Aneignung so weit gehen, dass die fremden Ideen allmählich zu
einem Teil der eigenen Tradition umgedeutet wurden, wie Ursula Meyerhofer am Beispiel der Rezeption der
Französischen Revolution und der deutsch Naturrechtslehre durch die Schweizer
Liberalen zeigt. Dass selbst die preußische Ersatzlösung für eine
konstitutionelle Verfassung, nämlich die Einführung der Provinzialstände
1823/24, obwohl sie bei Zeitgenossen und nachfolgenden Historikern keinen guten
Ruf hatte, als Vorbild dienen konnte, fasst Friederike Hagemeyer an der Verfassungspolitik König
Frederiks V. zusammen, der ähnlich wie Friedrich Wilhelm III. in seinem Land so
die konstitutionelle Bewegung in Dänemark unterlaufen wollte.
Die Beiträge spiegeln ein sehr breites
und teils unterschiedliches Verständnis der zentralen Begriffe „Verfassung» und
«Konstitutionalismus“ und reflektieren so nur ein Grunddilemma der
Konstitutionalismus-Forschung. Aus diesem führen auch nicht die einleitenden
Überlegungen von Pierangelo Schiera heraus, in dem Zeitraum zwischen
1750 und 1850 in Europa einen „Verfassungsbedarf nachzuweisen. Denn was da
ausgeführt wird, ist zu allgemein und teils spekulativ. Um so bemerkenswerter
sind die Versuche aller Autoren, aufgrund der sich im europäischen Vergleich
ergebenden Besonderheiten die Entwicklung in den jeweiligen Staaten begrifflich
klarer zu fassen. Bedenkswert ist schließlich der Vorschlag Martin Kirschs,
den ja auf keine Epoche festgelegten Begriff „Konstitutionalismus“ für die
Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts zugunsten des Terminus „Monarchischer
Konstitutionalismus“ aufzugeben.
Eichstätt Karsten
Ruppert