Davies,
Norman, Im Herzen
Europas: Geschichte Polens, Beck, München 2000. XVII, 505 S.
Themen der von
Norman Davies 2000 vorgelegten, 2001 in zweiter und 2002 in dritter Auflage
erschienenen Geschichte Polens „Im Herzen Europas“ sind das alte Polen, das
geteilte Polen, das unabhängige Polen nach dem ersten Weltkrieg, das
kommunistische Polen nach dem zweiten Weltkrieg und die Befreiung Polens vom
Kommunismus. Erklärtes Anliegen des Verfassers ist ein Verständnis für das
heutige Polen vor dem Hintergrund seiner Geschichte. Dem soll der umgekehrt
chronologische Zugang dienen: Von der kommunistischen Militärherrschaft der
jüngsten Vergangenheit ausgehend verfolgt der Autor die Geschichte Polens
zurück bis zu den Anfängen der polnischen Staatsbildung im 10. Jahrhundert. Im
letzten Kapitel schließt sich der Kreis in wiedergewonnener
Freiheit: 1990 wird die unabhängige und demokratische 3. Polnische Republik
gegründet.
Die Darstellung
des alten Polen (5. Kapitel, S. 254-320) beginnt mit der Herrschaft des Piasten Miezko I. (960-992).
Polen errang nach und nach die Vorherrschaft über die Westslawen: Durch die
mongolische Besetzung Russlands seit 1245 entstand ein Machtvakuum, das eine
Ausdehnung Polens nach Osten und den Zusammenschluss mit Litauen 1385/86 ermöglichte.
Polen-Litauen war ein multiethnischer, -religiöser und -kultureller Staat mit
schwacher Zentralgewalt und einem um so stärkeren, im Sejm repräsentierten
Adel.
Dem Erstarken
Russlands nach Überwindung der Mongolenherrschaft 1480, dem Aufstieg des
Habsburgerreiches nach Wiedererlangung Ungarns und der Konsolidierung Preußens
als unabhängiges Königreich mit einem starken Militär hatte Polen, militärisch
geschwächt durch den Abwehrkampf gegen die türkischen Armeen, nichts
entgegenzusetzen. Konsequenz war das geteilte Polen (4. Kapitel, S. 144-253).
Nachdem Polen
für über 200 Jahre von den Landkarten verschwunden war, drang im 1. Weltkrieg
die polnische Frage wieder in das europäische Bewusstsein (3. Kapitel, S.
100-143). Die Kriegsparteien wollten die Polen jeweils für sich gewinnen, indem
sie ihnen die Unabhängigkeit versprachen. Die deutsche Regierung ergriff Ende
1918 die entscheidende Initiative. Mit dem Rückzug der deutschen Truppen aus
Warschau übertrug sie die Macht auf einen polnischen Regentschaftsrat. General
Piłsudski wurde Staatspräsident des neuen Polens, dessen Unabhängigkeit
durch innere und äußere Spannungen belastet war. Die innenpolitische Fragmentierung
war Resultat der jahrhundertlangen Teilung. Ihr Abbild in Splitterparteien
machte den Sejm regierungsunfähig. 1926 stürzte General Piłsusdski
die rechtmäßige Regierung und errichtete das autoritäre Sancja
Regime. Außenpolitisch war Polen auf sich gestellt und fiel schließlich dem
Hitler-Stalin Pakt von 1939 zum Opfer.
Aus dem 2.
Weltkrieg (2. Kapitel, S. 58-99) ging Polen nur vermeintlich als Sieger hervor.
Die Zerstörung sämtlicher militärischer Strukturen setzte Polen schutzlos der
sowjetischen Hegemonie in Osteuropa aus. Die Hilfe des Marshallplans blieb
verwehrt. Die für das alte Polen kennzeichnende Multikulturalität war durch den
Holocaust unwiederbringlich verloren. Gemessen an seiner Bevölkerung hatte
Polen prozentual die meisten Opfer in ganz Europa zu beklagen.
Hauptmerkmal des
polnischen Kommunismus (1. Kapitel, S. 3-57) ist für den Autor eine besondere
moralische Korruption. Der Diktatur der polnischen Kommunisten fehlte jede innenpolitische
Begründung, während sonst Diktaturen meist durch klar definierte
innenpolitische Umstände zustandekommen: Wahlen und
eine gewisse innere Akzeptanz (z. B. Hitler), Bürgerkrieg (z. B. Franco),
Reaktion auf kapitalistische Missstände (z. B. China, Kuba), die Notwendigkeit,
rivalisierende Gruppen auseinander zuhalten (z. B. Afrika). Keiner dieser Aspekte
trifft auf Polen zu. Damit kommt Davies zu dem überzeugenden Schluss, dass der
polnische Kommunismus sowjetische Fremdherrschaft war.
Die Befreiung
Polens von der kommunistischen Herrschaft (6.-8. Kapitel, S. 321-445) nahm
seinen Anfang in der 1980 gegründeten Gewerkschaftsbewegung
Solidarność unter der Führung Lech Wałęsas. Vor dem
Hintergrund der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Misere Polens, die die
Kreditwürdigkeit des gesamten Ostblocks gefährdete, fasste die
Solidarność-Bewegung auch innerhalb der kommunistischen Partei Fuß.
Dieser entglitt das Gesetz des Handelns, das nun das Militär unter der Führung
von General Jaruzelski 1981 an sich zog. In den 1989 durchgesetzten freien
Wahlen errang die Solidarność alle zu vergebenden Mandate. Daraufhin
scherten die ehemaligen Blockparteien aus dem kommunistischen Lager aus: Das
Ende der kommunistischen Alleinherrschaft war besiegelt, und der Weg zu einem
unabhängigen und demokratisches Polen eröffnet.
Der wiederkehrende
Wechsel zwischen Selbständigkeit und Fremdherrschaft illustriert die
Verwobenheit der polnischen mit der gesamteuropäischen Geschichte. Dies
anschaulich darzustellen, gelingt Norman Davies nicht nur mit dem Titel seiner
polnischen Geschichte: „Im Herzen Europas“.
Passau Ulrike
Seif