Burgdorf, Wolfgang, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte 173 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 13). Zabern, Mainz 1998. X, 578 S.

 

Schon bisher war bekannt, dass die Spätzeit des Heiligen Römischen Reiches von Reformvorschlägen und Reformdiskussionen begleitet war, die zum Teil auch hier und da in der Wissenschaft größere Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Forschung hat sich längst von der Ignoranz jener Gelehrtengeneration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verabschiedet, an die der Autor mit Recht erinnert, brachte ein Fritz Hartung doch über den im vorliegenden Buche behandelten Quellenstoff zu Papier: „Alle diese Schriften sind lediglich aus der unstillbaren Schreiblust jenes tintenklecksenden Säkulums entstanden und auffallend arm an Gedanken“ (Zitat auf S. 443). Eine umfassende Untersuchung des Reformschrifttums hat bisher freilich noch niemand gewagt, vielleicht nicht zufällig. Denn man muss sich fragen, ob die einleitende These des Autors, es habe „von 1640 bis zum Ende des Reiches 1806 eine kontinuierliche öffentliche Reichsreformdiskussion stattgefunden“ (S. 1), nicht ein Forschungsobjekt erst schafft, das die aufeinander folgenden Generationen der Zeitgenossen als ein einheitliches vielleicht nicht wahrgenommen haben. Dieser Eindruck drängt sich schon bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses auf, sind die Anlässe der Reformdiskussionen doch recht verschieden gewesen. Kann man daher wirklich von Kontinuität sprechen? In seinem abschließenden „Resümee“ kommt der Autor zu dem Ergebnis, es sei zwischen 1640 bis1806 „ein fast geschlossener Komplex aufeinander bezogener Argumente und Motive“ festzustellen (S. 503). Kontinuität also im Gedanklichen – aber auch als literarischer oder gar politischer Prozess?

 

Mit dieser Frage ist aber auch schon der erheblichste Einwand des Rezensenten gegen das vorliegende Werk ausgesprochen. Denn es bereichert unsere Kenntnisse über das Verfassungsdenken im Heiligen Römischen Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg und während des 18. Jahrhunderts ganz ungemein. Nicht nur die Zusammenfassung eines so gewaltigen Stoffes in einem einzigen Buch beeindruckt. Es finden sich darin auch wirkliche Entdeckungen und wichtige Klärungen bisher nur punktuell, in Gestalt einzelner Autoren, wahrgenommener Reformimpulse. Und dabei hat der Verfasser, worauf die Leser dieser Zeitschrift besonders aufmerksam zu machen sind – noch die ganze Diskussion um vorhandene, unzureichende deutsche Gesetze und einzuführende Gesetzbücher ausgeklammert. Hier harrt also ein weiteres Forschungsfeld der Bearbeitung.

 

Der Aufbau des Werkes lehnt sich an die jeweiligen historischen Anlässe der Reformdiskussionen an, die ganz überwiegend nicht abstrakt, sondern in Hinblick auf bestimmte Krisen oder Entscheidungssituationen geführt wurden. Nach den einleitenden Überlegungen zum Forschungsstand und zu den Quellen im ersten Kapitel erörtert der Autor unter der Überschrift „Die Reichsreformdiskussion von 1640 bis 1740“ im 2. Kapitel zunächst Reichsreformprojekte „im Schatten des Westfälischen Friedens“ und anschließend solche „im Schatten der französischen Expansion“. Kapitel 3 über „Interregnum, Dynastiewechsel und Königswahlkampagne, 1740 bis 1752“ analysiert das Reformschrifttum dieser bewegten Jahre. Einen kräftigen Schub erhielt „die Reichsverfassungsdiskussion während des Siebenjährigen Krieges, 1756 bis 1763“, die der Autor in Kapitel 4 behandelt. Nunmehr kommt die Debatte in der Tat nicht mehr zur Ruhe. Kapitel 5 hat „Kaiserliche Initiativen, die Nationalgeistdebatte und die Reichskammergerichtsvisitation, 1765 bis 1776“ zum Gegenstand. Einen weiteren Höhepunkt erreicht die Reichsreformdiskussion in der Zeit des Fürstenbundes. Kapitel 6 hat der Autor mit den folgenden Stichworten überschrieben: „Der Fürstenbund von 1785. Gleichgewicht, deutsche Freiheit und nationale Identität“. Auch die dann folgenden Vakanzen des Kaiserthrones haben Reformüberlegungen stimuliert, die in Kapitel 7 unter dem Rubrum zur Sprache kommen „Die Reichsreformdiskussion nach 1789. Reichsvikariat oder Kaisertum, die Interregna von 1790 und 1792“. Die bevorstehenden Wahlen haben aber auch zu Vorschlägen über den „Ausbau der kaiserlichen Wahlkapitulation zum beständigen Reichsgrundgesetz“ angeregt, die in Kapitel 8 eine ausführliche Darstellung erfahren. Als weit weniger ergiebig erwies sich „Die Diskussion um die Kaiserkandidaten“ in Kapitel 9, während „Die Reichsverfassung in der akademischen Diskussion“, wie Kapitel 10 verheißt, nur im Spiegel einer akademischen Preisfrage mit allerdings breitem Echo erscheint. Kapitel 11 schließlich schreitet „Von der Kritik der Reichsverfassung zur republikanischen Reichskonstitution“ fort, dies freilich unter Aufrechterhaltung des kaiserlichen Amtes.

 

Ein wesentliches Ergebnis seiner Untersuchung verrät der Autor schon in der Einleitung. In dem von ihm erfassten Zeitraum sei ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nicht allein durch jenes Schrifttum herbeigeführt worden, das „die politische Emanzipation des Bürgertums“ widerspiegelt. Vielmehr habe die der Reichsverfassung gewidmete Reformliteratur ihren Ursprung „in unmittelbarer Regierungsnähe“, da die an diesen Fragen interessierten Publizisten in der Regel einer Administration und damit der Führungselite angehörten – wie man erwartet, nach Studien zuerst in Halle, später in Göttingen, oder, auf katholischer Seite, in Straßburg und Würzburg, Freiburg und Wien (S. 36, 26f.). Andererseits standen viele Reichspublizisten in akademischen Lehrämtern einer Reichsreform ablehnend gegenüber, weil nach der Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges und den schwierigen Verhandlungen von Münster und Osnabrück vor allem Stabilität erwünscht war. Diese Juristen, die am Status quo arbeiteten und die Opinio communis des Reichsstaatsrechts formulierten, sind als stillschweigender Widerpart der Reformliteratur stets mitzudenken. Ohne sie hätte die Reichsverfassung, so wie sie nun einmal war, nicht funktionieren können.

 

Die auf das Reformschrifttum konzentrierte Aufmerksamkeit hat notwendigerweise zur Folge, dass die hierher gehörenden Autoren in Vergrößerung wahrgenommen werden, mit der Gefahr, sie zu überschätzen. Bogislaus Philipp Chemnitz ist so berühmt, dass die Entscheidung des Autors, mit seiner Schrift den Gang durch die Reformliteratur zu beginnen, nicht kritisiert werden kann (S. 56ff.). Aber die Radikalität seines Veränderungswillens, die Feindschaft gegen das Haus Habsburg vor allem, lassen ihn doch für einen Zeitraum von 100 Jahren als Sonderfall erscheinen, mit dem die anderen Autoren des 2. Kapitels, Pragmatiker und Patrioten, wenig gemein haben. Unter ihnen finden sich die bekannten Namen Johann Wolfgang Textor und Samuel von Pufendorf (S. 68ff.), natürlich Gottfried Wilhelm Leibniz mit seinem Mentor Johann Christian von Boineburg (S. 88ff., 98ff.). Viel weniger bekannt als Reformschriftsteller sind der zum Katholizismus konvertierte Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels (S. 65ff.), der Würzburger Fürstbischof Peter Philipp von Dernbach (S. 95ff.) und der württembergische Minister Johann Georg von Kulpis (S. 100ff.). Die wichtigste Neuentdeckung aber ist zweifellos Bonfidio Tuiskon, ein anonym gebliebener Autor, der im Jahre 1673 zur Feder griff (S. 83ff.). Motivieren ließen sich diese Autoren zunächst durch die offenen Verfassungsfragen des Westfälischen Friedens, dann aber vor allem durch die Expansionspolitik Ludwigs XIV., die seit 1667 von einer publizistischen Offensive begleitet wurde. In jenem Jahr erschien Antoine Auberys Schrift „Des justes prétentions du roy sur l’empire“, mit welcher große Teile des Reiches für Frankreich als wahrem Nachfolger des Frankenreiches in Anspruch genommen wurden. Es überrascht daher nicht, dass sich die Reformpublizisten besonders der Wehrverfassung des Reiches annahmen. Tuiskon freilich schlug eine umfassende Verfassungsreform vor, welche die Konfessionspolitik, die Justiz, den Reichstag und die Reichswehrverfassung einschließen sollte. Der Autor vermutet hinter dem Pseudonym einen reichsfürstlich und irenisch gesonnenen Offizier. Auch den Würzburger Fürstbischof beschäftigte vor allem die Reichsverteidigung, für die er eine realistische Planung entwarf, nachdem ihm die Organisation und Finanzierung eines eigenen Militärkontingents in seinem Territorium gelungen war. Verwirklicht wurden 1681 in der neuen Reichsdefensionsordnung nur einige der Ideen Dernbachs. Doch ging es auch in dieser frühen Phase der Reformdiskussion nach dem Westfälischen Frieden schon um grundsätzliche Fragen. Bekannt ist Leibniz’ Gedanke, die armierten altfürstlichen Häuser neben den Kurfürsten aufzuwerten und das Reich in ein Bündnis politisch handlungsfähiger deutscher Staaten umzuwandeln. Auch die Säkularisation der geistlichen Güter und Fürstentümer ist ein Thema, das seit der Reformation niemals völlig zur Ruhe kam. Teils möchte man das Kirchenvermögen zu Gunsten des Kaisers eingezogen wissen, so Ernst von Hessen-Rheinfels, teils soll es dazu dienen, eine starke Armee zu unterhalten, wie z. B. Samuel von Pufendorf fordert. Dass es in der Zeit vor dem Aussterben der Habsburger im Mannesstamm zu umfassenderen Reformen  nicht gekommen ist, führt der Autor wohl mit Recht letztlich auf die militärischen Erfolge des Kaiserhauses gegenüber den Türken seit 1683 zurück. Nicht nur die französische Bedrohung galt damit als abgewehrt, das Kaisertum erfuhr selbst auf der bis dahin für brüchig gehaltenen Grundlage der Reichsverfassung eine Aufwertung, die Reformen teils als überflüssig, teils als undurchführbar erscheinen ließ (S. 110, 102 ff.).

 

Die Krisen, die das Reich seit 1740 erschütterten, boten einen guten Nährboden für die Wiederaufnahme der Debatte um die Reichsreform. Der nun ins Haus stehende Dynastiewechsel ließ die Fürsten hoffen, das Projekt der permanenten Wahlkapitulation endlich im Sinne ihrer Interessen durchzusetzen. Erneut schwirrten Säkularisationsprojekte durch das Land (S. 120ff.), ohne dass es zu tieferen Eingriffen in die Reichsverfassung kam. Genau besehen, ist auch der publizistische Ertrag gering. Das lässt sich von der mit dem Siebenjährigen Krieg beginnenden Verfassungsdiskussion und Polemik nicht behaupten. Allein die Tatsache, dass ein bekannter Autor wie Heinrich Gottlob von Justi im Interesse Preußens das alte, skandalöse Buch von Chemnitz, von dem sich jeder anständige Reichspublizist zu distanzieren pflegte, neu herausgab und noch mit einem eigenen Kommentar versah (S. 148ff.), wirft ein Schlaglicht auf die mit dem blutigen Konflikt um Schlesien völlig veränderte Situation im Reich. Nicht zufällig versuchte die preußische Propaganda der machtpolitischen Expansion ihres Königs das Mäntelchen einer Verteidigung protestantischer Freiheiten umzuhängen. Dem Autor ist Recht zu geben, wenn er in Justis Kommentar die Aufkündigung des „ideellen Grundkonsenses“ im Reich erblickt (S. 170ff.). Denn die Zeitgenossen haben in der Kriegszeit nicht nur die bekannten Schlachten wahrgenommen, die bis heute in unseren Geschichtsbüchern überlebten, sondern vor allem eine breit gefächerte Diskussion der Kaisertreuen und der fritzisch Gesinnten. Wenn der Autor unseres Buches daher zu dem Ergebnis gelangt, die konkrete Wirkung der damals verbreiteten Pamphlete mit oft „fingiertem“ politischem Bewusstsein sei zwar schwer nachweisbar, wohl aber habe dieses Schrifttum die Mentalitäten geprägt (S. 181), dann wird man ihm zustimmen müssen. Nicht nur, dass jetzt Säkularisationsprojekte, deren Urheber stets bereit waren, Hand an die Wurzeln der Reichsverfassung zu legen, schon zur Normalität politischer Planungen gehören (S. 135ff.). Vor allem die Fortsetzung der Reichsreformdebatte über den Friedensschluss von 1763 hinaus kann kaum anders gedeutet werden, denn als ein verändertes Bewusstsein der jetzt entstandenen Öffentlichkeit, deren Interesse für das Schicksal des Reiches und seiner Verfassung niemals mehr nachließ.

 

Es sind die Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg, in denen sich der Reichspatriotismus Stimme und Gehör verschafft. Friedrich Karl von Mosers Publizistik kommt insofern vielleicht exemplarische Bedeutung zu. Hatte er Friedrich den Großen zunächst als einen neuen Gustaf Adolph gefeiert, so vollzog er nach der Erfahrung des Krieges und in Hinblick auf die bevorstehende Wahl Josephs II. zum römischen König eine Kehrtwendung gegen die „kriegerische Regierungsart“ (S. 185ff., 187). Der jüngere Moser hat natürlich längst die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich gezogen. Erst eine Längsschnittuntersuchung der Reformdiskussion wie die vorliegende lässt jedoch seine relative Bedeutung im weiten Spektrum der politischen Publizistik klarer erkennen. Sein vom Kaiserhof unterstützter Appell an den Nationalgeist erreichte führende Köpfe seiner Epoche. Moser bezweifelte die Existenz einer deutschen Nation, Herder und Wieland pflichteten ihm bei (S. 195ff., 207ff.). Der Einheit von Reich und Nation stellte Moser den reichsfeindlichen Staatspatriotismus Preußens gegenüber, wodurch er den Hass der Berliner Intellektuellen auf sich zog (S. 212ff.). Dass Friedrich Karl von Moser für den Reichstag ein deutsches Unterhaus als direkte Vertretung der Reichsbevölkerung in Erwägung zog, mag dazu beigetragen haben, dass der Kaiserhof einer Realisierung so weit ausgreifender Pläne nicht näher trat. Aber die Fernwirkungen derartiger Ideen sind nicht zu unterschätzen, dürfte doch schon Hegels bekannte Verfassungsschrift von 1802 von ihnen beeinflusst sein (S. 220ff.).

 

Ihren Höhepunkt erreicht die Reichsreformdebatte im Schatten des 1785 von Preußen ins Leben gerufenen Fürstenbundes. Die Politik Kaiser Josephs II., vor allem sein Plan, den Wittelsbachern im Tausch gegen Bayern die Niederlande anzubieten, provozierte die Frage, ob es dem Kaiser gestattet sein könne, das System der Reichsverfassung eigenmächtig zu ändern. Die öffentliche Diskussion darüber und über das nicht minder fragwürdige Gebilde des Fürstenbundes führte bald zu grundsätzlichen Positionierungen. Teils von den Höfen gefördert, teils sich der Möglichkeit freier Meinungsäußerung bedienend, forderten die Anhänger Preußens die Aufrechterhaltung des Status quo und damit des politischen Gleichgewichts im Reich, während sich die kaiserlich gesonnenen Publizisten der Idee eines nationalen Einheitsstaates unter dem Reichsoberhaupt annäherten (S. 263ff., 273ff., 344ff.). Die deutsche Freiheit zu bewahren, nahm jede Seite für sich in Anspruch (S. 285ff.). In der folgenden Einschätzung des Autors verdichten sich Eindrücke, die in der bisherigen Forschung gelegentlich aufscheinen, keineswegs aber unbestritten sind: „Unübersehbar ist die dynamische Entwicklung des Freiheitsbegriffes in der Nationalgeist- und Fürstenbundpublizistik. Bezeichnete der Begriff noch im 18. Jahrhundert in der Regel ständische Privilegien, so erhielt er, ungeachtet seiner Rückkoppelung an die positiven Gesetze, bereits vor der Französischen Revolution auch in Deutschland eine Bedeutung, die die politische Emanzipation und Partizipation der nichtadeligen Reichseinwohner beinhaltete. Freiheit, Nation, öffentliche Meinung und Verfassung wurden zu eigenständigen Werten.“ (S. 301). Die Debatte kulminiert in der 1787 publizierten Denkschrift Karl Theodor von Dalbergs über „Vorschläge zum Besten des Deutschen Reiches“ (S. 323ff.). Der Mainzer Koadjutor, vorgesehen für eines der höchsten Ämter im Reich, setzte die Ideen Karl Friedrich von Mosers in ein Dokument um, das sich wohl als „Entwurf einer rationalen Verfassung“ (S. 333) bezeichnen lässt. Wenn auch dieser prominente Vordenker einer Reform der Reichsverfassung am Kaiserhof kein Gehör fand, so deshalb, weil er durch seinen geheimen Beitritt zum Fürstenbund politischen Kredit verspielt hatte.

 

In dieser Spätzeit des Reiches kam der Reformdiskurs tatsächlich nicht mehr zum Erliegen. Dazu trug wohl weniger die Französische Revolution als der zeitgleiche, rasch aufeinander folgende Tod zweier Kaiser, Josephs II. 1790 und Leopolds II. 1792, bei. Nicht nur die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Reichsvikare und des Reichstages in der Zeit der Vakanz wurden diskutiert (S. 352ff.). Vor allem an die dem neu gewählten Kaiser zu präsentierende Wahlkapitulation knüpften sich Hoffnungen, dieses im Rechtsherkommen gegründete Instrument als Hebel für die rationale Modernisierung der Reichsverfassung einzusetzen. Prominente Publizisten wie Johann Jakob Moser, Stephan Pütter oder Karl Friedrich von Häberlin verstanden die Wahlkapitulation als „eines der allerwichtigsten Reichsgrundgesetze“, als „das vorzüglichste Reichsgrundgesetz“ oder als „Quint-Essenz aller Reichsgesetze“ (S. 393). Diese Urteile, die der modernen Verfassungsgeschichtsschreibung sehr zu denken geben müssen, erklären, dass mehrfach versucht worden ist, durch Gliederung, Systematisierung und sprachliche Überarbeitung der Wahlkapitulation diese in eine regelrechte Reichsverfassung umzuwandeln (S. 404ff.). Am vollkommensten gelang das wohl dem später als Systematiker des deutschen Bundesrechts sehr bekannt gewordenen Johann Ludwig Klüber. Nach ihm hätte eine solche, aus der Wahlkapitulation zu entwickelnde Reichsverfassung folgendermaßen aussehen können, hier nach dem Bericht unseres Autors: „Artikel I und II waren dem Kaiser gewidmet, III und IV der Kirche und der Religion, die Artikel V-VII den Reichsunmittelbaren und Mittelbaren, VIII-IX dem Reichstag und den Reichskreisen, X-XV der Reichsjustiz und der Kanzlei, XVI-XX den Reichssteuern und ‑anlagen, der Wirtschaft, den Zöllen, dem Münzewesen und dem Handel ... Artikel XXIII beschäftigte sich mit dem Postwesen, ... Artikel XXIV war den Reichslehen gewidmet. ... Die Artikel XXV-XVII handelten von Krieg, Frieden, Werbungen, Einquartierungen, Durchmärschen und dem Bündnisrecht“ (S. 409). Die in Artikel XIX angesprochenen Standeserhöhungen mögen – so unser Autor – systematisch fragwürdig eingeordnet worden sein. In der Praxis handelte es sich um eines der vielleicht wichtigsten Reservatrechte des Kaisers, das ihm eine Einflussnahme auf die Familienverhältnisse des hohen Adels gestattete. Für kurze Zeit, als sich für die Zukunft eine Zusammenarbeit zwischen Kaiser Leopold II. und Dalberg abzeichnete, öffnete sich ein historisches Fenster, das der Reform der Reichsverfassung im Sinne der Aufklärung eine reale Chance bot (S. 420). Wenn sie auch nicht wahrgenommen werden konnte, so war es doch „im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch im Deutschen Reich zu einem Umbruch im Verfassungsverständnis gekommen ... Der Verfassungsbegriff wurde mit dem Vernunftrecht und der politischen Theorie der Aufklärung verbunden“ (S. 438). Die Darstellung der Reformdiskussion geht zu Ende mit einem Bericht über eine bisher wenig beachtete Preisfrage der Mainzer Akademie, die inhaltlich freilich schon von den Herausforderungen der Französischen Revolution geprägt gewesen ist (S. 454ff.), und dem Hinweis auf ein gleich dreibändiges Werk eines anonymen Autors, in dem dieser eine „Kritik der deutschen Reichsverfassung“ entwickelt (S. 475ff.). Obwohl in den Jahren 1796 bis 1798 veröffentlicht, ist es dem jakobinischen Schrifttum nicht zuzuordnen. Der Verfasser entwickelt das Konzept einer zwar auf republikanischen Grundlagen beruhenden, letztlich aber wohl doch konstitutionellen Monarchie. Einer so umfangreichen Monographie wäre einmal eine Einzelstudie zu widmen. Dem Autor gebührt Dank für die Wiederentdeckung dieses Werkes.

 

Es kann nicht ausbleiben, dass im Laufe der Lektüre eines über 550 Seiten starken Buches auch Fragezeichen notiert werden müssen, wird doch kaum ein Leser allen Bewertungen des Autors folgen wollen. So vermag ich nicht zu erkennen, dass „die Reichsreformpublizistik ... die Paradigmen der Staatsrechtslehre des 18. Jahrhunderts hervor(gebracht)“ habe (S. 52). Dafür ist denn doch das naturrechtliche Denken von ungleich größerer Bedeutung, geht aus seinem Schoß doch die Lehre vom „Allgemeinen Staatsrecht“ hervor, deren Einfluss auf die Reichsreformpublizistik unverkennbar ist. Auch habe ich Zweifel, ob angesichts der realen Machtverhältnisse „das wittelsbachische Kaisertum ... eine Chance (bot), die Entwicklung Deutschlands grundlegend zu ändern“ (S. 129). Und schließlich kann man dem ehrbaren Friedrich Karl von Moser nicht die Begründung des deutschen Nationalismus anlasten (S. 217). Von solchen, seltenen, gedanklichen Fehltritten abgesehen, zeichnet sich die noch von Winfried Schulze in Bochum betreute Dissertation durch eine vertraute Kenntnis der Verfassungsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches und auch Respekt vor diesem politischen System aus. Wenn dabei Preußen und die borussophile Historiographie gelegentlich weniger gut wegkommen, so liegt das in der Natur der Sache. Hat man sich in das Staatsrecht und die Anliegen der Vordenker einer Reichsreform erst einmal hineingedacht, dann bleibt wenig Raum für Verständnis gegenüber der rücksichtslosen Modernität preußischer Politik. – Gegen den nahe liegenden Vorwurf, den Umfang des Buches durch sehr ausführliche Inhaltsangaben über die studierten Reformschriften aufgebläht zu haben, ist der Autor in Schutz zu nehmen. Viele dieser Schriften sind kaum bekannt und nicht leicht zugänglich. Erst die hier geleistete Erschließungsarbeit erlaubt einen Einblick in Denkprozesse, die bisher nur in Teilen bekannt waren. Dass dabei auch eine begriffsgeschichtliche Fundgrube eröffnet worden ist, sei nur am Rande vermerkt.

 

Wenn der Autor in seinem abschließenden Resümee sein Thema eigentlich überschreitet und Gründe für das Scheitern der Reichsreform nennt, die „wiederholt in greifbarer Nähe“ gewesen ist (S. 511), dann kommt er damit der Frage des Lesers nur zuvor. Und sicher bietet auch die Perspektive des Autors spezifische Erklärungsmöglichkeiten. Seine acht Gründe für das Ausbleiben der Reichsreform seien daher abschließend kurz referiert (S. 508 f.): Die politisch-geographische Fragmentierung des Reiches führte zu einer Fragmentierung der Reformenergien; es fehlte die Hauptstadt als „Zentralbühne“ (Michael Stolleis) der Reformdiskussion; die Reformen des aufgeklärten Absolutismus verhinderten in Deutschland das Entstehen einer explosiven Situation wie in Frankreich; die Reformpublizisten standen in Diensten der Reichsstände, die es aber gerade gewesen sind, die die Reform verhinderten; das Reformdenken war zuwenig um die konkrete Umsetzung der Reformvorschläge bemüht; die aufgeklärten Reformpublizisten wendeten sich einerseits gegen repressive Obrigkeiten, wollten andererseits aber auch ein Ausufern der Verfassungsdiskussion im Sinne der Égalité vermeiden; die Reichsreform widersprach der Staatsräson der Nachbarn des Reiches; „letztlich war es immer wieder der mangelnde Konsens der Reichsstände bzw. der Reichsstände und des Kaisers, der die Reform der Reichsverfassung verhinderte“. – Das Buch von Wolfgang Burgdorf wird in der Literatur über die Spätzeit des Heiligen Römischen Reichs den Platz eines Standardwerkes zu seinem Thema behaupten.

 

Würzburg                                                                                                            Dietmar Willoweit