Birr, Christiane, Konflikt und Strafgericht. Der Ausbau der Zentgerichtsbarkeit der Würzburger Fürstbischöfe
zu Beginn der frühen Neuzeit (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der
Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 5). Böhlau, Köln
2002. XXXVII, 394 S.
Die in Würzburg
bei Dietmar Willoweit im Zusammenhang mit dem DFG-Projekt zur „Entstehung des
öffentlichen Strafrechts“ entstandene Dissertation bietet mehr, als sie im
Untertitel ankündigt. Denn nicht nur um den Ausbau der Hochgerichtsbarkeit im
Kontext des sich verfestigenden Territorialstaates geht es, sondern auch um die
gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren zur rechtlichen Sanktionierung
von Delinquenz, angefangen beim urtümlichen „sich vertragen“ zwischen Täter und
Geschädigten bis zum modernen, ex officio
in Gang gesetzten Inquisitionsverfahren. Dies macht den zentralen Teil der
Arbeit aus, in dem zunächst die Verfassung der Nieder- und Hochgerichtsbarkeit,
der Dorf-, Stadt- und Zentgerichte des Hochstifts (Teil 2), und sodann die
verschiedenen Verfahrenswege (Teil 3) dargestellt werden. Die Einleitung
unterrichtet zuvor über die Quellen, darunter nicht zuletzt auch die Weistümer;
der erste Teil stellt die im Mittelpunkt der Darstellung stehenden drei
Zentbezirke (die Zenten Fladungen in der Rhön, Karlstadt am Main und Ebenhausen
bei Kissingen) und ihre Einbindung in das Territorium der Würzburger Bischöfe
vor. Im vierten Teil schließlich bringt die Verfasserin „Beobachtungen zur Rechtsentstehung“
– dieser Teil bietet für rechtstheoretische Fragestellungen ohne Zweifel das
meiste: Anhand einer Vielzahl vor allem ländlicher Quellen wird der Prozess der
Rechtsentstehung im Übergang zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf der
Grundlage von Gebot, Konsens und Gewohnheit sichtbar gemacht. Die quellennahe
Studie von Christiane Birr zeigt, wie sich obrigkeitliches
Gebot, genossenschaftliche Übereinkunft und Gewohnheit in der Genese der
einzelnen Norm miteinander verbinden; Begriffe wie „Gebot“ und „Gewohnheit“
stellen hier – auch wenn sie sich in den zeitgenössischen Quellen durchaus
finden lassen – nur idealtypische Faktoren dar, die in der Regel nur einen Aspekt der Normentstehung
erfassen: Spricht man etwa von einer „Holzordnung“, wie sie im 16. Jahrhundert
nahezu allerorten erlassen wird, dann bedeutet das keineswegs – was man mit dem
Begriff der „Ordnung“ vielleicht assoziieren könnte -, dass man dabei in jedem
Fall einem ganz auf obrigkeitlichem Gebot
beruhenden Gesetz begegnet. Das von der Verfasserin behandelte Beispiel einer
dörflichen „Holzordnung“ aus der Rhön zeigt vielmehr, wie solch eine „Ordnung“
zu Beginn auch durch eine mündliche Übereinkunft zwischen dem Ortsherrn und der
Gemeinde, also im Kern durch eine „Einung“, statuiert werden kann (S. 275ff.) –
eine Einung, die zudem noch mit dem „alten Herkommen“ begründet wird. Zunächst
bleibt es bei der mündlichen Tradition der Normen, über deren genauen Gehalt
allerdings in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine „Kundschaft“ eingeholt wird,
die dann wiederum aufgezeichnet und notariell beurkundet wird. Was also zu
diesem Zeitpunkt als „Holzordnung“ in schriftlicher Form zutage tritt, hat mit
einem obrigkeitlichen Normgebungsakt kaum etwas gemein: Es ist lediglich die
Aufzeichnung zuvor mündlich tradierter Normen, die zudem in Teilen auf „altes
Herkommen“ zurückgeführt werden.
Ob man nun unbedingt auf der wohl etwas
überspitzten Unterscheidung „Weisen“, „Rechtskundschaften“, „Recht-behalten“
(S. 280ff.) beharren möchte, sei dahingestellt – das Differenzierungskriterium,
dass die „Weisenden“ nicht der „Wahrheit“, sondern nur „ihrem Herrn“ (S. 282)
verpflichtet gewesen seien, erscheint mir eher zweifelhaft, denn es mag sein,
dass die Weistümer sehr häufig auf Initiative der Herrschaftsträger entstanden
sind, dass die weisenden Gremien aber deshalb der erfragenden Herrschaft im
Sinne bestimmter Aussagen verpflichtet gewesen sein sollen, kann die
Verfasserin aber nicht ausreichend belegen. Vollkommen zuzustimmen ist ihr
aber, wenn sie betont, dass das Bild „von der Ordnung als einer einseitig durch
die Herrschaft erlassenen Satzung“ aufgeweicht würde (S. 275, Fn. 58). Diesen
Aspekt mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Normgenese hätte die Verfasserin
vielleicht noch vertiefen und dabei lieber den wohl etwas zu anekdotisch
geratenen ersten Teil schmaler ausfallen lassen können. Dennoch: Die Arbeit
vermittelt einen lebendigen Eindruck von der frühneuzeitlichen
Gerichtsverfassung und den in ihrem Rahmen ablaufenden Rechtsbildungsvorgängen.
Frankfurt am Main Thomas Simon