Zehn (10) Jahre deutsche Rechtseinheit, hg. v. Koch, Elisabeth. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001. VII, 244 S.

 

Zehn Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gibt ein runder Gedenktag reichlich Anlass für eine umfassendere Zwischenbilanz. Der vorliegende und von Elisabeth Koch herausgegebene Sammelband enthält elf abgedruckte Vorträge, die im Wintersemester 2000/2001 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena im Rahmen einer Ringvorlesung gehalten wurden. Die einzelnen Themenbereiche richten ihre Scheinwerfer auf die unterschiedlichsten Probleme, die mit dem Transformationsprozess des ostdeutschen Rechtssystems im Zuge der Rechtsvereinheitlichung verbunden waren und teilweise noch immer sind. Wenngleich die rechtlichen Konsequenzen dieses Prozesses überall zu spüren sind, zeigen sie sich besonders deutlich dort, wo das Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem der Deutschen Demokratischen Republik - wie etwa das Beispiel der ostdeutschen Wirtschaftsverträge veranschaulicht - miteinander verschmolzen oder zumindest ineinander verzahnt waren. Nach einem anfänglichen Wirrwarr an Vorschriften, Durchgangsbestimmungen und Kollisionsregelungen, die große Anstrengungen der Rechtsordnung und großes Verständnis der betroffenen Verkehrsteilsnehmers erforderlich machten, konnten die Problemlagen mittlerweile entweder ausgedünnt werden oder stehen vor ihrer Beilegung durch Zeitablauf. Als Fels in stürmischer Brandung erwies sich in der Regel einmal mehr das Bürgerliche Gesetzbuch, während sich sowohl viele Untergerichte als auch die beteiligten Rechtspraktiker meist überfordert zeigten und sich die Rechtswissenschaft nur langsam der brodelnden Materie zuwandte. Wie nicht nur der vorliegende Sammelband beweist, ist das Interesse des Schrifttums freilich mittlerweile geweckt und die Aufarbeitung der ostdeutschen Rechtsgeschichte sowie der rechtlichen Konsequenzen des Transformationsprozesses in vollem Gange.

 

Im einzelnen setzt sich der Sammelband aus den folgenden Beiträgen zusammen:

 

Der Vortrag von Martina Haedrich, „Menschenrechte zwischen Aufbruch und Wende - Wirkungen und Nachwirkungen“ (S. 1-19), schildert den dornenreichen Weg der Sensibilisierung um den Stellenwert von (in der DDR-Verfassung verbürgten, aber kaum beachteten) Grundrechten und allgemeiner Menschenrechte bis zum November 1989 sowie die nachfolgenden Bestrebungen zu einem „Überdenken“ des tradierten Grundverständnisses im Rahmen einer Überarbeitung des Grundgesetzes. Der Beitrag nennt im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts die zahlreichen Konfliktherde, die trotz der grundsätzlich reibungslos verlaufenden Herstellung der deutschen Rechtseinheit mittlerweile aufgetreten sind. Als Stichworte mögen an dieser Stelle nur die anhaltenden Diskussionen um die Durchsetzung des Gleichheitssatzes etwa innerhalb des Besoldungsrechts oder etwa die Bestrebungen zur Anerkennung weitergehender „sozialer“ Grundrechte genügen.

 

Udo Ebert beschäftigt sich inAus Recht wird Unrecht? Deutsche Wiedervereinigung und Strafrecht“ (S. 23-45) mit einem Leitthema der ostdeutschen Rechtswirklichkeit, der strafrechtlichen Behandlung von „DDR-Unrecht“. Dabei werden zwei Fragen aufgeworfen: 1.) Zu welchem Strafrecht hat die Wiedervereinigung geführt? und 2.) inwieweit ist es gelungen, mit den Mitteln des Strafrechts Unrecht des SED-Regimes aufzuarbeiten? Geboten wird ein kritischer und zugleich differenzierter Überblick des bisherigen Diskussionstands. Am Ende zieht Ebert eine ambivalente Bilanz: Während es gelungen sei, in kurzer Zeit den (westdeutschen) Rechtsstaatsstandard auf das wiedervereinigte Deutschland auszuweiten, sei die Aufarbeitung des SED-Unrechts mit rechtsstaatlichen Mitteln nur eingeschränkt geglückt.

 

Eberhard Eichenhofer bleibt die Antwort auf die gestellte Frage: „Wende - Ende sozialer Sicherheit?“ (S. 47-65) nicht schuldig: Nach einer ebenfalls kritischen Bestandsaufnahme der vormals propagierten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ sowie der mittlerweile von einer nostalgischen Welle getragenen sozialen „Errungenschaften“ der DDR, wird mit einem Hinweis auf die Zahlungsunfähigkeit des sozialistischen Einheitsstaates und einem Appell zur Schaffung einer menschlichen Ordnung (S. 65) realistisch resümiert: „Die DDR ist nicht daran gescheitert, daß ihre so wortreich und blumig propagierten Ziele unzulänglich umgesetzt worden wären. Nein, die DDR ist daran gescheitert, weil sie verwirklichte, was sie sich vorgenommen hatte“ (S. 60). Und etwas später: „Die soziale Sicherheit der DDR war auf Sand gebaut und zerstieb - als deutlich wurde, daß den sozialpolitischen Versprechungen die notwendige Wirtschaftskraft fehlte“ (S. 65).

 

„In der DDR war alles ganz einfach ... - Zum Zivilgesetzbuch der DDR und seiner Ablösung“ lautet der Vortrag von Gerhard Lingelbach (S. 67-87), der sich inhaltlich in drei Themenbereiche gliedert. So wird zunächst der Frage nach dem zivilistischen Selbstverständnis im Osten Deutschlands nach 1945 nachgegangen. Es folgt eine strukturelle und inhaltliche Analyse der DDR-(Zivil)Rechtsordnung, an die sich die vorsichtige Suche nach den Möglichkeiten einer selektiven Übertragung in das bundesdeutsche Recht anschließt. Insgesamt wird deutlich, dass das ostdeutsche Zivilrecht trotz seines grundsätzlich „unpolitischen“ Charakters nicht davor gefeit blieb, in den Sog des sozialistischen Rechtsverständnisses zu geraten.

 

Dietrich V. Simons Beitrag beleuchtet einzelne Entwicklungslinien „Von der sozialistischen und von der bürgerlichen zur postmodernen Familie“ (S. 89-109). Deutlich werden einerseits die stark indoktrinären Züge des ostdeutschen Familienrechts, das 1965/66 in die Form eines Familiengesetzbuches gegossen, kurz und übersichtlich gehalten werden konnte, da viele in bürgerlichen Gesellschaften den Familien übertragenen Aufgaben von der sozialistischen Erziehungsdiktatur beansprucht wurden (siehe z. B. das sozialistische Elternrecht als staatsbürgerliche Aufgabe). Nicht verschwiegen werden andererseits die zahlreichen „modernen“ Elemente des ostdeutschen Familienrechts, die - freilich immer vor dem Postulat einer „sozialistischen Persönlichkeitbildung“ - nicht zuletzt in der Abschaffung des Patriarchats, der Gleichstellung von Mann und Frau, der Reform des Scheidungsrechts und im nichtehelichen Kindschaftsrecht ihren Ausdruck fanden.

 

Nur geringe Schwierigkeiten einer Rechtsvereinheitlichung sieht Olaf Werner in seinem Beitrag „Angleichung des Erbrechts“, S. 111-130, die aus diesem Grunde bereits weit vorangeschritten sei. Als Ursache hierfür nennt der Autor die gemeinsamen erbrechtlichen Grundlagen des Zivilgesetzbuchs und des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die auch in den Jahren der staatlichen Trennung Unterschiede nur im Detail zuließen.

 

Von weitaus größeren Angleichungsproblemen handelt der Vortrag Hartmut Oetkers, „Wirtschaftsverträge in der DDR - von der Planerfüllung zur Marktwirtschaft“ (S. 131-154). Der Beitrag verdeutlicht insbesondere die mit dem schmerzhaften Transformationsprozess einhergehenden Herausforderungen, die es zu meistern galt, um die an planwirtschaftlichen Prämissen ausgerichteten engen vertraglichen Verflechtungen der volkseigenen Wirtschaftseinheiten untereinander aufzulösen und die bis dato ideologisch geprägten Vertragsbeziehungen in ein marktorientiertes Rechts- und Wirtschaftssystem zu überführen.

 

Von ähnlichen Schwierigkeiten weiß der Artikel von Walter Bayer, „Erfolgreiche und fehlgeschlagene LPG-Umwandlungen: Hat sich das neue Recht bewährt?“ (S. 155-184) zu berichten. Wenngleich der Strukturwandel innerhalb der ostdeutschen Landwirtschaft und die mit ihm einhergehenden Vermögensauseinandersetzungen heute sowohl in wirtschaftlicher als auch rechtlicher Sicht im Großen und Ganzen bewältigt sind, gelingt es dem Autor immer wieder seinen Finger in die brennenden Wunden zu legen, die von einer in vielen Fällen mangelhaften Rückführung des in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften eingebrachten Eigentums in Privateigentum aufgerissen wurden und nur langsam verheilen können.

 

Mit Heiner Alwarts, „Untreue, Korruption, Verrat, Fälschung. Wird die Herstellung der deutschen Einheit zum Bumerang? Zugleich ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Beweisverwertungsverbote und zur Reichweite des Persönlichkeitsschutzes“ (S. 185-207) wird einer vielerorts beschworenen rechtlichen und moralischen westdeutschen „Überlegenheit“ eindrucksvoll der Spiegel vor das Gesicht gehalten. Der Vortrag thematisiert im Zusammenhang mit der „Wende“ auch auf westdeutscher Seite begangene Unregelmäßigkeiten (Parteienspenden, Beweisverwertungsverbote hinsichtlich MfG-Unterlagen etc.) und beleuchtet damit das Ost-West-Verhältnis aus einem ungewohnten, für die rechtsstaatliche Integrität der Bundesrepublik Deutschlands jedoch grundsätzlichen Blickwinkel.

 

Michael Brenner unterstreicht in „Das Grundgesetz im Jahre 10 nach der Wiedervereinigung“ (S. 209-227) die zahlreichen gesetzlichen Veränderungen und (bundesverfassungs-)richterlichen Rechtsfortbildungen, die dem Grundgesetz seit der Wiedervereinigung zwar ein verändertes Gesicht gegeben haben, gleichzeitig aber erfolgreich den anfänglichen Rufen nach einer neuen deutschen Verfassung zu widerstehen vermochten.

 

Der Sammelband endet mit einem historischen Aufriss zur rechtlichen Einheit Deutschland. Elisabeth Koch führt uns dabei beginnend von der Rezeption römischen Rechts durch die einzelnen Stadien der deutschen (Rechts-)Entwicklung bis hin zum gegenwärtigen Vereinheitlichungsprozess („Wege zur Rechtseinheit in der deutsche Geschichte“, S. 229-244).

 

Das vorliegende Kompendium erweist sich in mehrfacher Hinsicht als verdienstvoll. Bei einer geglückten Auswahl der einzelnen Themenbereiche werden verschiedene Seiten der DDR-(Rechts-)geschichte aufgeschlagen sowie die im Rahmen der Herstellung der deutschen Rechtseinheit unumgänglichen gesellschaftlichen und juristischen Friktionen durchleuchtet, ohne dabei gleichzeitig der Gefahr zu erliegen, ein allzu einseitiges Urteil über die rechtlichen Vorgaben sowie die Entwicklungen der vergangenen 10 Jahre zu fällen. Vielmehr werden auch die vereinzelt positiven Tendenzen der ostdeutschen Rechtsordnung nicht übersehen, die an einigen Stellen mittlerweile auch ihre Spuren in der bundesdeutschen Rechtswirklichkeit hinterlassen haben (etwa hinsichtlich der Gleichstellung von nichtehelichen Kindern im Rahmen des Erbrechtsgleichstellungsgesetzes). Damit stellt der Band einen weiteren Mosaikstein einer sachlichen Aufarbeitung der neueren deutschen Geschichte dar, der sich sowohl gegen eine einseitige Aburteilung der ostdeutschen Vergangenheit als auch gegen eine spürbar aufkeimende ostdeutsche Nostalgiewelle wendet. Am Ende kann ein verhalten positives Resümee hinsichtlich der vergleichslosen Liquidierung eines vor dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollaps stehenden Regimes gezogen werden, wenngleich weitreichende Fehler auch im rechtlichen Vereinigungsprozess nicht zu übersehen sind. Dasselbe muss leider auch für die schmerzhafte Tatsache gelten, dass die „innere Einheit“ mit den rechtlichen Vereinheitlichungsanstrengungen bisher nicht Schritt zu halten vermochte.

 

Tübingen                                                                                                        Dieter Waibel