Wetzell, Richard F., Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880-1945 (= Studies in Legal History). University of North Carolina Press, Chapel Hill 2000. XVI, 348 S.
Es gibt neben den Werken Charles Darwins wohl kaum einen anderen „Bestseller“ des 19. Jahrhunderts, der den Blick auf „den Menschen“ stärker veränderte, als Cesare Lombrosos „L’uomo delinquente“ von 1876. Zwar wurde die These vom „geborenen Verbrecher“, eine Kampfansage an das liberale Denken des bürgerlichen Zeitalters mit seiner Doktrin der Willensfreiheit, von nur wenigen anthropologisch interessierten Wissenschaftlern unkritisch übernommen. Trotzdem revolutionierte seine Betrachtungsweise des delinquenten Menschen die internationale Diskussion über die Ursprünge des Verbrechens und die Möglichkeiten seiner Bekämpfung.
Richard F. Wetzell, zur Zeit Research Fellow am Deutschen Historischen Institut in Washington, hat sich in seinem Werk mit dem programmatischen Titel „Inventing the Criminal“ einem Thema zugewandt, das bislang von der (rechts-)historischen Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden ist: der Geschichte der deutschen Kriminologie und ihrer Betrachtung des „normalen“, „unpolitischen“ Kriminellen. Ihm geht es dabei explizit nicht um die praktische, anwendungsorientierte Seite dieser Wissenschaft, wie sie zuletzt überzeugend von Patrick Wagner in seiner Dissertation „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolitik in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus“ (1996) dargelegt worden ist. Wetzell analysiert in seinem sehr gut lesbaren und klar strukturierten Buch vielmehr ausschließlich die wissenschaftsinterne Diskussion und versteht sein Werk in erster Linie als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung, die bis in die 1880er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreicht, liegt eindeutig in der NS-Zeit; im siebten und letzten Kapitel seines Buches durchbricht er die ansonsten chronologische Gliederung und widmet sich seinem Kernthema „Criminology and Eugenics“. Inspiriert von den theoretischen Erklärungsansätzen Michel Foucaults und Detlef Peukerts versucht Wetzell, die Stellung und den Beitrag der deutschen Kriminologie zu den eugenisch-motivierten Verbrechen des NS-Staates: Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“-Morde, zu benennen.
Wetzell gelingt es überzeugend, den herausragenden und im internationalen Vergleich auffällig starken Anteil der deutschen Psychiatrie an der Entwicklung und Formung der neuen kriminologischen Wissenschaft darzulegen. Die beiden ersten kriminologischen Standardwerke stammen aus der Feder zweier Ärzte: Emil Kraepelins „Lehrbuch für Psychiatrie“ (mehrere Auflagen seit 1883) und Gustav Aschaffenburgs „Das Verbrechen und seine Bekämpfung“ (erste Auflage 1903) prägten ganze Generationen von „Verbrechensbekämpfern“ in Justiz und Verwaltung. Erst mit Edmund Mezgers „Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage“ (1934) und Franz Exners „Kriminalbiologie“ (1939) gelang es zwei Juristen, in diesem, auch heute noch stark interdisziplinär angelegten, wissenschaftlichen Feld die Rechtswissenschaft dominant zu etablieren. Das Interesse der Kriminologen richtete sich vor allem auf die Betrachtung der rückfälligen Kriminellen, der „gemeinschädlichen Asozialen“ und der „gemeingefährlichen Antisozialen“. Die Erklärung ihrer Delinquenz schwankte zwischen der Betonung von Erb- oder Gesellschaftsfaktoren (Anlage oder Umwelt), wobei Erstere im Zuge der Lombroso-Rezeption seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend an Gewicht gewannen und als „kriminalbiologische“ Sichtweise zur meinungsführenden, „modernen“ Richtung der Kriminologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde. Für Wetzell besteht daher eine direkte Verbindungslinie zur „rassenhygienischen“ Politik des NS-Staates. Neben dieser von ihm beschriebenen „complicity“ der kriminologischen Wissenschaft betont er jedoch ebenso die auch nach 1933 bestehende „complexity“ der Wissenschaft im NS-Staat: Trotz enger Beziehungen zur politischen Ebene - so die These Wetzells - kam es nicht zur Etablierung „der“ nationalsozialistischen Kriminologie.
Wetzell gelingt es mit seinem Buch, die Erkenntnisse der bereits seit längerem etablierten medizinischen und insbesonderen psychiatrischen Zeitgeschichte für den Bereich der Kriminologie nutzbar zu machen. Durch seine fast ausschließliche Berücksichtigung der wissenschaftlichen Veröffentlichungsebene vernachlässigt er jedoch die historisch vorhandenen Wechselwirkungen zwischen Praxis und Wissenschaft, zwischen Verwaltung (Strafvollzug u. a. m.), Politik und Experten; als ein Beispiel sei hier die „Verwahrungsdebatte“ in der Weimarer Republik zu nennen. Für den rechtshistorisch interessierten Leser kommt beim historischen Rückblick der Anteil der Rechtswissenschaftler, erwähnt sei hier vor allem Franz von Liszt und seine Internationale Kriminalistische Vereinigung, eindeutig zu kurz. Hinzu kommt, dass die Kriminologie von Anfang an nicht nur ein interdisziplinär, sondern auch stark international ausgerichtetes Fach war, dessen grenzüberschreitende Rezeptions- und Kongressaktivitäten auch im NS-Staat fortgeführt wurden. Als weiterer Kritikpunkt ist die zeitliche Beschränkung auf die Jahre des NS-Staates zu nennen: Kann das politische Zäsurjahr 1945 tatsächlich auch für die kriminologische Wissenschaft Geltung beanspruchen? Gab es hier nicht eindeutige Kontinuitäten in die 1950er Jahre der Bundesrepublik Deutschland hinein, die zum Beispiel an nur kosmetisch überarbeiteten Neuauflagen älterer (NS-)Werke zur Kriminologie deutlich werden? Abschließend sei noch die Frage aufgeworfen, ob Wetzell mit seiner Beschränkung der nationalsozialistischen Ideologie auf den biologischen Rassenaspekt (Blut) nicht zu kurz greift: Inwieweit hatte nicht durch die völkische Komponente des Nationalsozialismus (Raum und Boden) auch der Umweltfaktor seinen berechtigten Platz in einer NS-Kriminologie? Trotz aller Kritik ist jedoch festzuhalten, dass Wetzell mit seinem Werk ein hervorragender und innovativer Überblick zur modernen Wissenschaftsgeschichte der deutschen Kriminologie gelungen ist, dessen rasche Übersetzung für den deutschsprachigen Markt sehr zu wünschen ist.
Saarbrücken Rainer Möhler