Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September bis 1. Oktober 1999, hg. v. Schröder, Jan (= Contubernium 58). Steiner, Stuttgart 2001. 355 S.

 

Drei Jahre nach dem Erscheinen der Beiträge zum Tübinger Symposion „Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis 18. Jahrhundert“ von 1996 (Contubernium Band 46) vereinigt der jetzt vorliegende Band Beiträge von Autoren, von denen einige bereits zu jenem Bande beigesteuert haben. Ahnlich wie beim Vorgängerband ist der Haupttitel „Theorie der Interpretation ...“ zu anspruchsvoll gewählt und durch die voranzustellenden Worte „Beiträge zu ...“ einzuschränken.

 

Die Beiträge auch dieses Bandes (die hier nicht rezensierten zu Theologie und Philosophie eingeschlossen) sind durchweg lesenswert, aus allerdings sehr verschiedenen Gründen. Mehrfachteilnehmer solcher Serienereignisse müssen vielseitig sein, müssen zeigen, daß sie zu diesem wie jenem Rahmenthema beitragen können. Bei Kolloquien dieser Art versammeln sich außer jenen, die aus dem Vollen ihrer bereits in Jahrzehnten angehäuften Kompetenzen und Materialien schöpfen (in diesem Falle aus dem Kreis der Rechtshistoriker Klaus Luig, Clausdieter Schott, Gerhard Otte, Joachim Rückert) auch solche, die für das jetzt anstehende Thema erstmals im Einsatz und insoweit als „Anfänger“ und „Neulinge“ agieren.

 

Maximiliane Kriechbaum - Rechtshistorikerin von Rang, als Alciat-Forscherin aber doch Debütantin - zeigt bereits mit der Wahl des Themas „Verba und mens bei Andreas Alciat (1492 bis 1550“ einigen Mut. Mutigen Neulingen wird es nachgesehen, wenn sie erkennen lassen, den Stand der Forschung nicht in allen Einzelheiten zu überblicken. So verweist Kriechbaum für die gesamte Alciat-Forschung ganz einfach auf den kleinen Alicat-Artikel von A. Krauß in Kleinheyer/Schröders Juristenlexikon. Im übrigen wird das Rad neu erfunden und werden in den Anmerkungen rigoros fast nur noch „Quellen zitiert“. Höflichkeitsgesten gegenüber real oder virtuell Anwesenden erfordern natürlich Ausnahmen: Maclean wird in den Fußnoten 1, 7, 10, 30, 37, 52 und 107 genannt, Rückert in Fußnote 58 und natürlich auch Gastgeber Schröder in den Fußnoten 40, 41, 61, 77, 78, 81, 88 und 107. Hier und da wird auf Standardwerke (Wieackers Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Larenz' Methodenlehre, aber auch Friedrich Müllers Juristische Methodik) oder besonders bekannte Monographien (Nobert Horns Aequitas in den Lehren des Baldus) hingewiesen. Das Ergebnis kann dann vom Herausgeber S. 10 so zusammengefaßt werden, daß nach Kriechbaum die „humanistischen Interpretationslehren“ dadurch charakterisiert sind, „daß sie den Gegensatz von Wortlaut und Sinn auflösen und die Aufgabe der Interpretation nur noch in die Sinnermittlung verlegen“. Was soll man dazu sagen?

 

Ähnlich ergiebige Kurzhinweise liefert Schröders Einführung (S. 9-12) auch für die übrigen Beiträge (Ulrich Köpf, Die Hermeneutik Martin Luthers; Ian Maclean, Textauslegung und Hermeneutik in den juristischen und medizinischen Fächern der späten Renaissance: Auctoritas, ratio, experientia; Lutz Danneberg, Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert; Klaus Luig, Die Auslegung von Willenserklärungen im Naturrecht von Grotius bis Wolff; Clausdieter Schott, „Interpretatio cessat in claris“. Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit in der juristischen Hermeneutik; Gerhard Otte, Zu A. F. J. Thibauts „Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts“; Joachim Hruschka, Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts; Hermann Beisler, Die Unergründlichkeit des Werkes und die Unendlichkeit der Interpretation; Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibelhermeneutik; Oliver R. Scholz, Jenseits der Legende - Auf der Suche nach den genuinen Leistungen Schleiermachers für die allgemeine Hermeneutik; Joachim Rückert, Savignys Hermeneutik - Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie; Axel Bühler, Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung bei Friedrich Karl von Savigny).

 

An den Eckpunkten des breiten Spektrums der Qualität der die Rechtsgeschichte behandelnden oder berührenden Arbeiten stehen meines Erachtens die Beiträge von Ian Maclean einerseits, Joachim Rückert andererseits. Kernstück von Rückerts Beitrag, mit dem er seine Savigny-Forschungen fortsetzt, weiterführt, auf neue Höhen führt (Stephan Meders „Urteilen“ von 1999 lag zur Zeit des Symposions noch nicht vor), ist der Abschnitt über „Savigny und Schleiermachers Hermeneutik“. Außer einigen, eher wenigen „direkten Bezügen“ zwischen beiden gibt es „Bezüge in der Sache“, zu denen in neun Unterpunkten sehr eindrucksvolle Dokumentationen und Interpretationen vorgelegt werden, beispielsweise zum „Verstehen als Rekonstruktion“, zum „Sich-zurück-Versetzen“ und „den Autor besser verstehen“, zur „Gründung des Verstehens auf Anschauung“, zur „Ablehnung des Ansatzes beim Dunklen“ und schließlich zur „Interpretation als 'Forschung' und 'Wissenschaft'“. In allen neun Punkten, die S. 313 aufgelistet und S. 314-324 abgearbeitet werden, „lassen sich...beachtliche Parallelen zwischen Savigny und Schleiermacher finden“. Es handelt sich, mit den Worten Rückerts, um ein „kongeniales Theorielager“ (S. 324), und indem Rückert zeigt, daß Interpretation in der Tat als „Forschung“ und als „Wissenschaft“ möglich ist, kann ihm mit den Schlußworten von Schillers „Die Bürgschaft“ attestiert werden, er sei „in ihrem Bunde der dritte“.

 

Dagegen zeigt der Beitrag von Ian Maclean einmal mehr, daß Aussagen zur Jurisprudenz der von ihm sogenannten „späten Renaissance“ nur aufgrund ausreichender Kenntnisse und Vorstellungen über die Eigenart römischer Jurisprudenz, der Quellen- und der Wirkungsgeschichte des römischen Rechts (und der einschlägigen Fachliteratur) gemacht werden können. „Schon um 1500 fingen Gelehrte an, die neuen Entdeckungen der Humanisten und ihre philologischen Methoden in ihren Fachgebieten anzuwenden“ (S. 34). Klar, aber wie kam es dazu, und was kam dabei heraus? Dazu hätten wir Hinweise auf einschlägige Arbeiten erwartet, etwa auf Domenico Maffeis Studie Gli inizi dell’umanesimo giuridico von 1956 und auf die Serie der Alciat-Aufsätze von Douglas Osler, die 1982 mit „Graecum legitur: a star was born“ (Rechtshistorisches Journal 2, 1982) begann und mit dem einstweilen aktuellsten Beitrag „Alciat as Philologist“ im dritten Band der Festschrift Ennio Cortese (2001) wohl auch nicht endet. Der nächste Satz, in dem behauptet wird, Zazius (sic) und Budé hätten versucht, „spätere Interpolationen im Text des Corpus Iuris Civilis zu beseitigen und Passagen, die verändert oder abgekürzt worden waren, in ihre ursprüngliche Form zurückzuverwandeln“, ist in dreierlei Hinsicht zu beanstanden. Erstens hat sich Zasius mit textkritischen Studien gerade nicht hervorgetan. Zweitens sollte man von „Interpolationen“ nur im Hinblick auf die Digesten, nicht das Corpus iuris civilis als ganzes reden. Drittens (und vor allem) ist die ältere, zuletzt (1953) noch von Luigi Palazzini Finetti vertretene Lehre, die humanistischen Juristen seien gewissermaßen Vorläufer der modernen Interpolationsforschung gewesen, durch neuere Forschungen widerlegt worden. Das veterem nitorem restituere der humanistischen Juristen ist kein „Zurückverwandeln“, zielt  nicht auf die „ursprüngliche Form“, sondern auf Sicherung der Texte in der Gestalt, die ihnen Justinian und die Kompilatoren gaben. Dabei sollen in der Tat die besten Handschriften, für die Digesten also die Littera Florentina, herangezogen werden. Auch über die neueren Auffassungen zur mos italicus/mos gallicus-Kontroverse ist Maclean offenbar nur unzureichend informiert. Eine „Kehrtwendung in dem Rechtsunterricht“ habe es nicht gegeben. „Nur in Bezug auf die Lehrarbeit des Alciatus an der Universität Bourges dürfte man von einer ganz neuen Art der Pädagogik sprechen“. Aber worin bestand denn „die ganz neue Art“? Darüber ist doch viel geforscht und noch keineswegs Einigkeit erzielt worden! In der diesem Satz zugeordneten Fußnote zwölf wird darüber aber nichts ausgeführt und aus der reichen Literatur wird kein einziger einschlägiger Titel genannt. Im anschließenden Satz sieht er „ein anderes Anzeichen für den intellektuellen Konservatismus des Rechts“ in der „Tatsache, dass in der 1583 erschienenen von Denis Godefroy ausgearbeiteten Ausgabe der Pandekten der Florentinatext mit der Accursiusglosse vereinigt wurde.“ Klar, daß in einer Ausgabe des glossierten Corpus iuris civilis von 1583 neben anderen Zutaten vor allem die Glosse des Accursius vorkommen muß. Sie ist sozusagen der Hauptgegenstand der Ausgabe. Aber der Digestentext, den Gothofredus in dieser und in seinen anderen Ausgaben verwendet, ist gerade nicht der reine Florentinatext, sondern ist ein Kompromißtext. Im Interesse der Benutzbarkeit der Glosse des Accursius hat Gothofredus bei Abweichungen zwischen Vulgata und Florentina die Wahl oft genug zugunsten der ersteren getroffen. Auch das ist relativ gut erforscht. Nach Luig (HRG, Artikel „Pandekten“) hat vor mir bereits Nicolaus Hieronymus Gundling in einer allerdings nicht nachgewiesenen und auch nicht mehr auffindbaren Stelle von einer „neuen humanistischen Littera vulgata“ gesprochen. Kurz und gut, die von Verfasser behauptete Verbindung von Accursiusglosse und reiner Florentina hat nicht stattgefunden. Und was will der Verfasser damit sagen, daß diese „Tatsache“, die keine ist, „Anzeichen für den intellektuellen Konservatismus des Rechts“ gewesen sei?

 

Der gewählte Absatz (S. 34-35) steht nicht allein. Eine ähnliche Anhäufung von Unklarheiten findet sich beispielsweise auch auf Seite 43, wo Unterschiede in der Hermeneutik von Medizin und Jurisprudenz herausgearbeitet werden sollen. Nicht alle Probleme der Mediziner tauchen bei den Juristen auf. „Die (sic) ordo legendi ist freilich wichtig ...“ Klar, aber von welchem ordo legendi redet er denn? Welches der richtige ist, ist ja gerade die Streitfrage. Auffällig sei, „dass das Korpus der zitierten Leges und anderer Gemeinplätze aus dem mittelalterlichen Apparatus fast unverändert bleibt.“ Was sind außer den „zitierten leges“ die „anderen Gemeinplätze aus dem mittelalterlichen Apparatus“? Wenn sie nur „fast unverändert“ bleiben, worin bestehen die Veränderungen? „Die Florentinaausgabe“, lesen wir weiter, „brachte nur wenige Veränderungen in dem Zitatenschatz mit sich“. Will Verfasser damit einräumen, daß die von der Vulgata abweichenden Lesarten der Florentina in der „neuen humanistischen Vulgata“ eben nur teilweise rezipiert wurden? Oder sollen mit den „wenigen Veränderungen“, die die Florentinaedition mit sich brachte, vielleicht die Graeca in pandectis gemeint sein?  Das wäre immerhin etwas. Aber viel wichtiger als die vom Verfasser erwähnte Edition der Florentina wäre in diesem Zusammenhang (im Zusammenhang der „Erweiterung“ des „Zitatenschatzes“) doch die Edition der übrigen Graeca, der griechischen Codexkonstitutionen, der griechischen Novellen, der Theophilusparaphrase, des Nomokanon, der Hexabiblos, gewisser Teile der Basiliken und alles weiteren, womit der Wissenschaftsbetrieb humanistischer Juristen nicht nur den „Zitatenschatz“, sondern in der Tat den Kreis der „zitierfähigen leges“ bereichert hat.

 

Unterschiede wie die zwischen den beiden hier näher besprochenen Beiträgen gehören wohl zur Normalität derartiger „Symposien“. Kolloquien und Bücher dieser Art kommen nicht allein deswegen zustande, weil und solange sie finanziert werden. Sie erfordern den Einsatz eines erfahrenen und kompetenten Initiators. Das rezensierte Buch ist ein weiteres Dokument des Eifers und der Sachkunde eines hochverdienten Veranstalters und Herausgebers.

 

Druckfehler finden sich unter anderem S. 51 Fußnote 22 (testatorem), S. 171 unten (interpretis), S. 312 unten (Enzyklopädie) und S. 323 Mitte (Interpretation).

 

Frankfurt am Main                                                                                            Hans Erich Troje