Stimmer, Gernot, Eliten in Österreich 1848 – 1970 (=
Studien zu Politik und Verwaltung 57). Böhlau, Wien
1997. 2 Bände, 1140 S.
Der Wiener Politologe und Soziologe
Gernot Stimmer hat sich mit der vorliegenden Studie zur vergleichenden
Elitenforschung in Österreich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Über den langen
Zeitraum von mehr als 120 Jahren (1848-1970), durch den Wechsel politischer
Systeme hindurch (absolutistische Monarchie, konstitutionelle Monarchie,
demokratische Republik, Ständestaat) die Struktur und Transformation der
politischen Führungseliten „eines konkreten, wenn auch größenmäßig sich
verändernden Staatswesens unter verschiedenen politischen Systemen“ (S. 15)
aufzuzeigen.
Nach einer einleitenden Darstellung der
unterschiedlichen von der Soziologie hergeleiteten elitetheoretischen Ansätze
(insbesondere der von Schuchter und Dreitzel entwickelten Trias von Wert-, Repräsentations- und
Funktionselite), welche Stimmer seinerseits durch das Modell der Dualität von
Anstalts- und Bundeselite erweitert, wird in einer umfangreichen historischen
Analyse versucht, die Anwendbarkeit (ideal)typisierender
sozialwissenschaftlicher Kategorien für den konkreten Fall „Österreich“ im
erwähnten Untersuchungszeitraum nachzuweisen.
Für die Zeitspanne der Monarchie
(1848-1918) stehen zunächst vor allem die monarchischen Bildungsanstalten für
militärische und bürokratische Eliten sowie die „Gegeneliten“ der studentischen
und universitären Öffentlichkeit im Zentrum des Interesses, anschließend werden
Parteien und Interessenverbände, Regierungskabinette und weite Teile der
Beamtenschaft hinsichtlich ihrer Elitenrekrutierung untersucht.
Zum Abschluß
dieses ersten umfangreichen Teiles über die Eliten der Monarchie formuliert der
Autor drei zusammenfassende Thesen, welche die Eliten der Donaumonarchie zum
einen als „Koalition verschiedener Elitegruppen“ ausweisen, die weitgehend der
Trias von Wert-Funktions- und Repräsentationselite
entsprechen; die als solche, zweitens, trotz aller sozialstruktureller
Unterschiede sich elitenkonzeptionell äußerst kohärent verhalten und daher,
drittens, als „Spiegelbild einer nicht ausdifferenzierten Gesellschaft“
interpretiert werden können. (S. 464)
Für den Zeitraum der Ersten Republik
verschiebt sich aufgrund des Zusammenbruchs des Monarchie - trotz erkennbarer
Kontinuitäten - der Schwerpunkt von den vormals monarchischen Eliten zu den
vormaligen „Gegeneliten“, welche nun das entscheidende Rekrutierungspotential
für die politischen Lager und Parteien darstellen.
Studentische Korporationen und
universitäre Eliten bilden nunmehr das Hauptreservoir für die Zusammensetzung
der politischen Eliten in Republik und Ständestaat: In eindrücklicher Weise
präsentiert der Autor in diesem Teil die Elitenrekrutierung der politischen
Parteienlandschaft, des politischen Katholizismus, berufsständischer
Organisationen und der Regierungskabinette bis zur nationalsozialistischen
Machtergreifung.
Im Anschluß an
die Analyse der Elitenstruktur der Ersten Republik werden die m. E.
entscheidenden Schlußfolgerungen gezogen: Bei den
österreichischen Eliten der Nach- und Zwischenkriegszeit handelt es sich um den
dominanten Typus einer „Repräsentationselite, ... deren Elitenbewußtsein
eine gruppenkonstitutive Tendenz zur mediatisierten politischen Repräsentation
impliziert, die dem auf Wahl und Delegationsprinzip basierenden
westeuropäischen Repräsentativsystem prinzipiell entgegengesetzt ist“ (S. 923),
wodurch die Neigung zu totalitären Systemen und zur Unterwerfung unter die
nationalsozialistische Diktatur geradezu konstitutiv bereits grundgelegt gewesen sei.
„Exkurshaft und
zeitlich beschränkt“ (S. 955) (nämlich auf den Zeitraum bis 1970) wird
schließlich auch die Zeit der Zweiten Republik angesprochen und auch hier eine
deutliche Kontinuität in der Persistenz traditioneller Elitegruppen geortet.
Ein abschließendes theoretisches Kapitel
spannt den Bogen zurück zur Frage der Anwendbarkeit historisch-empirischer
Untersuchungen - auf der Basis elitentheoretischer Modelle - für allgemeine
Erkenntnisse der zeitgenössischen Elitenforschung (wie beispielsweise dem
Phänomen der „Verbeamtung der Parlamente“ bis in die Gegenwart hinein).
Überzeugend weist der Autor zusammenfassend die Kontinuitäten bund- und anstaltshafter Elitensozialisation von der Monarchie zur
Zweiten Republik nach und erfüllt auf diese Weise seine selbstgesetzten
Zielvorgaben: Die zeitgenössische politische Elitenlandschaft Österreichs aus
ihrer historischen Tiefendimension des 20., aber auch des 19. Jahrhunderts
heraus zu erklären.
Die Stärke der Studie liegt fraglos in
diesem ihrem zeitgenössischen und politikwissenschaftlich theoretischen Ansatz:
für den Historiker freilich liegt darin auch ihre Schwäche. Die Erschließung
neuer Quellen kann mit einem solchen zeitlichen Längsschnitt nicht geleistet
werden. Der Autor arbeitet über weite Strecken auf der Basis gedruckten,
vielfach bereits erschlossenen Quellenmaterials, wenngleich die Quantität des
hier Zusammengetragenen beeindruckt. Für das 19. Jahrhundert fehlt
andererseits die historische Tiefenschärfe und ein differenzierteres
Verständnis für die Genese unterschiedlicher Elitenphänomene aus der frühen
Neuzeit heraus. Mit einer durchgehenden Kategorie „Adel“ angesichts der Brüche
des frühen 19. Jahrhunderts zu operieren, ist aus der Sicht eines Historikers
im Grunde unzulässig, wenngleich dem Autor ein Bewußtsein
für die „Unschärfe“ seiner Kategorienbildung nicht abzusprechen ist.
Immer wieder werden von ihm auch die
Unzulänglichkeiten der zusammengestellten Statistiken thematisiert, da das
vorhandene Basismaterial teils unvollständig, teils anderen Kategorien
verpflichtet, teils - und das vor allem fällt ins Gewicht - aus einem jeweils
unterschiedlichen historisch-politischen Kontext stammt.
Für die zeitgenössische politikwissenschaftliche
Forschung und die Analyse der politischen Landschaft Österreichs im 20.
Jahrhundert stellt der vorliegende reichhaltige Band aber zweifellos eine große
Bereicherung dar.
Innsbruck Brigitte
Mazohl-Wallnig