See, Klaus von, Königtum und Staat im skandinavischen Mittelalter. Winter, Heidelberg 2002. 162 S.

 

Klaus von See ist ein den Rechtshistorikern bekannter Nordist. In den Sechzigerjahren hatte Ernst-Wolfgang Böckenförde das Bild der „deutschen verfassungsgeschichtlichen Forschung im 19. Jahrhundert“ auf „zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder“ kritisch hinterfragt, Karl Kroeschell in Studien zu Sippe, Haus und Herrschaft und zur „Treue in der deutschen Rechtsgeschichte“ Großbegriffe der Interpretation eines germanisch-deutschen Rechts dekonstruiert. Klaus von See hatte unabhängig und gleichzeitig in seinen „Altnordischen Rechtswörtern“ an die Stelle eines besonders alten und ursprünglichen germanischen Rechts im Norden, das sich zur Ergänzung römer- und völkerwanderungszeitlicher Quellen verwenden ließe, in subtiler philologischer Methode das historische Bild einer langsamen Bildung von Rechtswörtern und mit ihnen verbundener Rechtsvorstellungen erst im hohen Mittelalter entworfen. Vor kurzem hat er Aspekte der Verfassungsentwicklung des Nordens, in aufschlußreichem Vergleich mit dem Kontinent, in einer schönen Aufsatzsammlung zugänglich gemacht (Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg 1999). Nun legt er eine bisher ungedruckte ältere Arbeit, seine Hamburger historische Dissertation von 1953, im Druck vor. Nur wer den Autor nicht kennt wird überrascht sein davon, wie frisch und unmittelbar die Abhandlung heute wirkt. Das verdankt sie vor allem dem Zugriff, auch den vorgenommenen Kürzungen, schließlich und nicht zuletzt aber der durchgehenden Quellennähe der Darstellung, die dadurch kaum einer Alterung unterliegt. Die vorliegende Fassung kann so auf Fußnoten ganz verzichten: Als Belege dienen die in die Darstellung integrierten Quellen. Sie werden überall in originaler Fassung, die altnordischen durchweg mit deutscher Übersetzung, geboten. Das ermöglicht dem mediävistisch-„germanisteschen“ Rechtshistoriker, der kaum noch der nordischen Sprachen mächtig ist, einen Zugriff auf diesen geographischen und Quellenbereich. Auf dessen allgemeine Bedeutung möchten wir zu Ende noch einmal eingehen.

 

Klaus von See stellt im Vorwort zu dieser Ausgabe die damalige forschungsgeschichtliche Situation kurz dar. Er wandte sich gegen Otto Brunners „Land und Herrschaft“ vor allem wegen der zugrunde liegenden These einer völkischen germanischen Kulturkontinuität und erntete deshalb noch 1972 einen scharfen Angriff des Germanisten Otto Höfler. Diese Schlachten sind wohl geschlagen. Von See möchte mit dem (etwas veränderten) Titel „die These andeuten, daß es das Königtum war, das – ausgestattet mit der christlichen Vorstellung des Amtes und der Rechenschaftspflicht – seit dem Ende des 12. Jahrhunderts den Aufbau der Staatsorgane in die Hand nahm, eine Beamtenhierarchie schuf, ein zentrales Steuersystem einrichtete und zugleich mit dem Privileg der Steuerfreiheit einen neuen, ganz in das Staatswesen integrierten Adelsstand schuf, das Monopol legitimer Gewaltanwendung zu erzwingen suchte, eigene Königsgerichte bildete und das alte Eideshelferverfahren durch unparteiische Urteilerkollegien ersetzte“ (S. 9).

 

Die Stichworte zeigen, wie unmittelbar von See sich hier an die Rechtshistoriker, durchaus in Aufnahme der von Otto Brunner angeschlagenen Thematik, wendet. Er entwickelt den Vorgang der Staatsbildung durch das Königtum in mehreren historischen Stufen und unter verschiedenen Aspekten. „Die ersten Machtgrundlagen des Königtums“ zeichnen die Ansätze in einer Gesellschaft der alten Bauernaristokratie, die im Gegensatz zum Kontinent nicht durch Wanderung, Eroberung, Übernahme und Überlagerung römischer und kirchlicher Strukturen und Institutionen geprägt ist, sondern ein „von Anfang an seßhaftes Volk“ betrifft. Es fehlt also sowohl an einer Hocharistokratie wie an der großen Zahl von Hörigen in den Grundherrschaften. Da von See die kontinentalen Verhältnisse immer im Auge hat, kann er die Eigenheiten der skandinavischen Entwicklung im Vergleichen schärfer hervortreten lassen. In Kapitel IV („Königtum und Rechtswesen“) wird dann die Umwandlung der bäuerlichen Ordnung von Blutrache, Selbsthilfe, schiedlicher Schlichtung und Dingverfahren in ein vom König geordnetes Rechts- und Gerichtswesen geschildert. Auch in ihm bilden freilich die alten volksrechtlichen Elemente eine weiterhin wichtige Grundlage. Bemerkenswert erscheint, wie lange die – nicht auf den Täter gerichtete – Sippenblutrache Gegenstand königlicher Rechtssetzungen darstellte. Sie mußte dem christlichen Denken, das auf einer Verbindung von Buße und Schuld beruht, in besonderer Weise konträr laufen.

 

An dieser Stelle setzt die wortgeschichtliche Untersuchung „Strafe im Altnordischen“ an, die den Rechthistorikern bisher entgangen ist, weil sie 1979 und 1981 in philologischen Publikationsorganen erschienen ist. Die subtile Analyse der Wörter und Wortbedeutungen, mit denen Sanktionen von zunehmend „öffentlichem“ Anspruch und (gegenüber der Rache) objektiviertem Charakter bezeichnet werden, bis sich erst am Ende des Mittelalters das aus dem deutschen Sprachraum kommende „strafe“ in den skandinavischen Sprachen durchsetzt - diese Darstellung bildet eine wichtige Ergänzung zu den Forschungen des DFG-Projektes „Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts“ (D. Willoweit, K. Lüderssen u. a.). Ihr ist alle Aufmerksamkeit zu wünschen, wird doch eine semantische Entwicklung ganz in einem volkssprachlichen Medium greifbar.

 

Von See entwirft auf 150 Seiten in sehr klaren Linien einen rechtshistorisch kundigen, quellennahen und quellengesättigten Aufriß einer skandinavischen (nicht isländischen) Geschichte der Herausformung von Staatlichkeit, Recht und Rechtsdurchsetzung. Er hatte seinerzeit seine Dissertation als Fundamentalkritik an der germanischen Kontinuitätsthese der Dreißigerjahre angelegt. Der maßgebende Einfluß kirchlichen Denkens für die Legitimierung der hoheitlichen Gewalt des Königs als Teil der mittelalterlichen Kultur selbst würde heute keinem Einwand begegnen, sondern allgemeine Bestätigung finden. Wenn gegen Brunners „Herrschaft“ der Begriff des „Staates“ sehr betont und schon für frühe Stadien verwandt wird, so würde der Rezensent hier eher das Prozeßhafte der Staatsbildung, die lange noch personalistische und nicht institutionelle Auffassung etwa stärker hervorheben, auch noch nicht von „gesetzgebender Gewalt“ des Königs sprechen, wo dieser in der Praxis (wie von See richtig hervorhebt) lediglich das Recht der „Besserung“ traditionaler Rechtsgewohnheit in Anspruch nimmt. Das ist aber mehr eine Frage der Terminologie. In der Sache schildert von See überzeugend und differenziert die langsame Herausbildung einer obrigkeitlichen Gewalt in der Hand des Königs gegenüber den Strukturen einer bäuerlich-aristokratischen „germanischen“ Gesellschaft. Es scheint mir wichtig, wie von See diesen in der heutigen deutschen Rechtshistorie weitgehend tabuisierten Begriff keineswegs meidet, obwohl, oder gerade weil er zu den „Zertrümmerern“ der Konstruktion eines gemeingermanischen Rechts gehört. Wenn man die Institutionen von Verfahren und Recht, Gesellschaft und Herrschaft des Nordens nicht zwanghaft einem „gemeingermanischen“ systematischen Zusammenhang zuordnet, sondern als Grundlagen einer parallelen Eigenentwicklung, jedoch innerhalb von sowohl kulturellen wie strukturellen Gemeinsamkeiten zu sehen vermag, dann kann sich der Blick auf die Erfassung der konstitutiven Elemente von Kultur, Recht und Staatsbildung des europäischen Mittelalters neu öffnen. Man möchte sehr hoffen, diese nun vorliegende Studie von Klaus von See dient der deutschen mittelalterlichen Rechtgeschichte zur Einbeziehung des Nordens in das inzwischen entwickelte neue Bild der mittelalterlichen Geschichte von Rechtsbildung, gerichtlichem Verfahren und der Rolle obigkeitlicher Gewalt in diesem Prozeß.

 

Königstein/Taunus                                                                                          Gerhard Dilcher