Die
Monographie, die hier vorgestellt werden soll, stellt einen wichtigen Beitrag
zur jüngsten Geschichte des deutschen und italienischen Zivilrechts in einem
zentralen Bereich des Schuld- und Vertragsrechts dar. Reiter geht an ein
großes, in beiden Ländern schon vielfach bearbeitetes Thema, die Problematik
der clausula rebus sic stantibus oder „Geschäftsgrundlagenfälle“ oder „sopravvenienza“, mit einem zugleich historischen wie auch
rechtsvergleichenden Ansatz heran. Sein Verdienst ist es hierbei, die kaum
überschaubare Fülle von dogmatischen wie praktischen Lösungsansätzen
anschaulich und tiefgreifend, aber ohne sich in Details zu verlieren,
historisch herauszuarbeiten und hierbei die Kontinuitäten und Brüche sowie die
parallelen wie auch eigenständigen Verläufe in beiden Rechtsordnungen
herauszustellen. Hierin liegt die Originalität und
zugleich der besondere Reiz dieser Arbeit. Ergibt bereits die Komplexität der
für beide Länder zu untersuchenden theoretischen wie praktischen Konzeptionen
einen besonderen Schwierigkeitsgrad, so kommen als weitere Anforderungen die
Verknüpfung zwischen den Wandlungen des allgemeinen Vertragsverständnisses und
dem Umgang mit der Problematik der nachträglich veränderten Umstände sowie die
doppelte Ausrichtung der Untersuchung sowohl auf die Lehre als auch die
Rechtsprechung mit ihren wechselseitigen Bezügen hinzu. Keine leichte Aufgabe,
die Reiter jedoch überzeugend löst.
Gegenstand
und Vorgehensweise stellt Reiter prägnant in seiner Einleitung (S. 1-7) dar.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist nicht ein bestimmtes Institut wie das der
Geschäftsgrundlage, sondern die faktische Fallsituation der nachträglich
veränderten Umstände, die in den Gestaltungen der Äquivalenzstörung und
Zweckvereitelung auftritt. Ein überzeugender Ansatz gerade aus
rechtsvergleichender Sicht. Hier geht es nicht darum festzustellen, inwieweit
ein bestimmtes Rechtsinstitut in der anderen Rechtsordnung rezipiert
wird, sondern darum, den Blick für verschiedene Lösungsansätze zu öffnen, die
zur Handhabung bestimmter Fallsituationen in beiden Rechtsordnungen zur Anwendung
kommen. Ziel Reiters ist es nicht, eine eigene Theorie der Geschäftsgrundlage
aufzustellen, sondern die zu verschiedenen Zeiten in Deutschland und Italien
gewählten Konzepte im Zusammenhang mit einem sich wandelnden
Vertragsverständnis historisch aufzuarbeiten. Ein wesentliches
Untersuchungskriterium ist hierbei die Frage, inwieweit die festzustellenden
Argumentationen an den Parteiwillen oder an objektive Merkmale anknüpfen.
Reiters Blickwinkel bezieht sich sowohl auf die Lehre als auch auf die Rechtsprechung.
Die Auswertung der Rechtsprechung begründet Reiter damit, daß
der Bereich der Geschäftsgrundlagenfälle stark richterrechtlich geprägt sei und
die Rechtsprechung hier zahlreiche Impulse gegeben habe. Diese These wird
innerhalb der Untersuchung nicht weiter verfolgt und belegt. Überhaupt bleibt
das Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre für die Fragestellung offen. In den
einzelnen Kapiteln liegt der Schwerpunkt der Auswertung jedenfalls deutlich auf
der Untersuchung der Literatur.
Die Arbeit
selbst ist chronologisch aufgebaut und in drei große Kapitel unterteilt, welche
die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zu den Diktaturen (S. 9-78), die Jahre während
des Faschismus und Nationalsozialismus (S. 79-126) sowie die Zeit nach 1942
bzw. 1945 (S. 127-292) erfassen. Die einzelnen Kapitel beinhalten jeweils eine
Untersuchung der Lehre und Rechtsprechung in Deutschland und Italien und enden
mit einer vergleichenden Zusammenfassung der für beide Länder erzielten
Ergebnisse. Zum Abschluß geht Reiter der Frage nach,
inwieweit eine gesetzliche Regelung der Geschäftsgrundlagenfälle bzw. der sopravvenienza in beiden Rechtsordnungen Sinn macht, gibt
einen Ausblick in das seit dem 01. 01. 2002 geltende neue deutsche Schuldrecht
und nimmt nochmals eine Gesamtwürdigung der Untersuchungsergebnisse vor. Ein
Anhang mit Quellentexten, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein
Sach- und Personenregister runden die Monographie ab.
Die von
Reiter analysierten Lösungsansätze der deutschen und
italienischen Rechtswissenschaft wie Rechtsprechung sind so zahlreich und
komplex, daß eine spezifische Auseinandersetzung mit
ihnen im Rahmen der vorliegenden Rezension ausscheiden muß.
Im folgenden sollen daher einzelne wesentliche
Ergebnisse Reiters insbesondere aus den vergleichenden Gegenüberstellungen
angesprochen werden.
In der
ersten Phase des Untersuchungszeitraums besteht zunächst eine ähnliche
Ausgangsbasis in beiden Rechtsordnungen vor dem Hintergrund eines liberalen
Vertragsverständnisses und der Vorherrschaft des Willensdogmas im Zusammenhang
mit der Pandektenlehre. Während in Deutschland Lehre und Rechtsprechung bald
die Problematik nachträglich veränderter Umstände diskutieren und zunächst über
die Anwendung konkreter gesetzlicher Normen, dann zunehmend freier über die Anwendung
von § 242 BGB und flexibel in den Rechtsfolgen individuelle Lösungen
suchen, sind in Italien Rechtsprechung und Rechtswissenschaft lange
zurückhaltend und wenden nur nach und nach die Lehre Windscheids
von der Voraussetzung an, hierbei jeweils in strenger Ausrichtung am
Willensdogma und den gesetzlichen Normen. Den Grund für diesen
unterschiedlichen Verlauf sieht Reiter insbesondere in der unterschiedlichen
Kodifikationsgeschichte. So kodifizierte das Bürgerliche Gesetzbuch 1900 in
Deutschland die bereits zuvor durch die Wissenschaft begründete
Privatrechtseinheit, während Italien erstmals mit dem codice
civile von 1865 ein einheitliches Gesetzbuch für ganz
Italien erhielt. Letzteres war zudem stark an den französischen code civil angebunden und stand damit unter dem
französischen Einfluß der strikten Gesetzesbindung,
so daß erst die Ausrichtung an der deutschen
Rechtswissenschaft einen Wandel eingeleitet habe. Dieser Begründungsansatz
erscheint zu einseitig. Richtig ist zwar, daß mit dem
französischen Einfluß eine strikte Ausrichtung auf
das Gesetz gegeben war, was eine Auseinandersetzung mit dem gesetzlich nicht
geregelten Bereich der sopravvenienza verzögerte.
Doch ist die strenge Gesetzesbindung ein Charakteristikum der italienischen
Rechtsprechung und Lehre nicht nur des 19. Jahrhunderts, sondern bis in die
heutige Zeit, die verbunden ist mit der Zurückhaltung der Richter, in die
parteiliche Vertragsgestaltung korrigierend einzugreifen. Dies stellt Reiter
selbst als ein Merkmal der italienischen Rechtsordnung fest (S. 218, 227, 232,
251, 289f.). Die enge Ausrichtung der italienischen Richter am Gesetzestext läßt sich korrespondierend mit einer bis heute in Italien
bestehenden zentralen Rolle der Vertragsfreiheit auch in anderen Bereichen des
Vertragsrechts festmachen, so z. B. bei der Frage der Kontrolle von Allgemeinen
Geschäftsbedingungen unter dem Gesichtspunkt einer inhaltlich gerechten
Vertragsgestaltung.
Im zweiten Kapitel (S. 79-126) stellt Reiter zunächst für Deutschland das sich mit Eindringen der nationalsozialistischen Ideologie in der Lehre wandelnde Vertragsverständnis dar. Vertragsfreiheit und Parteiwille werden zunehmend durch die Betonung der Gemeinschaftsfunktion des Vertrages verdrängt. Vor diesem Hintergrund treten verstärkt objektive Ansätze zur Handhabung der Geschäftsgrundlagenfälle unter Bezugnahme auf den Gemeinschaftszweck auf.
Soweit es
um die deutsche Rechtsprechung während der Zeit des Nationalsozialismus geht,
beschränkt sich Reiter auf eine knappe Darstellung der Leitlinien und stellt im
wesentlichen eine Kontinuität der Rechtsprechung vor und nach der
Machtergreifung fest. Zwar finden neu objektive Gesichtspunkte in die
Rechtsprechung Eingang, doch wenden die deutschen Gerichte weiterhin die
Geschäftsgrundlagenlehre in ihrem traditionellen, subjektiven Verständnis an.
Für die
Zeit des Faschismus in Italien zeigt Reiter parallel zu Deutschland einen
Wandel in der Grundeinstellung weg vom liberalen, individualistischen
Vertragsbild hin zum Gemeinschaftsgedanken. Reiter beobachtet diese
Veränderungen deutlich in der sich wandelnden causa-Lehre. Während bisher nach
französischem Vorbild die causa nur
für das genetische Synallagma stand, wurde jetzt
inhaltlich über die causa die funzione economico-sociale
(wirtschaftlich soziale Funktion) des Vertrages eingeführt. Die Parteiautonomie
bzw. ein Vertragsschluß finden nur insoweit
rechtlichen Schutz, wie sie sozial nützlich sind und der Gemeinschaftsordnung
entsprechen. Dieses neue Verständnis der causa
hat sich nach Reiter endgültig in Lehre und Rechtsprechung durchgesetzt und
gesetzlichen Niederschlag im codice civile von 1942 gefunden (S. 111, 113f.). Mit der sozialen
Vertragskontrolle wird auch die Frage der Vertragsbindung und der sopravvenienza Thema der
Auseinandersetzung in der Lehre und in den Arbeiten zum codice
civile. Artt. 1467ff. sehen
für den Fall der tiefgreifenden Störung des vertraglichen Gleichgewichts
aufgrund außergewöhnlicher und unvorhergesehener Ereignisse eine
Vertragsauflösung bzw. eine Vertragsanpassung infolge eines von der Partei
abgegebenen Änderungsangebots vor und regeln in einer streng objektiven
Bewertung und Distanzierung vom Konzept der presupposizione
die Äquivalenzstörung als Unterfall der sopravvenienza.
Hier bemerkt Reiter eine innovative Regelung, deren Entstehen durch die
faschistische Diskussion zwar gefördert wurde, selbst aber ideologiefrei
erscheint, wie sich die italienische Rechtswissenschaft insgesamt eine größere
Distanz zur faschistischen Ideologie bewahrt hat.
Die
italienische Rechtsprechung folgte während der Zeit des Faschismus unbeeinflußt von den faschistischen Diskussionen
kontinuierlich ihren bisherigen Weg. Insofern fand die sopravvenienza
nur bei einem Teil der Richter grundsätzlich Anerkennung.
Im
Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem
faschistischen Italien kommt Reiter zu dem Ergebnis, daß
in beiden Rechtsordnungen Ideen einer objektiven Vertragskontrolle im
Zusammenhang mit Gemeinschaftsinteressen Eingang finden, die durch die
politischen Veränderungen begünstigt, aber bereits zuvor unabhängig von diesen
entstanden waren. Während in Italien aber die Diskussion in der Lehre in
größerer Distanz zur faschistischen Ideologie stattfand und in artt. 1467ff. eine durch den Zeitgeist begünstigte, jedoch
ideologiefreie Regelung gefunden wurde, war die Auseinandersetzung in der
deutschen Rechtswissenschaft stärker mit dem nationalsozialistischen
Rechtsverständnis verbunden und führte wegen des Scheiterns der Arbeiten zum
Volksgesetzbuch nicht zu einer gesetzlichen Regelung. Die Rechtsprechung beider
Länder verfolgte relativ unabhängig von den politischen Veränderungen und
geführten Diskussionen ihre bisherigen Linien fort.
Betrachtet
man näher die von Reiter angesprochenen ideologischen Zusammenhänge, verbleiben
einzelne Ungereimtheiten. Einerseits habe sich nach Reiter vor dem Hintergrund
der faschistischen Unterordnung der Vertragsfreiheit unter den
Gemeinschaftsgedanken die wirtschaftlich-soziale Funktion des Vertrages als
neue causa-Lehre
mit einer notwendig objektiven Vertragskontrolle herausgebildet, sich als
herrschende Ansicht durchgesetzt und im codice civile Eingang gefunden (S. 111f., 187). Andererseits
betont Reiter aber, daß sich die italienische
Rechtswissenschaft ihre Distanz zu den politisch gefärbten Diskussionen bewahrt
habe und bewertet die Regelung der sopravvenienza in artt. 1467ff. als ideologiefreie Regelung. Zudem fragt
sich, ob sich das hinter der causa
als wirtschaftlich-sozialer Funktion stehende objektivierte Vertragsverständnis
mit der Forderung nach einer sozialen Vertragskontrolle tatsächlich in Italien
als herrschende Ansicht durchgesetzt hat. Selbst wenn in der italienischen
Lehre und Rechtsprechung die causa
des Vertrages fortan in diesem Sinne definiert wird, besagt dies noch nichts
über die reale Bedeutung dieses causa-Verständnisses. So hat z. B. die in art. 1322/II codice civile eingeführte
Kontrolle atypischer Verträger unter dem Aspekt der Verfolgung schutzwürdiger
Interessen der Rechtsordnung im Italien der Nachkriegszeit keine praktische
Bedeutung erlangt. Auch die mit der neuen causa-Lehre einhergehende
objektive Vertragskontrolle hat sich bis heute nicht im italienischen
Vertragsverständnis als herrschend durchgesetzt. So kennzeichnet sich
insbesondere die italienische Rechtsprechung, aber in weiten Teilen auch die
Lehre im Problembereich einseitig gestalteter AGB-Verträge durch eine starke
Ausrichtung auf die Vertragsfreiheit und den Parteiwillen und das Fehlen einer
objektiven, inhaltlichen Vertragskontrolle.
Im dritten
Kapitel (S. 127-291), dem Schwerpunkt der Arbeit, analysiert Reiter ausführlich
und anschaulich die verschiedenen in der deutschen Lehre nach 1945 diskutierten
Lösungsansätze (S. 127-164). Insgesamt setzt sich im Verlauf der Jahre eine
objektive Herangehensweise und eine Bewertung der Geschäftsgrundlage als ein
Problem der vertraglichen Risikoverteilung durch, wenn auch bis heute kein
einheitliches, dogmatisch fundiertes Konzept herausgebildet werden konnte. In
Bezug auf die deutsche Rechtsprechung nach 1945 beschränkt sich Reiter unter
Verweis auf ausführliche Analysen auf eine knappe, beispielhafte Darstellung
der wesentlichen Leitlinien. Im Ergebnis stellt er eine zunehmend restriktive
Handhabung der Geschäftsgrundlagenfälle fest. In den Argumentationen der
Richter bleibt weiterhin die subjektive Oertmannsche
Formel erhalten, in die jedoch regelmäßig objektive Kriterien, insbesondere der
Aspekt der Risikotragung, einfließen. Insgesamt handelt es sich nach Reiter um
eine Einzelfallrechtsprechung ohne ein einheitliches, dogmatisches Konzept,
welche neue Alternativvorschläge der Rechtswissenschaft nicht berücksichtigt
habe. Nähere Überlegungen zu den Wechselbeziehungen zwischen der
wissenschaftlichen Diskussion und der Rechtsprechung fehlen, so auch zu der
Frage, inwieweit die Rechtsprechung selbst neue Impulse gesetzt hat.
Für Italien
setzt sich nach Reiter nach dem Fall des Faschismus, abgesehen von einzelnen am
Parteiwillen festhaltenden Strömungen, die begonnene Objektivierung des
Vertragsverständnisses fort, insbesondere über die Bewertung der causa als wirtschaftlich-sozialer
Funktion des Vertrages. Ein Beispiel für die Fortbildung dieses causa-Verständnisses
ist die Theorie Rodotàs von der Vertragsergänzung auf
der Grundlage von Treu und Glauben mit weitreichenden Eingriffsbefugnissen des
Richters in den Vertrag. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion zur
Problematik der nachträglich veränderten Umstände entsteht bald die
Überzeugung, daß neben der gesetzlichen Regelung der Äquivalenzstörung
in artt. 1467ff. codice civile andere Fälle der sopravvenienza
als presupposizione beachtlich seien. Hierbei sind
subjektive Lösungsansätze über die Anwendung der Irrtumsvorschriften von
untergeordneter Bedeutung, während sich zunehmend objektive Bewertungsansätze
durchsetzen. Diese knüpfen unter anderem an die Kontrolle der Vertragsfunktion
bzw. das vertragliche Interessengleichgewicht der Parteien (economia
del contratto) an. Objektive Aspekte der
Risikoverteilung sind auch Teil der Vertragsauslegung nach Treu und Glauben,
welche nur äußerlich an der Interpretation des Parteiwillens ansetzt,
tatsächlich aber objektive Bewertungskriterien ins Spiel bringt.
Die italienische Rechtsprechung ist nach Fall des Faschismus in Fortsetzung ihrer bisherigen Linie zunächst noch zurückhaltend bzgl. einer generellen Anerkennung der presupposizione außerhalb des gesetzlichen Anwendungsbereiches der artt. 1467ff. codice civile. Kennzeichen für die folgende Rechtsprechung ist, daß sie abweichend von der Lehre die Lösung der nicht in artt. 1467ff. codice civile geregelten sopravvenienza-Fälle ebenfalls in diesem Bereich ansiedelt. Im Verlauf der Rechtsprechung sieht Reiter, ausgehend von der ursprünglichen Verortung der presupposizione im Parteiwillen, eine zunehmende Objektivierung in den gewählten Lösungen. Etwa seit den 70er Jahren finden die auch in der Lehre diskutierten Kriterien wie Treu und Glauben und eine wirtschaftliche Betrachtungsweise des Gleichgewichts der vertraglichen Leistungen Eingang in die Fallösungen, die in ihren äußerlichen Argumentationen bis heute der traditionellen subjektiven Formel der ersten sopravvenienza-Rechtsprechung verhaftet bleiben.
Wesentliche Unterschiede bestehen in Deutschland und Italien hinsichtlich der Art und Intensität der von den Richtern gewählten Rechtsfolgen. Die italienischen Gerichte sprechen – abgesehen von der Anwendung von artt. 1467, 1468 codice civile – lediglich eine Vertragsauflösung aus und nehmen keine Vertragsanpassung vor. Hintergrund ist die Furcht davor, daß der Richter die parteiliche Vertragsgestaltung verletzen und seinen Willen unzulässigerweise an die Stelle des Parteiwillens setzen könnte. Entgegen Reiter überrascht diese Feststellung in Bezug auf die Zurückhaltung der Richter gegenüber Eingriffen in die Vertragsgestaltung nicht. Vielmehr ist es gerade ein bis heute feststellbares Charakteristikum der italienischen Rechtsprechung nicht nur im Bereich der presupposizione, sondern allgemein im Bereich des Vertragsrechts, daß sich diese aus Furcht vor der Verletzung des Parteiwillens bei einer objektiven Vertragskontrolle und bei korrigierenden Eingriffen in die Vertragsgestaltung zurückhält. Dies zeigt sich z. B. in der bis in die heutige Zeit ablehnenden Haltung italienischer Richter gegenüber einer materiellen Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen und den damit verbundenen Vertragkorrekturen. Hier spielt auch der Gedanke unterschiedlicher Richtertypen in Deutschland und Italien eine Rolle. Während der deutsche Richter sich vorrangig an der Idee materieller Gerechtigkeit gegenüber der formalen, wortlautgetreuen Gesetzesanwendung orientiert und offen für eine intensive Rechtsfortbildung über die Anwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen ist, zeichnet sich der italienische Richter überwiegend durch eine enge Bindung an den Gesetzeswortlaut, die Betonung von Rechtssicherheit und die Zurückhaltung gegenüber kreativer Rechtsfortbildung und wertender Ausfüllung inhaltlich unbestimmter Generalklauseln aus. Diesbezügliche Überlegungen finden sich ansatzweise auch bei Reiter (S. 232, 251, 289f.), der jedoch der Frage unterschiedlicher Richterrollen nicht im einzelnen nachgeht.
Es ist
Reiters Verdienst, sich eines großen, viel diskutierten Themas für Deutschland
und Italien über einen Zeitraum von 150 Jahren angenommen und die
Diskussionsverläufe in Lehre und Rechtsprechung beider Länder überzeugend
analysiert zu haben. Notwendigerweise ist dies aufgrund der Fülle des Stoffes
mit Kürzungen in den untersuchten Einzelbereichen verbunden. So bemerkt Reiter
z. B. selbst, daß die Rechtspraxis und die Bedeutung
von Richterrecht innerhalb der Untersuchung zu wenig Berücksichtigung finden
(S. 6). Einzelne Thesen und Ergebnisse könnten durch Ausblicke auf andere
Bereiche des Vertragsrechts außerhalb der Problematik der nachträglich
veränderten Umstände überprüft und vertieft werden, so z. B. die
unterschiedliche Funktion von Treu und Glauben, die Rolle des Willensdogmas
oder der Stellenwert der Privatautonomie in beiden Rechtsordnungen. Hier könnte
man auch der Frage nachgehen, inwieweit sich in beiden Ländern unterschiedliche
Richtertypen abzeichnen, ein Punkt, den Reiter ansatzweise anspricht (S. 232,
251, 273, 287 ff.). So bedarf auch die von Reiter für beide Rechtsordnungen
festgestellte Objektivierung des Vertragsverständnisses einer Einschränkung,
weil für Italien in anderen Bereichen des Vertragsrechts wie z. B. dem Bereich
Allgemeiner Geschäftsbedingungen deutlich anders als in Deutschland eine starke
Ausrichtung auf die Vertragsfreiheit und den Parteiwillen und das Fehlen einer
objektiven Vertragskontrolle charakteristisch ist. Reiter stellt jedenfalls
auch für den Bereich der Geschäftsgrundlagenfälle bzw. sopravvenienza
unterschiedliche Abstufungen in Deutschland und Italien fest, soweit es um den
Wandel zu einem objektivierten Vertragsverständnis geht (S. 287).
Die von
Reiter geleistete Auswertung der in Lehre und Rechtsprechung beider Länder
diskutierten Lösungsansätze ist nicht nur aus historischer Sicht wertvoll,
sondern auch aktuell relevant. Die deutsche Kodifikation der Geschäftsgrundlage
in § 313 BGB n. F. hat an der grundsätzlichen Notwendigkeit nichts
geändert, praktikable Bewertungskriterien für die konkrete Entscheidungsfindung
aufzustellen. Hierbei öffnet der rechtsvergleichende Ansatz den Blick für
parallele oder alternative gesetzliche Regelungen und Lösungsansätze in anderen
Rechtsordnungen. Dies führt zu einem tieferen Verständnis der Charakteristika
beider Rechtskulturen und ist im Hinblick auf die Schaffung eines einheitlichen
europäischen Privatrechts von wesentlicher Bedeutung.
Ulm Marion
Träger