Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Teil 1 Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 bis 1995, hg. v. Boockmann, Hartmut/Grenzmann, Ludger/Moeller, Bernd u. a. (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, Nr. 228). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 257 S.

 

Zwei der zehn Beiträge gelten dem kanonischen Recht, zwei dem Strukturwandel des Rechts in Stadt und Land allgemein, die übrigen sechs dem Phänomen der Rezeption des gelehrten Rechts in personaler wie inhaltlicher Perspektive. Drei von diesen sechs beziehen sich wiederum auf die Reichsstadt Nürnberg.

 

Hans-Jürgen Becker widerspricht der Auffassung von Niedergang und Me­diokrität des kanonischen Rechts zwischen seiner „klassischen“ und der tridentinischen Epoche. Anhand der Rechtsquellen, der Gelehrten, der Schwerpunkte ihrer Gelehrsamkeit sowie der Konflikte um Kirchenhoheit und Kirchenregiment zeigt er auf, dass das Kirchen­recht im vorreformatorischen Zeitalter zwar eine ruhigere, doch gleichwohl lebendige und gewichtige Phase seiner Existenz durchlief. Es lieferte auch nach seinem Rückgang in der universitären Lehre mit den aus dem Ringen konziliarer mit papalistischen Auffassungen hervorgegangenen Lehren, etwa zur Körperschaft und zur päpstlichen Monarchie, spezifi­sche Beiträge zur Ausbildung des ius commune in Europa. Es war präsent auch durch die Prominenz des kanonischen Prozessrechts und den Einfluss altbewährter kanonistischer Maximen.

 

Unter dem Titel „Die Veränderungen des kanonischen Rechts durch die Reformation und die Religionsverfassung des Alten Reichs“ breitet Martin Heckel in 30 Kapiteln auf 40 Seiten sein profundes Wissen zum Konfessionellen Zeitalter aus. Er verfolgt das Thema des (Verständnis-)Wandels des in beiden Konfessionen weiterlebenden kanoni­schen Rechts (S. 41) durch die Aufklärung hindurch bis zur Gegenwart. So entsteht eine an der Rolle des kanonischen Rechts in den evangelischen Kirchen orientierte „kleine Ge­schichte des Kirchenrechts“ der Neuzeit. Selbst dem, der schon einiges von Heckel gelesen oder gehört hat, bietet der Verfasser immer wieder interessante Durchblicke und einpräg­same Formulierungen: Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe bei Luther und in der Französi­schen Revolution (S. 37f.); neben der durch die Jahrhunderte schallenden Warnung vor der „papistischen“ Verfremdung des evangelischen Kirchenrechts sei „die etatistische Ver­fälschung seines Wesens bis zu Sohms Aufschrei kaum zu vernehmen gewesen“ (S. 39); Thomasius werfe Carpzov vor, „das evangelische Kirchenrecht durch das ,gottlose ius canonicum‘ mit den papistischen Greueln angefüllt zu haben“ (S. 58).

 

Karl Kroeschell befasst sich erneut, diesmal unter der Überschrift „Von der Gewohnheit zum Recht“ mit Entstehung, Verbreitung und vornehmlich dem sich wandeln­den Normcharakter des Sachsenspiegels im späten Mittelalter. Dabei ist die „Gewohnheit“ im Titel als „Rechtsgewohnheit“ zu verstehen. Ich habe jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür finden können, dass der Aufzeichnung des Rechts mangels Intentionalität der Norm­bildung oder aus sonstigen Gründen der Rechtscharakter abgesprochen würde. Das „Recht“ meint dann das am Maßstab der Vernunft und der göttlichen Wahrheit gemessene, das geschriebene, das zur Subsumtion taugliche, schließlich das vom Kaiser gesetzte und stärker kontrafaktische Recht, das auch nicht mehr Statut und Privileg ist. Zum traditiona­len Recht des Adels und der Bauern findet sich S. 78 Anm. 67 die Bemerkung, dass Fritz Kerns zugespitzte These vom „guten alten Recht“ des Mittelalters in einer traditionalen Grundhaltung der Zeit „eine gewisse mentalitätsgeschichtliche Rechtfertigung finden“ könnte. Den Weg zum Verständnis des Sachsenspiegels als Recht über die Vorstellung vom „geschriebenen Recht“ vertieft Kroeschell hier nicht. Er stellt vielmehr Zeugnisse in den Vordergrund, die auch den Sachsenspiegel als „Kaiserrecht“ benennen, ihn „sogar als ,allerneuestes Kaiserrecht‘ gegen das Corpus Iuris in Feld“ führen (S. 89). Die im Mittel­alter ohnehin starke Karlstradition kannte eine spezifisch sächsische, in Magdeburg zu lokalisierende Variante.

 

Gerhard Dilcher stellt unter dem Titel „Die stadtbürgerliche Gesell­schaft und die Verrechtlichung der Lebensbeziehungen im Wandlungsprozess zwischen Mittelalter und Neuzeit“ seine nun in Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa, Berlin 1999, ausgearbeitete Konzeption von Städtewesen und Stadtrecht „als eine(r) unverzichtbare(n) Stufe der Entwicklung“ (S. 104) in dem durch Rationalisierung im Sinne Max Webers gekennzeichneten Wandel vom Mit­telalter zur Neuzeit dar. Kommt man mit der stadtbürgerlichen „Gesellschaft“ und selbst mit den „Lebensbeziehungen“ angesichts von Bader/Dilcher S. 481-487 im Prinzip klar, so gilt das nicht auch für die „Verrechtlichung“ – ein Begriff, der im Bader/Dilcher ausweis­lich des Sachregisters – zu Recht, wie ich meine – keine Rolle spielt. Erst die Verknappung bringt ihn als zumindest missverständliche Kurzformel hervor. Neuartige „Lebens­beziehungen“ wurden rechtlich gestaltet, wie es alte „Lebensbeziehungen“ schon längst waren. Ferner haben wir es mit einem allmählichen Wandel in Struktur und Verständnis des Rechts zu tun, wie er S. 99, 103 ansprechend beschrieben wird, nicht aber mit einer Ausdehnung des Rechts auf Bereiche, die ihm zuvor verschlossen gewesen wären. Oder soll „Verrechtlichung“ heißen, dass nur und erst das Stadtrecht kontrafaktisch (S. 99) gewirkt habe? Dem müsste widersprochen werden, wenngleich Verschriftlichung die kontrafaktische Position stärkte. Doch „geschriebenes Recht“ gab es nicht nur in der Stadt, sondern schon länger in der Kirche, dann auch verbreitet im Lehn- und Landrecht. So kann Dilchers Bemühen, alle relevanten Wandlungsfaktoren gerade und nur auf die Stadt zurückzuführen in der hier vorgetragenen Exklusivität nicht überzeugen. Die Stadt ist eine wichtige, möglicherweise sogar die wichtigste Transformationsstelle in einem umfassen­den kultur-, wirtschafts- und sozialhistorischen Wandlungsprozess. In diesen ist sie jedoch eingebettet. Auch außerhalb ihrer gibt es in der Kirche und „auf dem Land“ Verschriftli­chung, großräumige Rechtsgeltung, verstärkte Ansätze zur Rationalisierung, religiös – nicht nur wirtschaftlich – begründete Solidarisierung „sozialer Großgruppen“ gegen die „herrschenden Schichten“ und schließlich eine allgemeine Siedlungsfreiheit.

 

Wie vielgestaltig die Entwicklungskräfte im späten Mittelalter waren, das zeigt dann auch die umfangreiche Bestandsaufnahme Wolfgang Sellerts, „Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse“ (S. 115-166). Sicher haben der Aufbruch im Städtewesen und das Stadtrecht der Rezeption teilweise vorgear­beitet, teilweise laufen beide Erscheinungen aber auch nebeneinander her. Und die Rezep­tion als ein „städtisches“ Phänomen begreifen zu wollen, nur weil die ersten Universitäten in Städten und nicht auf dem flachen Land standen, würde denn doch den Erklärungswert des „Stadtansatzes“ überstrapazieren. Die Beiträge von Heinig und Männl im vorliegenden Bande zu gelehrten Juristen im Dienste der deutschen Könige und der deutschen Territo­rialherren sprechen insoweit doch eine deutliche Sprache. Den Beitrag Sellerts, der selbst eine Zusammenfassung ist, hier „besprechen“ zu wollen, würde wenig Sinn machen. Er leistet, was er verspricht, zeigt auch Perspektiven künftiger Forschung auf. Seinem Fazit, es sei kaum zu erwarten „dass sich dadurch das Gesamtbild, das wir heute von der Rezep­tion des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland haben, im Kern noch ändern wird“, ist beizupflichten.

 

Es ist auch deshalb überzogen, wenn Paul-Joachim Heinig eingangs seines Bei­trages über gelehrte Juristen im Dienst der römisch-deutschen Könige des 15. Jahrhunderts von einem „Paradigmenwechsel“ in der einschlägigen verfassungs- und verwaltungsge­schichtlichen Forschung der beiden letzten Jahrzehnte spricht. Wer sich mit der Geschichte der Höchstgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert befasst hatte, wusste auch, dass den deut­schen Königen gelehrte Juristen nicht nur „marginal“ (S. 167) zur Verfügung standen. Heinig nennt jetzt konkrete Zahlen und zeigt Rekrutierungsbereiche und Tätigkeitsfelder (Hof­rat, Kanzleien, Kammergericht, Fiskalprokuratoriat) auf. Auch die soziale Herkunft und die Besoldungsmodalitäten kommen zur Sprache. Das Ergebnis ihres Tuns wird mit dem üblich gewordenen, gleichwohl unschönen Wort von der „Verdichtung des Reiches“ beschrieben, wenn diese sich auch teilweise als eine Erweiterung des Rekrutierungsfeldes durch Beachtung reichsfürstlicher Besetzungswünsche darstellt. Freilich wurde das Reich auch „verrechtlicht“, wobei die Metapher der „Verrechtlichung“ hier angesichts des Auf­baus teilweise sogar neuer Behörden in einer Besetzung (auch) mit gelehrten Juristen einen gewissen Sinn macht. Wenig Sinn macht allerdings die „Verrechtlichung des Reiches und der Beteiligten“ (S. 180) – soll wohl heißen, dass gelehrte Juristen eingesetzt wurden.

 

Ingrid Männl zeigt in entsprechender Weise am Beispiel von Kurmainz auf, wann, in welchem Umfang und mit welcher Aufgabenstellung gelehrte Juristen in den Dienst der deutschen Territorialherren traten (1250-1440). Hier fällt auf – was übrigens auch für Heinigs Beitrag gilt -, dass die Ausführungen keinerlei Rückbindung zu Sellerts Über­blicks-Referat aufweisen und damit z. B. auch die älteren Arbeiten von Adolf Stölzel mit keinem Worte würdigen. Interessant ist vornehmlich der vergleichende Teil von Männls Beitrag, der sich im Wesentlichen auf ihre Gießener Dissertation vom Jahre 1987 stützt. Er weist große zeitliche und zahlenmäßige Unterschiede im Einsatz gelehrter Juristen aus. Z. B. Erstbeleg für das Erzbistum Salzburg 1267, für Trier 1273, für Mainz um 1290, für Bremen 1328, für Riga 1360. Im Untersuchungszeitraum setzten die Könige von Böhmen 72, die Herzöge von Österreich 60, der Erzbischof von Köln 56, der Mainzer 49, die Her­zöge von Bayern 34, der Bischof von Konstanz 32 gelehrte Juristen ein. Der Schwerpunkt liegt eindeutig im 15. Jahrhundert. Die Gründung von Universitäten im Reich seit 1348 wirkte sich signifikant aus. Im Übrigen besteht ausgehend von den führenden Landschaft Norditalien und Niederlande ein Verbreitungsgefälle jeweils von Süden nach Norden und von (Nord-)Westen nach (Nord-)Osten. „Zwischen dem Auftreten des ersten Offizials in den Diözesen Trier und Riga liegt beispielsweise eine zeitliche Differenz von 130 Jahren“ (S. 197). Solche Zahlen muss sich jeder einprägen, der über Rezeption arbeitet.

 

Hartmut Boockmann berichtet mit anschaulicher Lebensnähe über die Tätigkeit gelehrter Juristen in Nürnberg etwa ab 1400. Die wichtigste Quelle, eine im Jahre 1516 von einem solchen Juristen, Christoph Scheurl, verfasste Skizze der Nürnberger Ratsver­fassung, wird befragt und zugleich überprüft. Es zeigt sich, dass die Stadt schon früh und intensiv gelehrte Juristen in ihren Dienst nahm, dass deren Positionen und Tätigkeiten jedoch weniger eindeutig fixiert, gegeneinander abgegrenzt und „beamtenmäßig“ (S. 213) geordnet waren, wie dies nach Scheurl erscheinen muss. Es hängt dies auch damit zusam­men, dass die Nürnberger Juristen Kleriker (an den Stadtpfarreien) sein konnten und in aller Regel nicht nur für die Stadt tätig waren.

 

Der bekannte Nürnberger Ratsbeschluss vom Jahre 1454, dass in Nürnberg kein Doktor (iuris) im Rat sitzen solle, er sei vom geschlecht wie edel er immer woll (S. 200, 215), wurde schon von Boockmann angesprochen, doch recht vorsichtig ausgedeutet. Helmut G. Walther wird in seinem Beitrag „Italienisches gelehrtes Recht im Nürnberg des 15. Jahrhunderts“ insofern deutlicher. Der Beschluss sei „ein Signal, für wie erfolgreich und gefährlich für die Tradition städtischer Politik zugleich die Geschlechter die gelehrten Juristen hielten“ (S. 227). Das erscheint angesichts der Bedeutung, die die Argumente und das Agieren der Nürnberger Ratskonsulenten in den nicht seltenen politisch relevanten Prozessen der Reichsstadt gewannen, recht plausibel. Nur durch einen solchen Beschluss konnte die politische Willens- und Entscheidungsbildung von den juristischen Grundlagen, deren sie sich bediente, getrennt gehalten werden. Der Nürnberger Rat folgte insofern wohl einem Paduaner Vorbild, vermittelt durch die engen wirtschaftlichen und juristisch-ausbil­dungsmäßigen Beziehungen, die Nürnberger Patrizier während des gesamten Jahrhunderts zu Stadt und Universität Padua unterhielten. Dieser sehr engen Beziehung gilt das „italie­nische“ gelehrte Recht in der Überschrift, um sie kreisen die Ausführungen. Der Verfasser spricht nicht von „Verrechtlichung“ und auch die „Verdichtung“ erscheint eher mit Bezug auf andere erst auf der letzten Seite. Er hebt auf Veränderungen durch die argumentative Praxis städtischer Rechtskonsulenten ab (S. 229) und sieht eine „Juridifizierung politischer Konflikte“ (S. 225f.). Das ist nachvollziehbar. Unklar blieb mir, wie sich gelehrte Juristen durch „prozessuale Kniffe“ als ein neuartiger Typ „professioneller Politiker im Reichsge­schäft“ (S. 226; „Karriere als Berufspolitiker“, S. 220) hätten etablieren können. Dass sie auch politisch agieren mochten (S. 210), steht auf einem anderen Blatt. Als Parteivertreter aber dienten sie prinzipiell dem, der sie (besser) bezahlte (S. 212).

 

Abschließend berichtet Berndt Hamm über den Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler „als Rechtsdenker und Advokat der Reformation“. Die interessante Studie ist allerdings eher eine Momentaufnahme zum „reformatorischen Aufbruch“ der Jahre von 1517 bis 1534 und zu den ihm begegnenden Widerständen. Das Wort der Bibel als letzt­gültiger Maßstab in allen Lebensbereichen (S. 252), Glaube und Liebe als „die tragenden Pfeiler der Gottesverehrung, des gemeinen Nutzens, aller bürgerlichen Werte und damit jeder wahren Ordnung einer christlichen Stadt“ (S. 253) belegen ein „Einheits- oder Har­moniemodell“ (S. 254), das im Übergang vom Mittelalter nur punktuell und nur vorüber­gehend Einfluss gewinnen konnte.

 

Der Gesamteindruck ist deshalb zwiespältig, weil es sich um einen Akademie-Band han­delt. Sollen wissenschaftliche Akademien zusammenfassende Überblicke, geringfügige Weiterentwicklungen des bereits angemessen Publizierten einerseits, Auswertungen von Dissertationen und Detailstudien zu einer bestimmten Vertreterin eines bestimmten Lebensbereichs – hier also der Stadt Nürnberg – andererseits veranstalten? Aus diesem Rahmen fallen eigentlich nur die Beiträge von Becker und Dilcher. Und zu Nürnberg soll angemerkt sein, dass es hinsichtlich des massiven Einsatzes gelehrter Juristen im Spätmit­telalter weit an der Spitze der Entwicklung liegen dürfte.

 

Würzburg                                                                                                    Jürgen Weitzel