Raedel, Christiane, Amtsenthebungen und Kündigungen von Betriebsräten in der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (= Berliner juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 11). Berlin-Verlag/Nomos, Berlin/Baden-Baden 1999. XV, 424 S.

 

I. Spezialthema und Grundfragen

Christiane Raedel untersucht in ihrer Hallenser, von Wolfhard Kohte betreuten Dissertation von 1997 die Beschlüsse des Reichsarbeitsgerichts zu bestimmten Rechtsbeschwerden, die Betriebsratsmitglieder betreffen, und zwar in den sieben Jahren zwischen dem Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes (1927) und dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (1934). Im Grunde geht es aber um zwei Grundfragen der neuesten Rechtsgeschichte: um die Kontinuität der Rechtsentwicklung vom Kaiserreich über die Republik und die Diktatur bis in die zweite deutsche Republik und um das Gesellschaftsbild der Richter.

 

II. Inhalt

1. Gliederung

Christiane Raedel beginnt mit einer wegweisenden „Einleitung“ (2–8), beschreibt im Teil A, gestützt auf eine breite Sekundärliteratur, „Die sozialen und gesetzlichen Grundlagen“ (9–114) und begibt sich mit Teil B, in den weiteren beiden Dritteln der Arbeit, in die „Auswertung der Akten“ (115–376): knapp zu den „Amtsenthebungen“ (115–153), länger zu den Kündigungen (154–266). Sodann wertet sie die Urteilsbegründungen aus (267–333), erörtert den „Einfluss der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Rechtsprechung ab 1931“ (334–343) und stellt die „Rechtsprechung im Jahr 1933“ dar (344–376). Den Abschluss bilden eine „zusammenfassenden Betrachtung“ und ein „Anhang“. Die wichtigsten Gesetzestexte sind in der Arbeit wörtlich wiedergegeben.

 

2. Vorverständnis

In ihrer „Einleitung“ erklärt sie es als das Problem der damaligen Richter, dass sie Entscheidungen „auf einer durch das BRG (Betriebsrätegesetz) Gesetz gewordenen gedanklichen Basis treffen“ mussten, „die sie auf Grund ihrer politischen Einstellung ablehnten“. „Angesichts dieses Spannungsfeldes“ fragt sie, „welche Vorstellungen und Leitbilder der Richter in den Entscheidungen des RAG zum Ausdruck kommen“. Sie erwartet solche Vorstellungen dort, „wo sich Richter vom seinerzeitigen Gesetzes- und Rechtsverständnis entfernen“ (3-5).

 

Dem Reichsarbeitsgericht gehörten am Ende elf richterliche Mitglieder an. Über deren „politische Einstellung“ vor 1933 lasse „sich wenig berichten", heißt es; die von der Verfasserin von anderen übernommenen Angaben zur Parteizugehörigkeit sind wenig klar. Die Verfasserin gibt dann die Mitteilung weiter, dass zu einem späteren, nicht präzisierten Zeitpunkt von insgesamt 31 Richtern des Reichsarbeitsgerichts 15 einer nationalsozialistischen Organisation angehört hätten. Diese Angaben entsprechen nach ihrer Meinung „ungefähr dem Bild des Richters in der Weimarer Republik, das die neueren Untersuchungen zu diesem Thema zeigen“. Denn „hier besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Richter Weimars aufgrund ihrer sozialen Herkunft aus der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht und ihrer Erfahrungen während der Weimarer Republik ... in der Mehrzahl eher monarchistisch und antisemitisch gesonnen waren, insbesondere der Sozialdemokratie ablehnend gegenüberstanden ... Anhänger der SPD, Zentrum und DDP waren in der Richterschaft kaum vertreten“ (74–76).

 

„Die Untersuchung“ (91-114) referiert ausführlich den „Stand der Forschung“, insbesondere die zeitgenössische Kritik aus der Weimarer Zeit selbst und sodann die rechtshistorische Aufarbeitung aus der Zeit der Bundesrepublik. Sie geht aus von den kritischen Arbeiten von Ludwig Bendix[1]  und Ernst Fraenkel[2] aus dem Jahre 1927, also noch ohne Einbeziehung der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, folgt des weiteren Franz Neumann[3] und „orientiert sich primär an ... Kahn-Freund ...“[4].

 

3. Gerichtsverfassung und Beschlussverfahren

„Das Beschlussverfahren“ fand bei Streitigkeiten auf Grund des Betriebsrätegesetzes Anwendung. Gegen den Beschluss in der ersten Instanz war nur eine Rechtsbeschwerde zulässig und zwar bei „Unternehmungen oder Verwaltungen, die sich über den Bezirk eines Landes hinaus erstrecken oder die hinsichtlich der dienstlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer der Aufsicht des Reichs unterstehen“, direkt an das Reichsarbeitsgericht (72-90). Dieses bestand damals aus einem einzigen Senat und judizierte in der Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern. Die Zahl aller Rechtsbeschwerden an das Reichsarbeitsgericht sprang von Jahr zu Jahr, bis sie, nicht zuletzt wegen „der großen Arbeitslosigkeit“ (110, ähnlich 157) 101 im Jahre 1932 erreichte, fiel auf 32 im Jahre 1933 und summierte sich auf insgesamt 429, von denen etwa 200 für das Thema der Arbeit relevant waren (106–111).

 

4. Amtsenthebungen

Die „historische Entwicklung von Amtsenthebungen“ beginnt 1905 mit der Novellierung des preußischen Berggesetzes, führt 1920 zu § 39 des Betriebsrätegesetzes und 1926 zur Zuständigkeitsbestimmung durch das Arbeitsgerichtsgesetz. Danach kann das Arbeitsgericht auf Antrag „das Erlöschen der Mitgliedschaft eines Vertreters wegen gröblicher Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten beschließen“. Derartige Anträge gingen fast immer vom Arbeitgeber aus. Wurden sie in der ersten Instanz abgelehnt, kam es zur Rechtsbeschwerde durch die Arbeitgeber. Wo hingegen das Arbeitsgericht dem Antrag entsprochen und die Amtsenthebung erklärt hatte, erfolgte die Rechtsbeschwerde durch den betroffenen Betriebsrat oder sein Mitglied. Insgesamt 38 Rechtsbeschwerden betreffen Amtsenthebungen, aber nur in jeweils einem Fall half das Reichsarbeitsgericht den Rechtsbeschwerden ab. Amtspflichtverletzungen und politische Betätigung, insbesondere für die KPD oder RGO, nie für die nationalsozialistische Betriebszellenorganisation, über deren respektive Verbreitung nichts mitgeteilt wird, waren die häufigsten Gründe für die Amtsenthebungsanträge und ihren Erfolg (68-153).

 

5. Kündigungsschutz

Zunächst werden die „historische Entwicklung des Kündigungsschutzrechts“ und „der Kündigungsschutz des BRG“ mit seinen beiden Komponenten der „Fürsorge für Arbeitnehmer“ allgemein und des „Bestandsschutzes für Amtsträger“ nachgezeichnet (37-67). Die ordentliche Kündigung eines Mitglieds einer Betriebsvertretung bedurfte der Zustimmung dieser Betriebsvertretung. Gegen deren Ablehnung konnte der Arbeitgeber das Arbeitsgericht anrufen. Das Arbeitsgericht konnte im Beschlussweg die fehlende Zustimmung der Betriebsvertretung ersetzen. Gegen die Erteilung der Zustimmung wurden 97 Rechtsbeschwerden beim Reichsarbeitsgericht eingelegt, gegen die Verweigerung der Zustimmungsersetzung durch das Arbeitsgericht 54, mit steigender Tendenz bis 1932 und Rückschlag im Jahre 1933. Die Arbeitnehmerseite war in 14, die Arbeitgeber waren nur in fünf Fällen erfolgreich. Nach Ansicht der Verfasserin waren generell die Entscheidungen in diesem Bereich nicht von einer Benachteiligung der Betriebsvertretung geprägt. Doch habe das Reichsarbeitsgericht den geschützten Personenkreis und die Dauer des Schutzes zu restriktiv ausgelegt und habe in zu großzügiger Weise erlaubnisfreie Betriebsstilllegungen mit Entlassungen bejaht. Bei verhaltensbedingten Kündigungen zog das Reichsarbeitsgericht die Arbeitnehmerpflichten, auch außerhalb des Betriebes, sehr weit. Auch hier betraf das vom Gericht missbilligte politische Verhalten weitgehend Tätigkeiten zu Gunsten der KPD und der RGO und es berücksichtigte noch „Sonderbelange“ für Staatsbetriebe, die eine erleichterte Kündigung erlaubten (154–266).

 

6. Entscheidungsbegründungen

Das Reichsarbeitsgericht sah den „Betriebsrat als Friedensinstitution“ an, wie zahlreiche „Beispiele aus der Rechtsprechung“ zeigen. Mochte auch diese Ansicht hinsichtlich einzelner Aspekte „von der Literatur im allgemeinen geteilt“ werden, so gab es doch nach den Zitaten der Verfasserin auch geradezu entgegengesetzte Ansichten. „Betrieb und Betriebsgemeinschaft“ waren in der Rechtsprechung und Literatur undeutlich ausgeprägt oder umstritten. Im „Ergebnis“ kritisiert Christiane Raedel die angebliche Überbetonung der Pflichten aus § 66 Nr. 3 und 6 BRG, welche die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen einschränkte. Das Reichsarbeitsgericht wünschte, dass „der Betriebsrat als Vorbild“ fungiere, dazu werden wiederum „Beispiele“, mit nur wenigen Nachweisen zu „Rechtsgrundlagen und Rechtsfolgen“ angeführt (274-333).

 

7. 1933

Aus Anlass der „Rechtsprechung im Jahr 1933“ erörtert Christiane Raedel insgesamt das „Sozialideal des RAG“. Sie enthält sich zwar einer ausdrücklichen Stellungnahme zu der von Kahn-Freund unternommenen, umstrittenen Gleichstellung des Sozialideals des Reichsarbeitsgerichts mit dem des italienischen Faschismus, sieht aber „Übereinstimmungen zwischen der Rechtsprechung des RAG und tragendem nationalsozialistischen arbeitsrechtlichen Gedankengut... Dies betrifft dessen Auffassung von einer starken Stellung des Arbeitgebers, ... die ergänzt wird durch eine betriebliche Gemeinschaftsidee, ... die auch den Aspekt der Unterordnung der Interessenvertretung unter übergeordnete Betriebsinteressen umfasst. Den wirtschaftsfriedlichen Auffassungen, die dem AOG zugrunde liegen, entspricht die Neigung des RAG, gewerkschaftliche und politische Tätigkeiten von Betriebsräten einzuschränken bzw. zu unterbinden. Hinzu kommen Aspekte wie der Elitegedanke bei Vertrauensleuten ... und Ähnlichkeiten in einer beamtengleichen Ausgestaltung der Stellung der Betriebsräte bzw. Vertrauensleute" (372, s. auch 106). Doch erwähnt die Verfasserin auch neue Aspekte des Arbeitsordnungsgesetzes von 1934 im Vergleich zu der bisherigen Rechtsprechung (344–376).

 

III. Kritik

1. Statistik

Gewiss sind die in sieben „Abbildungen“ und 26 Tabellen niedergelegten Statistiken, trotz ein paar Wiederholungen, beeindruckend. Aber der nicht spezialisierte Leser fühlt sich leicht etwas allein gelassen: Was etwa soll er , ohne Anleitung, den Angaben darüber entnehmen, wie viele Verfahren zwischen 1927 und 1934 die §§ 39 II, 41, 52f., 80 II etc. des Betriebsrätegesetzes betreffen (Tabelle 2)? Zur Interpretation genügt beispielsweise auch nicht eine Äußerung nach dem Muster, dass die weit überwiegende Bestätigung der erstinstanzlichen Beschlüsse durch das Reichsarbeitsgericht (121, Tabellen 8 und 9) „überrascht“ (377).

 

Dazu seien weitere Fragen zum Sinn der Prozessstatistik gestellt: Die Menge oder die Gegenstände der Verfahren mögen Hinweise auf die Sozial- und Rechtsverhältnisse allgemein und vielleicht auf die an das Gericht gestellten Erwartungen erlauben. Man vermag aber nicht ohne weiteres erkennen, in welcher Weise sie auf Charakteristika des Reichsarbeitsgerichts selbst und seiner Richter, um die es ja in dieser Arbeit geht, schließen lassen. Derselbe Zweifel betrifft die Verteilung der Parteirollen danach, ob Arbeitgeber oder Betriebsräte bzw. deren Mitglieder das Arbeitsgericht angerufen haben. Selbst der Prozentsatz der für die eine und die andere Seite günstigen Beschlüsse muss nicht ohne weiteres signifikant sein.

 

Wie viele Verfahren überhaupt in der Republik anhängig waren, wer sie angestrengt hatte und wer der Gegner war, wie sie ausgegangen sind - diese Fragen und Antworten bleiben außerhalb der Untersuchung. Auch liegen alle anderen Streitsachen, die Betriebsratsmitglieder betreffen, alle anderen Rechtsbeschwerden, alle Streitsachen kleiner und mittelgroßer Privatunternehmen außerhalb des Forschungsrahmens der Verfasserin. Selbst die Angaben zur Kündigung haben nur einen beschränkten Aussagewert, weil außerordentliche Kündigungen und Betriebsstilllegungen sowie Kündigungen von Arbeitnehmern, die nicht der Betriebsvertretung angehören, nicht erfasst sind.

 

2. Thesen

Zunächst ist positiv zu bemerken, dass sich die Verfasserin ihrer eigenen Arbeitshypothesen bewusst wird und diese dem Leser furchtlos mitteilt (105f.). Das veranlasst den Rezensenten, sich seinerseits als „bürgerlich“ zu „outen“. Sie fragt vor allem, ob die Richter einem generellen „Gemeinschaftsgedanken“ und dem „Wohl des Betriebes“ oder ob sie der „Selbstbestimmung der Arbeiterschaft“ den Vorrang einräumten (7f.). Nach ihrer ersten Hauptthese hat das Reichsarbeitsgericht „Betriebsräte primär nicht als Instrument zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen angesehen, sondern als friedensstiftende und -erhaltende Institution, die die ,Arbeits- und Betriebsgemeinschaft’ herstellen und fördern sollte“ (105, 377ff.). Zum Beweis dienen ihr vor allem drei Begründungen: Zahlenreihen, zeitgenössische Literatur und Äußerungen des Reichsarbeitsgerichts selbst.

 

Christiane Raedel räumt selbst „die schmale Ausgangsbasis“ der in Betracht kommenden Verfahren ein (107). Zudem endeten die Amtsenthebungsverfahren vor dem Reichsarbeitsgericht mit einem Patt, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich häufig zu Gericht gegangen waren und jede der beiden Seiten nur einmal Erfolg hatte (123), und schließlich waren die Kündigungsbeschwerden von Seiten des Betriebsrates oder seiner Mitglieder verhältnismäßig öfter erfolgreich als die von Seiten des Arbeitgebers (158ff., 204f.).

 

Der erwartete Nachweis, dass „sich Richter vom seinerzeitigen Gesetzes- und Rechtsverständnis entfernen“ (5), ist m. E. kaum gelungen. Die Verfasserin beruft sich vor allem auf damalige kritische Kommentare, indem sie die „Werke der ‚großen’ Weimarer Arbeitsrechtler von ihrem Anliegen her als weniger bedeutungsvoll“ abtut. Denn die „Stellung der ‚bürgerlichen’ Arbeitsrechtler zur Weimarer Gesellschafts- und Arbeitsverfassung“ sei „neutral“ gewesen und habe die Rechtsprechung insgesamt bejaht (101). Tatsächlich zeigt sich, dass, jedenfalls zu bestimmten Punkten, die Ansicht des Reichsarbeitsgerichts von einem Teil der Literatur ganz oder teilweise angenommen wird (z. B. 223ff., 278ff., 290ff., 305ff.).

 

Die besondere Bedeutung der Arbeit liegt m. E. in der Mitteilung der Argumente des Reichsarbeitsgerichts. Diese Partien sind am überzeugendsten. Man vermisst aber ausführlichere Berichte über die Begründungen des Reichsarbeitsgerichts zu den vielen Beschlüssen, in denen es Kündigungen und Amtsenthebungen gerade abgelehnt und auf diese Weise die Betriebsräte gegenüber den Unternehmern geschützt und gestärkt hat.

 

Christiane Raedel kritisiert, dass diese Rechtsprechung weniger den „Ansprüchen der Weimarer Reichsverfassung“ und der „demokratischen Konzeption“ des Betriebsrätegesetzes entsprochen habe (105f.). Meines Erachtens ist aber ein Grund für Urteilsschelte nicht gegeben: Gesellschaft und Staat insgesamt waren bekanntlich nicht zur Gänze sozialdemokratisch. Die Wahlen verhalfen von Anfang an auch anderen Richtungen zu politischem Einfluss. Die Verfassung beruhte auf einem Kompromiss und räumte neben den Sozialdemokraten den Katholiken, Liberalen und Konservativen starke Rechtsstellungen ein. Das Betriebsrätegesetz enthält Kompromisse, die die Arbeiter zu Massendemonstrationen provozierten, deren Niederschlagung 42 Tote und 105 Verletzte forderte (27ff.). Die Betriebsräte wurden nach § 1 des Gesetzes „zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer ... dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke“ eingeführt. § 66 BRG nennt als ihre „Aufgabe: 1. ... die Betriebsleitung mit Rat zu unterstützen, um dadurch mit ihr für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistungen zu sorgen; ... 3. den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren; 6. ... das Einvernehmen innerhalb der Arbeitnehmerschaft sowie zwischen ihr und dem Arbeitgeber zu fördern...“ etc. Kein Wunder, dass „oppositionelle Gewerkschaftler“ den § 66 BRG als „’berüchtigt’ und kennzeichnend für den ‚konterrevolutionären Charakter des heutigen Betriebsrätegesetzes’“ ansahen (279f.). Ebenso wenig wie dieses Gesetz war die Arbeitsgerichtsbarkeit als Institution zur einseitigen Durchsetzung der Arbeitnehmerinteressen eingerichtet. Wirklich sehen die Beteiligten inneren Frieden und übergeordnetes Interesse sowohl in Aufbau- als auch in Krisenzeiten als besonders wichtig wie für den einzelnen Betrieb so für den Staat insgesamt an, gerade während der auch von der Verfasserin erwähnten „beinahe bürgerkriegsähnlichen Zustände gegen Ende der Weimarer Republik“ (120).

 

Diese an betrieblicher Harmonie orientierte Sichtweise führt die Verfasserin, mit Recht, bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück und spürt das Argument der übergeordneten Betriebsinteressen wieder im Nationalsozialismus auf (105f., 281ff., 309ff., 322ff., 371). Ebenso richtig ist ihre Feststellung, dass in der Rechtsordnung des Kaiserreichs, der Republik oder des Nationalsozialismus nicht die Arbeiterklasse auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen besonders gefördert wurde.

 

Aber damit wird nach meiner Ansicht den jeweils eigenen Leistungen der Parlamente und Regierungen vor 1933 eine zu geringe Bedeutung beigelegt, ihre Motivationen werden zu sehr verkürzt, doch sind diese früheren Perioden nicht mehr Gegenstand der schon genügend umfangreichen Dissertation. Es bleibt zu bedauern, dass die Entwicklung zu Gunsten der Arbeitnehmer nicht rasch genug vor sich gegangen war, die Fortschritte nicht ausreichten und die neue Generation, etwa die um 1900 geborenen Sinzheimer-Schüler, „den Marsch durch die Institutionen“ noch nicht hatten schaffen können, weil sie ab 1933 als Sozialdemokraten oder Juden verfolgt oder umgebracht wurden[5].

 

Ich meine, wie der Produzent jeder guten Leistung hat auch diese Autorin deswegen nur teilweise recht, weil sie ihre Thesen überziehen muss, um sie zu Gehör zu bringen: Es ist richtig, dass die Richter „Betriebsinteresse“ und „Harmonie“ berücksichtigten, aber es geht zu weit, ihnen Einseitigkeit und Verfassungsverstoß vorzuwerfen. Ebenso ist es richtig, dass auch die Arbeitsrechtsgeschichte in einem Kontinuum steht, aber es geht zu weit, die spezifischen Fortschritte gerade in der Weimarer Republik zu übergehen. Es handelt sich damit um eine sehr anregende Studie, um einen wichtigen Baustein zu der deutschen, dann europäischen Arbeitsrechtsgeschichte, auf die wir warten.

 

Berlin                                                                                                             Hans-Peter Benöhr



[1] Ludwig Bendix, Die irrationalen Kräfte der zivilrichterlichen Urteilstätigkeit auf Grund des 110. Bandes der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Breslau 1927. S. auch ders., Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters und andere Schriften, hrsg. V. M. Weiss, Neuwied und Berlin 1968; R. Bendix, Von Berlin nach Berkeley, Frankfurt a. M. 1995.

[2] Ernst Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjurisprudenz, Berlin 1927.

[3] Franz Neumann, Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Berlin 1929.

[4] Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, eine kritische Untesuchung zur Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, Mannheim 1931; dazu ausführlich in der Dissertation S. 97 ff. und S. 371 ff. m. weit. Lit.

[5] H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, pass.; H.-P. Benöhr, Der Beitrag deutsch-jüdischer Juristen zum Arbeits- und Sozialrecht, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 48 (1996), S. 313 – 337; insbes. zu Ludwig Bendix, Georg Flatow (1944 in Auschwitz umgebracht), Ernst

Fraenkel, Alfred Gerstel (Göppinger 282), Heinrich Hoeniger, Hermann Isay, Rudolf Isay, Erwin Jacobi, Otto Kahn-Freund, Walter Kaskel (1882 – 1928), Franz Neumann, Hugo Sinzheimer.