Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Europarats- und Landesausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“, hg. v. Schneidmüller, Bernd/Weinfurter Stefan. Zabern, Mainz 2001. VIII, 398 S., 86 Abb.

 

Nach den großen Ausstellungen zur Geschichte von Dynastien, Staufern, Wittelsbachern, Saliern und Welfen mit den dem Erhalt ihrer wissenschaftlichen Bedeutung nachwirkenden Katalogen erschien ein vergleichbares Opus, bezogen auf Magdeburg, das 968 nach langem Ringen mit den geistlichen Reichsfürsten in Mainz und Halberstadt Dank Kaiser Otto I. Sitz eines Erzbistums wurde. Hier gab es eigentlich kein jubiläumserzwingendes Datum, sondern eher eine aus jüngster Vergangenheit motivierbare und vom Europarat aufgegriffene Veranlassung zur Beschäftigung mit den Herrschern aus dem Hause der Ottonen, deren Frauen, Verwandten, Freunden und Gegnern im Kreis der Fürsten und den Päpsten. Das Unternehmen wurde in zwei Stufen gestaltet. Im Mai 1999 wurde unter der Leitung von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter ein Kolloquium veranstaltet, Ende August 2001 fand die Eröffnung der Ausstellung statt. Zu dieser gab Matthias Puhle den Katalog in zwei Bänden heraus, deren erster Essays, der zweite die Abbildung der Exponate mit reichen Kommentaren bringt. (Otto der Große. Magdeburg und Europa. 2 Bände, hg. v. Puhle, Matthias. Mainz, Verlag Philipp v. Zabern 2001, 1: XXIII u. 584 S.; 2: 616 S.) Die erstklassige Ausstattung aller Teile besorgte der Mainzer Verlag von Zabern. Auf die vorzügliche Wiedergabe der Urkunden und anderer Schriftproben sei eigens hingewiesen, durch die im Gegensatz zu manch anderen Editionen die Lesbarkeit gewährleistet bleibt, technische Vervollkommnung auch ansonsten besticht.

 

Das Symposionswerk stellt eine in sich redaktionell geschlossene Einheit dar, soll aber in Relation mit dem genannten Essayband der Ausstellung verglichen werden (Querverweis jeweils mit: Essays, Autorennamen, Stichwort). Stefan Weinfurter bringt (S. 1-16) die programmatische Hinführung zur Ausstellung an einem Höhepunkt deutscher Reichsgeschichte mit der im bisherigen Rahmen landläufiger Epochengliederung überzeugend motivierten Leitidee eines Neuanfanges nach der als Überleitung aus konradinischer zur ottonischen Phase aufzufassenden Regierung König Heinrichs I. hin zum 37 Jahre lang wirkenden Otto dem Großen. In der durch die Kürze seines Vortrags gebotenen Auswahl des der Bestimmung des Platzes Ottos des Großen in der Geschichte gewidmeten Beitrages bringt Rudolf Schieffer (S. 17-35) als Hauptpunkte den Vorrang des Herrschers vor den anderen Königen in Europa, schildert dessen Ausgreifen an den Mittelrhein, dann 951 nach Italien, die Krönung 962 und den langen Aufenthalt in Italien, so daß ein römisches, kein deutsches, Reich geformt wurde mit Bewahrung von dessen Titulatur bis zum Untergang achthundert Jahre später (bes. S. 30). (Dazu Schieffer, Italienerlebnis. Essays, S. 446-461). Joachim Ehlers widmet subtile Einzelnachweise dem Raumbewußtsein und der Raumerfahrung in Sachsen als neuer Zentrallandschaft des Reiches in den Ortsbezeichnungen bei Widukind von Corvey im Vergleich mit den Lokalangaben in Urkundendatierungen, der durch die kartographischen Austragungen die Beschränktheit der Aussagen in Widukinds Werk verdeutlicht (S. 37-57, dazu Ehlers in: Essays, S. 489ff., zu Sachsen die Ausführungen von Hans K. Schulze, Dietmar Salewsky, Christian Lübke und Gerhard Streich ebd. S. 30-88 mit instruktiven Karten S. 34 u. 35, 54, 66 und besonders 76, durch die der starke Ausbau der Sakrallandschaft und deren Einbeziehung in die Reichskirche in guter Optik dargestellt werden.) In Verlauf und bisherige Ergebnisse der Grabungen in Magdeburg führen ein Cord Meckseper (S. 59-69) und die älteren Angaben nuancierend Babette Ludowici (S. 71-84)), wobei Mecksepers Hinweis Beachtung verdient, daß aus dem Vergleich der Befunde mit Quellenaussagen nicht auf die einheitliche Errichtung einer Pfalzanlage geschlossen werden kann. (Dazu beide Verfasser in: Essays, S. 367-380 und 391-402 mit besseren Abbildungen). – Eine Bestandsaufnahme der ottonischen Münzprägung bringt Bernd Kluge, Otto rex / Otto imperator (S. 85-112). Die Münztätigkeit im Reich durch Herrscher, Herzöge und geistliche Reichsfürsten nahm großen Aufschwung, offensichtlich infolge des Aufschlusses der Silberadern im Harz, realisiert an 32 Orten in allen Herzogtümern mit Ausnahme Bayerns und enormem Gewicht an Produktion in Mainz, Worms und Speyer. Die meisten Funde wurden in Skandinavien, Polen und Rußland als Hauptgebieten im numismatischen Horizont gefördert. (Dazu Karte und Abbildungen bei Kluge in: Essays, S. 414-426).

 

In andere Forschungsbereiche führt zunächst Christian Lübke, Die Erweiterung des östlichen Horizonts. Der Eintritt der Slaven in die europäische Geschichte im 10. Jahrhundert (S. 113-126). Mehr als der Erörterung über Slavensiedlung auf Reichsboden, besonders im heutigen Oberfranken und Thüringen, wendet sich Lübke den Herrschaftsstrukturen in Polen und Böhmen zu, dann den dynastischen Verbindungen und der langsamen Christianisierung mit der Einbeziehung in Westeuropa. (Dazu ausführlich Lübke, in: Essays S. 65-74 mit Karte S. 66 für den Raum zwischen Elbe und Oder, an anderer Stelle knapp Klaus Zernack, in: Essays S. 517-524. Karten wären hier dienlich gewesen). – Anschließend legt Timothy Reuter, König, Adlige, Andere, Gedanken über Basis und Überbau in ottonischer Zeit, (S. 127-150) vor (dazu Essays, S. 179-188 mit Betonung  karolingischer Traditionen). Beachtenswert sind die Differenzierungen im Gebrauch der Bezeichnungen gesellschaftlicher Prozesse in England, Frankreich und Deutschland in ungefähr zeitgleichen Abläufen. Im Reich entwickelten sich viele Auseinandersetzungen ohne Beteiligung des Herrschers, einen Königsfrieden, der hier normativ und eine Entscheidung begründend hätte angewandt werden können, gab es nicht (S. 138), Fehden sind meist nur ansatzweise erkennbar. Die Quellen lassen soziale Differenzierungen nicht erkennen (S. 136ff. u. 143ff.), aus dem Desinteresse ihrer Autoren darf aber nicht geschlossen werden, es habe sie nicht gegeben. Reuters Beitrag hat im Rahmen des Werkes zentrale Bedeutung wegen der im Vergleich mit den westeuropäischen Königreichen pessimistischen Grundhaltung aufgrund ergebnisloser Nachsuche nach verwertbaren Quellen in Deutschland. Doch Ernüchterung hinsichtlich der Unbekümmertheit von Aussagen in der älteren Forschung ist heilsam. – In gleichem Sinn ist zu beurteilen der gescheite Aufsatz von Gerd Althoff, Geschichtsschreibung in einer oralen Gesellschaft (S. 151-179, dazu Althoff in: Essays, S. 16-28). Ausgehend vom bekannten Gemeinplatz der Abhängigkeit des Historikers von seiner Zeit und Umwelt wird hier konzise der Frage nachgegangen, wie Vorstellungen und Wünsche von Auftraggebern nachgekommen wurde. Dies wird dargetan an Verformungen in den Aussagen der Hrotswith von Gandersheim, in den Mathildenviten, bei Thietmar von Merseburg und Liudbrand von Cremona, nicht zu vergessen die Widukinds von Corvey über Otto den Großen. Episoden werden erzählt mit ganz konkreter Zielsetzung als politische Aussagen in kontroverser Konstellation. Geschichtliches Handeln erfuhr so die im Sinne des Auftraggebers richtige Gestaltung in dem Historiker vorgegebener Zielansprache der Argumentation.

 

Joachim Ott erörtert neu die Diskussion über Kronen und Krönungen in frühottonischer Zeit (S. 171-188) und kommt zutreffend zu einen non liquet im Bericht des Widukind von Corvey über die Ereignisse von 919 und macht die Schwierigkeiten der Interpretation der Aussagen über Ottos I. Erhebung 936 deutlich. Dessen erst eine Generation später vollendete Sachsengeschichte bietet den Beleg für die betont gesuchte Einheit von Salbung und Krönung, konnte indessen nicht die hinreichende Klarheit über Heinrichs I. Erhebung, dem Anfang der Herrschaft der neuen Dynastie also, erbringen. Die Zwiespältigkeit der Beurteilungen des Widukind von Corvey in der Forschung wird hier wie auch in anderen Beiträgen erneut bestätigt. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen hält Ott zutreffend an der Datierung des Mainzer Krönungsordos um das Jahr 960 fest und geht umsichtig in kurzem Referat auf die jüngeren Kontroversen über die Entstehung der Reichskrone ein, dies willkommen als Aufforderung zur Weiterarbeit auf dem schwierigen Feld des interdisziplinären Forschungsvorhabens. Dem Zeitansatz in der Ottonenzeit dürfte wohl die Priorität vor den Versuchen der Zuweisung in das 12. oder gar 13. Jahrhundert zukommen. – Mit derartigen Anliegen steht in Verbindung die groß angelegte Untersuchung von Hagen Keller, Das neue Bild des Herrschers (S. 189-211), ein Juwel der Siegelkunde im Blick auf den Wandel der Herrscherrepräsentation unter Otto dem Großen. (Dazu Keller in: Essays, S. 461-480 über die Kaiserkrönung). Das Herrscherbild auf Siegeln erfährt seinen Wandel zunächst durch die Kaiserkrönung, dann 965 und 972. Die Repräsentation wurde entscheidend verändert nach der Übernahme der Königsherrschaft in Italien 951, stärker natürlich durch die Krönung 962 und den lang anhaltenden Aufenthalt südlich der Alpen. Wichtig ist der Hinweis auf die Übernahme karolingischer Elemente auf dem Umweg über Italien. Auf die hier wie im Essay-Band dargebotenen Abbildungen sei eigens hingewiesen.

 

Auf die allgemeinen Umstände der Erhebung Magdeburgs im Verband der sich formenden Reichskirche geht ein Ernst-Dieter Hehl, Kaisertum, Rom und Papstbezug im Zeitalter Ottos I. (S. 213-235), weist auf Privilegierungen deutscher Kirchen durch Päpste und insbesondere die persönlichen Vikariate in Mainz hin. Die Bedeutung des Erzbischofs Friedrich wird herausgestrichen. Den Mainzer Widerstand gegen die Herstellung einer neuen Metropolitanwürde brach Otto I. erst 968 in den Verhandlungen mit Papst Johannes XIII. in Ravenna. – Mit historiographischen Sonderfragen beschäftigen sich mehrere Autoren. Johannes Koder, Byzanz als Mythos und Erfahrung im Zeitalter Ottos I. (S. 237-250), geht der negativen Einschätzung der Griechen bei Liudbrand von Cremona und deren Auswirkung auf die ottonische Geschichtsschreibung nach. Knut Görich, Mathilde, Edgith, Adelheid (S. 251-291) analysiert deren Beurteilungen in Briefen und Viten. Hervorstechend sind die insgesamt 94 Interventionen der drei Frauen mit stärkstem Anteil Adelheids als Indiz für persönliche Beziehungen zu italienischen Empfängern. – Hubertus Seibert, Eines großen Vaters glückloser Sohn? (S. 293-320), begegnet in kühler Beurteilung den mannigfachen Fehlzeichnungen Ottos II. in Quellen und moderner Literatur. Nachgegangen wird der Neuordnung im Südosten des Reiches nach der Internierung Heinrichs des Zänkers, der Zuweisung des Bistums Prag an die Mainzer Kirchenprovinz und nicht an Regensburg und damit an Bayern. Die Unterordnung süditalienischer Dukate wurde angestrebt, brachte indessen Kämpfe mit unglücklichem Ausgang; im neuen Imperatortitel ist eindeutig der Gegensatz zu Byzanz formuliert. Der frühe Tod des Kaisers schnitt alle Initiativen ab. Den Ansätzen zu gerechter Beurteilung dieses Herrschers kann man nur zustimmen. – Im Schlußteil des Bandes weist Hermann Fillitz auf die europäischen Wurzeln der ottonischen Kunst in Sachsen (S. 321-343) hin, wie sie sich manifestieren in Handschriften aus Corvey und der Produktion in anderen Orten. Der Gestaltung von Purpururkunden geht Fillitz nach mit anregender Einführung in die Diskussion über die Entstehungsorte und den Vergleich mit Vorbildern. Breiten Raum nehmen dann ein Erörterungen über die 16 Elfenbeinplatten als Restbestand einer vermutlich etwa fünfzig Exemplare umfassenden Sammlung aus Mailänder Provenienz. Ergänzend ist auf die parallele Darstellung hinzuweisen: Hermann Fillitz, Die Gruppe der Magdeburger Elfenbeintafeln. Mainz, Verlag Philipp v. Zabern 2001, 66 S., darin Katalog S. 29 ff. mit Abbildungen in Originalgröße.

 

Den in Anbetracht der Vielfalt und gelegentlichen Disparität der Beiträge nicht einfach zu bewältigende Schlußpart übernahm Bernd Schneidmüller. Er geht dem Wandel der Mediävistik in den Zeiten politischer Verstrickungen von der Kriegsgeschichte zur Würdigung von Freundschaft und Konsens an vielen Stellen nach in den Schlußgedanken über ottonische Erfolge in Ausdeutungen der Wissenschaft (S. 345-374). Das Wort vom Konsens und der konsensualen Herrschaft ist seinerseits jetzt zeitgemäß und klingt mehrfach an (S. 352, 363 und 366) in Übernahme von Äußerungen an anderen Stellen der jüngsten Forschung. Den radikalen Deutungswandel im Blick gerade auf die Ottonenzeit bringt Schneidmüller  in einen Zusammenhang mit der sehr bedenkenswerten Aussage, daß sich die Quellen nicht vermehrt haben (S. 354), doch jüngst Interessen und sogar Sehnsüchte sich veränderten. Man müsse die vertrauten Quellen nochmals lesen mit deren Aussagen über Herrschaftsbegründungen durch Gewalt und kriegerische Kraft der Könige, denen Herzöge und andere Große im Reich gewiß nicht nachstanden, worauf  auch von ihm hingewiesen wird (S. 363f). Konsens als moderner Ausdruck geht vorbei an der Realität von Niederlage, Unterwerfung, Anerkennung von Macht als historisches Geschehen. Waren da die älteren Erklärungen geschichtlichen Geschehens falsch? War das politische Denken im 10. Jahrhundert so konsensgeneigt?

 

Die Anzeige des Werkes wäre unvollständig, würde nicht auf Teile im zitierten Essay-Band hingewiesen: Hans K. Schulze, Sachsen als ottonische Königslandschaft; Dietmar Salewsky, Otto I. und der sächsische Adel; Gerhard Streich, Bistümer, Klöster und Stifte im ottonischen Sachsen; Heike Steuer, Das Leben in Sachsen zur Zeit der Ottonen (alle zusammen S. 30-107 mit Karten und vorzüglichen Bildern). Mit Otto dem Großen und seiner Familie beschäftigen sich Matthias Becher, Ludger Körntgen, Henry Mayr–Harting (S. 110-148). Hermann Kamp schildert Konflikte und Konfliktführung in den Anfängen der Regierung Ottos I. (S.168-178). Eckhard Müller–Mertens, Verfassung des Reiches, Reichsstruktur und Herrschaftspraxis unter Otto dem Großen (S. 189-198 mit Karten) sei eigens genannt. Bernd Kluge, Sachsenpfennige und Otto – Adelheid – Pfennige (S. 417-426), ergänzt seine Ausführungen im Kolloquiumsband. – Hagen Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Großen (S. 461-480), als die gewichtige Abhandlung zu zentralem Thema steht in engem Zusammenhang mit dem Beitrag zum Kolloquium. – Bernd Schneidmüller, Fränkische Bindungen (S. 503-616); sowie Johannes Fried , Otto der Große, sein Reich und Europa (S. 537-562) als reifste Einführung in Quellen und oft abwegige Literatur seien am Ende genannt mit Dank, aber auch Bedauern, daß man sie nicht gleich im Kolloquiumsband findet. Warum hat man da nicht ein wenig mit der Veröffentlichung gewartet? Die gleiche Frage kann auch gestellt werden im Blick auf viele Diskussionsbeiträge, die oftmals nur erwähnt werden. Da wurde wohl viel  Kluges gesagt, das man jetzt gerne noch schwarz auf weiß hätte.

 

Wiesbaden                                                                                                     Alois Gerlich