Nachschlagewerk des Reichsgerichts Preußisches Landrecht, Teil P Sonderrechtliche Schadensersatzpflicht, Teil Q Eigentumsbeschränkung, Teil We Öffentliche Abgaben, hg. v. Schubert, Werner/Glöckner, Hans Peter. Keip, Goldbach 1998. XXXVI, 452 S.

 

Die Erforschung der Rechtsprechungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren zunehmend auch auf die Judikatur des Reichsgerichtes ausgeweitet worden. Das zeigt sich etwa in der eindruckvollen Vielfalt monographischer Studien zu einzelnen Problemfeldern der reichsgerichtlichen Praxis[1] oder dem Sammelband über das Verhältnis der Reichsgerichtspraxis zum Bürgerlichen Gesetzbuch[2]. Eine systematische Analyse wurde und wird freilich nicht zuletzt durch die schiere Masse gedruckter wie ungedruckter Judikate erschwert. Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Hilfsmittel an Bedeutung, das von den Mitgliedern des Reichsgerichtes selbst im Jahr 1906 geschaffen wurde: Das ,Nachschlagewerk des Reichsgerichtes’ erfaßte in der Form von Leitsätzen nicht allein die in der amtlichen Sammlung publizierten Entscheidungen, sondern darüber hinaus auch eine Vielzahl von Judikaten, die lediglich in Zeitschriften wiedergegeben wurden oder sogar unpubliziert blieben[3]. Die Anordnung dieser Texte folgte der Systematik der entscheidungsgegenständlichen Gesetze. Auf diese Weise entstand im Lauf der Zeit eine Sammlung, die einem systematischen Kommentar ähnelte und möglicherweise auch die Grundlage für den seit 1910 erschienenen Kommentar der Reichsgerichtsräte gebildet hat.[4] So ist eine geradezu einzigartige Quelle zur Geschichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus entstanden. Seit 1994 erschließen Werner Schubert und Hans Peter Glöckner dieses Nachschlagewerk durch eine Edition, die mittlerweile alle Einträge des Nachschlagewerks zum Bürgerlichen Gesetzbuch umfaßt[5]. Der vorliegende Band betrifft demgegenüber einen anderen und - soweit ersichtlich - selten thematisierten Sachbereich der reichsgerichtlichen Judikatur: Das Reichsgericht wirkte nämlich gem. § 511 ZPO (1879) als Revisionsinstanz auch für Streitigkeiten über die Auslegung preußischen Landesrechts, soweit es der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen war. In der Dokumentation der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum revisiblen Landesrecht von Preußen kristallisiert sich also ein Stück preußischer Rechtsgeschichte. Daß dabei alle Ebenen preußischer Staatlichkeit betroffen waren, zeigt die umfangreiche Übersicht der reichsgerichtlich angewandten und deswegen im Nachschlagewerk rubrizierten Gesetze (XXIII-XXXVI). Dem entspricht die Fülle der Gliederungsebenen im Sachverzeichnis des Nachschlagewerks (XXIf.), das von ,A. Adels- und Fürstenrecht. Familienfideikommiß- und Lehensrecht (EGBG Art. 57-61)’ bis zum mehrfach untergliederten Bereich ,W. Staat und Verwaltung, Öffentliches Wegerecht’ reicht. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß der hier zu betrachtende Band mit lediglich drei von insgesamt 24 Sachgebieten nur ein vergleichsweise schmales thematisches Segment abdecken kann.

 

Freilich umfaßt bereits der erste Abschnitt über die sonderrechtliche Schadens­ersatzpflicht (Abschnitt ,P’ in der Systematik des Nachschlagewerkes) mit der Rechtsprechung zur Haftung aus dem preußischen Eisenbahngesetz von 1838[6] einen Normbereich, der in der Geschichte der Gefährdungshaftung wie auch des öffentlichen Nachbarrechts wesentliche Bedeutung erlangt hat. Das dokumentiert auch die Zusammenstellung der Judikate im Nachschlagewerk: Gleich die erste Entscheidung dieses Abschnitts aus dem Jahr 1901 bekräftigt die 1882 einsetzende reichsgerichtliche Judikatur[7] zur privatrechtsgestaltenden Wirkung der Eisenbahnkonzessionierung, die dem Nachbarn von Eisenbahnanliegern die actio negatoria versagte[8]. In einem Urteil des Jahres 1906 wird diese Privilegierung Eisenbahnen vorbehalten, die ,dem öffentlichen Verkehre dienen’ (S. 3). Hierin schien eine Rechtsprechung auf, die die nachbarrechtliche Privilegierung auf Anlagen im ,öffentlichen Interesse’ begrenzte[9] und die mit der Figur der ,gemeinwichtigen Anlage’ zum Teil bis in die Gegenwart reichen sollte[10]. Noch etwas mehr Gewicht nahm die durch das Eisenbahngesetz erstmals eingeführte Gefährdungshaftung in der reichsgerichtlichen Judikatur ein. Im Zentrum der Rechtsprechung stand dabei vor allem die Frage nach der Reichweite der Haftung und der möglichen Entlastung des Eisenbahnbetreibers durch den Nachweis ,eigene(r) Schuld des Beschädigten oder ein...(es) unabwendbaren äußeren Zufall(s)’, wie es in § 25 des Eisenbahngesetzes hieß[11]. Mit Recht betonen Schubert und Glöckner in der Einleitung ihrer Edition den Vorbildcharakter der reichsgerichtlichen Rechtsprechung für die spätere Judikatur zu anderen Gefährdungstatbeständen (vgl. XIIIf.).

 

Der hoheitliche Zugriff auf das Eigentum der Herrschaftsunterworfenen ist das Thema des nächsten Abschnittes (,Q – Eigentumsbeschränkungen’). Schon in der Abfolge der hierbei zugrunde gelegten Rechtsnormen wird die allmähliche Entstehung interventionsstaatlicher Handlungsformen sichtbar: Den Ausgangspunkt bilden die Regelungen in §§ 74, 75 Einl. ALR[12], aus denen das Reichsgericht in den zwanziger Jahren den heute als Gewohnheitsrecht bewerteten allgemeinen Aufopferungsanspruch ableiten sollte, wie auch die vorliegende Dokumentation deutlich macht (S. 62 m. Nrn. 69, 70). Mit dem preußischen Enteignungsgesetz von 1874 [13] entsteht ein differenzierteres gesetzliches Instrument für die immer weiter ausgreifende Tätigkeit des preußischen Staates. Die Fülle staatlicher Zugriffe spiegelt sich hierbei nicht zuletzt in der großen Zahl von Judikaten wider, in denen vor allem der Umfang der geschuldeten Enteignungsentschädigungen, die Frage nach dem ,vollen Wert’ i. S. v. § 8 Abs. 1 des Enteignungsgesetzes, zur Entscheidung steht. Im preußischen Fluchtliniengesetz von 1875[14] schließlich wird die planende Tätigkeit vor allem auf kommunaler Ebene sichtbar, die wegen der damit verbundenen Beschränkungen der Baufreiheit zu Enteignungsentschädigungen führte, die ihrerseits auch hier den thematischen Schwerpunkt der Dokumentation bilden. Allerdings finden sich auch Judikate zu den planungsermächtigenden Tatbeständen des Fluchtliniengesetzes wie etwa zum ,Bebauungsplan ... als eine(r) Sammlung polizeilicher Anordnungen, durch welche festgestellt wird, welche auf dem Weichbild einer Stadt belegenen Grundstücke mit Gebäuden besetzt werden und welche Grundstücke ... unbebaut gelassen werden sollen’, wie es in Judikaten von 1900/1901 heißt (S. 196). Andere Regelungen zur Eigentumsbeschränkung bildeten dagegen, wie die Dokumentation von Schubert und Glöckner zeigt, offenbar nur selten Anknüpfungspunkte der reichsgerichtlichen Judikatur. Etwas breiter ist auch der Raum, den Judikate zum preußischen Nachbarrecht des Allgemeinen Landrechts einnehmen. Indirekt zeigt sich hierin, wie ausgeprägt das Beharrungsvermögen einzelstaatlicher Zivilrechtsnormen gegenüber dem kodifikatorischen Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerade auf der Ebene des nachbarlichen Interessenausgleichs war.

 

Der dritte Abschnitt der Edition ist dem Abschnitt ,We - Öffentliche Abgaben’ gewidmet. Der Löwenanteil der Nachweise kommt dabei den Judikaten zum preußischen Stempelsteuergesetz von 1895[15] zu, über dessen Entstehung und mehrfache Änderung in der Einleitung umfassend informiert wird (XVI-XIX). Die Stempelsteuer wurde als Verkehrssteuer auf Urkunden insbesondere über zivilrechtliche Rechtsgeschäfte erhoben. Der Tatbestand eines solchen Rechtsgeschäftes wie etwa einer Familienstiftung, einer Verfügung von Todes wegen oder eines Gesellschaftsvertrages war maßgeblich für den Umfang der Steuerpflicht. Denn der Tarif der Stempelsteuer richtete sich nach der Art des Geschäftes oder auch des Hoheitsaktes: Für eine Standeserhöhung wie die Verleihung der Freiherrenwürde etwa waren 1200.- M, für die Erhebung in den Herzogstand 5000.- M Stempelsteuer zu entrichten. Im vorliegenden Zusammenhang wesentlich ist allerdings die Judikatur zur Einordnung zivilrechtlicher Geschäfte in den Stempelsteuertarif. Denn dabei werden immer wieder interessante Einblicke in die Praxis der Kautelarjurisprudenz in der Zeit von Kaiserreich und Weimarer Republik möglich. So beschäftigte sich das Reichsgericht mit komplexen gesellschaftsrechtlichen Strukturen wie der Erhöhung des Grundkapitals von ausländischen Aktiengesellschaften zur Finanzierung ihrer preußischen Zweigstellen, dem Tatbestand der gesellschaftsrechtlichen Nachschußpflicht oder Abgrenzung zwischen der Errichtung einer Aktiengesellschaft einerseits und der Aktienübernahme durch deren Gründer andererseits. Großes Gewicht gewann auch die Abgrenzung zwischen Kauf- und Tauschverträgen, da Tauschverträge stempelsteuerrechtlich günstiger für die Parteien ausfielen und deswegen immer wieder tauschrechtlich verdeckte Kaufverträge abgeschlossen wurden. Zu deren typologischer Einordnung entwickelte sich eine sehr differenzierte reichsgerichtliche Judikatur, die durch den vorliegenden Band systematisch erschlossen wird und den Einstieg für eine vertiefende Analyse der Kautelarpraxis bieten könnte.

 

Größere Bedeutung hat die Edition von Schubert und Glöckner allerdings für die Analyse der reichsgerichtlichen Judikatur, bietet sie doch hierbei ein künftig unentbehrliches Hilfsmittel. Zugleich wird im vorliegenden Band deutlich, wie sehr die preußische Rechtspraxis auch auf der Ebene der Rechtsprechung mit dem Reich verflochten war. Vielleicht wird es eines Tages gelingen, auch die Rechtsprechungspraxis etwa des Berliner Kammergerichts in ähnlicher Form wie hier zu dokumentieren. Dann würde es möglich werden, auch nach wechselseitigen Beeinflussungen von Reichsgericht und preußischer Gerichtsbarkeit zu fragen. So könnte die Edition von Schubert und Glöckner nicht zuletzt auch den Ausgangspunkt bilden, um die seit langem diskutierten Beziehungen zwischen Preußen und dem Reich von der Perspektive der Rechtsprechungsgeschichte her in den Blick zu nehmen.

 

München/Münster                                                                                                      Andreas Thier

 



[1] Dazu im Überblick: Hans Peter Glöckner, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts: Thema mit Variationen, in: Ius Commune 25 (1998), 391-425. Aus neuerer Zeit s. etwa Richard Scholz, Analyse der Entstehungsbedingungen der reichsgerichtlichen Aufwertungsrechtsprechung. Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der konservativen Geldpolitik der Reichsbank und der Inflationspolitik der Reichsregierung, Frankfurt am Main 2001.

[2] Ulrich Falk, Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), Frankfurt am Main 2000 (= Rechtsprechung, Materialien und Studien, Bd. 14)

[3] Zur Entstehung s. Werner Schubert, Hans Peter Glöckner, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Nachschlagewerk des Reichsgerichts, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 1: §§ 1-133, Goldbach 1994, IX-XL; Karl Otto Warneyer, Das Nachschlagewerk beim Reichsgericht, in: Adolf Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, Berlin/Leipzig 1929, 54-57.

[4] Als Übersicht über die Entstehung der Kommentarliteratur unmittelbar in der Zeit nach der Entstehung des BGB s. Heinz Mohnhaupt, Die Kommentare zum BGB als Reflex der Rechtsprechung (1897-1914), in: Falk, Mohnhaupt, Das BGB und seine Richter (Fn. 2), 495-531, hier 507-511.

[5] Soweit ersichtlich ist zuletzt erschienen Werner Schubert, Hans Peter Glöckner, Nachschlagewerk des Reichsgerichts, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 10: §§ 1922-2385, Goldbach 2002.

[6] Gesetz über die Eisenbahnunternehmungen, v. 3. 11. 1838, GS 1838, S. 505. Klaus Bracht, Der Bau der ersten Eisenbahnen in Preußen. Eine Untersuchung der rechtlichen Grundlagen und der bei der Gründung und dem Grunderwerb aufgetretenen Rechtsprobleme, Berlin 1998, 20-23. Werner Schubert, Das preußische Eisenbahngesetz von 1838, in: ZRG GA 116 (1999), 152-203.

[7] RGZ 7, 265, 267.

[8] Andreas Thier, Zwischen actio negatoria und Aufopferungsanspruch: Nachbarliche Nutzungskonflikte in der Rechtsprechung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Falk, Mohnhaupt, Das BGB und seine Richter (Fn. 2), 407-449, 439 f. m. w. N.

[9] Grundlegend RGZ 31, 285; 73, 270. Zum Ganzen: Thier, Zwischen actio negatoria und Aufopferungsanspruch (Fn. 8), 439-443.

[10] Vgl. aus jüngster Zeit etwa BGHZ 144, 200, 205f. (zum Fall eines Drogenhilfezentrums).

[11] Zum Gefährdungshaftungstatbestand des Eisenbahngesetzes s. Regina Ogorek, Untersuchungen zur Ent­wicklung der Gefährdungshaftung im 19. Jahrhundert, Köln/Wien 1975, 61-69 m. w. N.

[12] Zur normativen Grundlage des Aufopferungsanspruchs und seinem Fortwirken Andreas Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, Frankfurt am Main 1993, 320-341.

[13] Gesetz über die Enteignung von Grundeigenthum, v. 11. 6. 1874, GS 1874, S. 253.

[14] Gesetz, betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften, v. 2. 7. 1875, GS 1875, 561.

[15] Stempelsteuergesetz, v. 31. 7. 1895, GS 1895, 413.