Müller,
Wolfgang P., Die Abtreibung. Anfänge der Kriminalisierung 1140–1650 (=
Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 24). Böhlau,
Köln 2000. VIII, 355 S.
Die
vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung einer von Bernhard
Schimmelpfennig betreuten Augsburger geschichtswissenschaftlichen
Habilitationsschrift, die unter dem Titel „Die Anfänge des modernen
Abtreibungsverbots im späteren Mittelalter“ im Jahre 1997 von der
philosophischen Fakultät II der Universität Augsburg angenommen wurde. Sie
behandelt den geschichtlichen Hintergrund eines Themas, das gerade in den
letzten Jahrzehnten und erneut in der unmittelbaren Gegenwart Gegenstand
heftiger öffentlicher Diskussion ist und vermutlich noch lange sein wird,
nämlich die Frage der Strafbarkeit der Abtreibung, d. h., um die Sache beim
Namen zu nennen, der Tötung ungeborenen menschlichen Lebens. Es gehört zu den
charakteristischen Merkmalen der öffentlichen Diskussion, daß sie sich stets
der verharmlosenden Diktion „Abtreibung“ statt der in der Sache zutreffenden
Bezeichnung „Tötung ungeborenen Lebens“ bedient, um den wirklichen Sachverhalt,
um den es geht, zu kaschieren. Um es unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen:
Wer abtreibt, tötet, noch dazu vorsätzlich, d. h. vernichtet mit Wissen und
Wollen fremdes, nicht eigenes menschliches Leben. Von dieser Grundtatsache wird
man ausgehen müssen, wenn man sich mit der Geschichte des Abtreibungsverbots,
wie es der Verfasser mit der zu besprechenden Untersuchung unternimmt,
beschäftigt.
Für den
Verfasser beginnt die Kriminalisierung der Abtreibung erst im Hochmittelalter,
genauer gesagt in der Frühscholastik des 12. Jahrhunderts. In der Antike, so
meint er, habe sich die Frage nicht gestellt. Nach seiner Ansicht wurden erst
mit der Frühscholastik und der von dieser beeinflußten Jurisprudenz die
geistigen und formalen Rahmenbedingungen für die Auseinandersetzung mit dem
Problem der Tötung ungeborenen Lebens formuliert, deren Kontinuität bis in den
Gegenwart reiche. Folgerichtig befaßt er sich in der Einleitung zu seiner
Untersuchung zunächst mit den Grundlagen, die für diese Auseinandersetzung
maßgebend gewesen sind, nämlich zum einen mit der antiken Überlieferung,
namentlich der Stoa, und zum anderen mit der christlichen Offenbarung und deren
Umdeutung im Sinne der antiken Lehren. Wichtigster Bestandteil beider ist für
ihn die von den frühen Kirchenvätern entwickelte Lehre, wonach die Tötung des
ungeborenen menschlichen Lebens der Tötung eines Menschen gleichzusetzen ist,
die, so betont der Verfasser, auch heute noch die gültige Lehre der
katholischen Kirche darstelle. Uneinigkeit habe es lediglich in Bezug auf die
Frage gegeben, ob dies erst für den ausgeformten foetus gelte oder
bereits für die Insemination zutreffe. Diese Lehre habe schon im römischen
Recht, vor allem im Corpus iuris civilis, ihren Niederschlag gefunden,
wobei dort allerdings der eigentliche Grund für die Strafbarkeit der Abtreibung
nicht der Schutz des ungeborenen Lebens gewesen sei, sondern der Schutz von
Rechtsverhältnissen des Familien‑ und Erbrechtes sowie der Schutz der
Gesundheit und des Lebens der Mutter vor Giftmischerei und deren Folgen.
Diese
römischrechtliche Auffassung von der Strafbarkeit der Abtreibung hat sich nach
Ansicht des Verfassers im Kern auch in den Volksrechten des Frühmittelalters
durchgesetzt, wobei hierbei zu Recht darauf verwiesen wird, daß hier
gelegentlich auch Hinweise auf die menschliche Natur des ungeborenen Lebens zu
beobachten sind. Ob diese Einschätzung des Verfassers in ihrer Allgemeinheit
zutrifft, erscheint zweifelhaft. Für die Lex Baiuvariorum jedenfalls
steht nicht der Schutz familien‑ und erbrechtlicher Verhältnisse im
Vordergrund, sondern eindeutig der Schutz der Mutter und des foetus,
wobei beim foetus zwischen dem noch nicht lebensfähigen und der
lebensfähigen unterschieden wird. Für den lebensfähigen foetus wird als
Sanktion das volle Wergeld fällig, für den noch nicht lebensfähigen ein Betrag
von einem Drittel des Wergeldes, immerhin 40 Solidi, d. h., wenn man die
Berechnung der Lex Ribuaria zugrundelegt, eine Rinderherde von 40
Rindern. Auch die Deutung des Verfassers der in der Lex Baiuvaiorum
angedrohten ewigen Buße ist nicht zutreffend, insofern diese Buße nicht wie vom
Verfasser behauptet als bloße Ausgleichszahlung qualifiziert werden kann,
sondern wie jede Buße die für das Frühmittelalter typische Sanktion für
Friedensbrüche in Form von Sühnezahlungen darstellt.
Eingehend
beschäftigt sich der Verfasser danach im ersten Teil seiner Arbeit mit der
Entwicklung der gemeinrechtlichen Lehre von der Strafbarkeit der Abtreibung.
Rechtsquelle für die Qualifikation der Abtreibung als strafbarer Handlung ist
für den Verfasser zunächst das Decretum Gratiani, später auch der Liber
extra, und in der weltlichen Rechtslehre, die vom Verfasser untypisch als
Zivilistik statt als Legistik bezeichnet wird, das Corpus iuris civilis,
wobei allerdings festzuhalten ist, daß sowohl das kanonische Recht wie das
römische Recht, wie der Verfasser zu Recht betont, nur wenige Stellen aufweist,
die unmittelbar auf die Abtreibung bezogen werden können. Decretum Gratiani,
Liber extra und Corpus iuris civilis, genauer müßte es heißen:
die justinianische Gesetzgebung, bilden für den Verfasser die Grundlage der
gemeinrechtlichen Lehre, die namentlich in der Rechtsliteratur des Hoch‑
und Spätmittelalters entwickelt worden ist, wobei, so der Verfasser, das
kanonische Recht mit dem Decretum Gratiani eine Führungsrolle gespielt
habe, deren Auswirkung bis in das 18. Jahrhundert beobachtet werden könne.
In der
Folge wendet sich der Verfasser der Entwicklung dieser Lehre im einzelnen zu,
zunächst in der frühen Kanonistik, sodann in der Kanonistik und in der Legistik
des Hochmittelalters ‑ der Verfasser spricht hier erneut mißverständlich
von Zivilistik ‑ und schließlich in der Theologie, die allesamt
erkennbar, wie der Verfasser meint, unter dem Einfluß der gratianischen Lehre
gestanden hätten. Im Anschluß daran wird eine Ubersicht über die Abtreibungslehre
des Ius commune gegeben, als deren Grundlage der Verfasser die Lehre der
Glossatoren betrachtet, ohne allerdings die Unterschiede zwischen diesen und
der Rolle der Kommentatoren bei der Entstehung und Ausbildung des Ius
commune deutlich zu machen. Eine besondere Bedeutung erlangt für den
Verfasser das kirchliche Bußwesen und die kirchliche Synodalgesetzgebung, bei
denen sich nach seiner Ansicht in zunehmendem Maße die Lehren des Ius
commune durchgesetzt hätten. Eine Verschärfung der Strafandrohungen für
Abtreibungen könne allerdings in der Synodalgesetzgebung nicht beobachtet
werden, vielmehr sei in ihr das Hauptaugenmerk auf die Zuweisung der
Absolutionsbefugnis gerichtet gewesen.
Bei der
weltlichen Gesetzgebung und dem weltlichen Gewohnheitsrecht glaubt der
Verfasser in der europäischen Rechtslandschaft, wie er es nennt, eine
Scheidelinie zwischen dem von der Statutengesetzgebung bestimmten europäischen
Süden und dem gewohnheitsrechtlich orientierten Norden ziehen zu können, was in
dieser Allgemeinheit sicherlich nicht zutrifft. Zutreffend ist diese
Unterscheidung für Frankreich, nicht hingegen für das Heilige Römische Reich
und auch nicht für die Königreiche im Norden. Auch die vom Verfasser bei der
Darstellung der Rechtsgewohnheiten verwendete Terminologie in Bezug auf das
einheimische Recht, namentlich das einheimische Strafrecht, das er als
Laienstrafrecht und dessen Rechtsprechung er als Laienrechtsprechung
qualifiziert, ist ungenau. Sie läßt, wenn man die Bezeichnung Laienrecht und Laienrechtsprechung
beim Wort nimmt, auf ein grundsätzliches Mißverständnis des mittelalterlichen
Rechtslebens beim Verfasser schließen. Die einheimische Rechtsbildung wie die
einheimische Rechtsprechung lagen keineswegs in der Hand von Laien in unserem
heutigen Verständnis des Wortes, sondern von rechtskundigen Personen, die
entweder als Repräsentanten der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft oder zusammen
mit diesen das Recht handhabten. Als Laien wurden diese nur im Verhältnis zu
den gelehrten Juristen betrachtet. Von einem Laienrecht und einer
Laienrechtsprechung kann daher insoweit keine Rede sein. Auch die These des
Verfassers, wonach im Heiligen Römischen Reich eine Strafbarkeit der Abtreibung
erstmals in der Bambergensis von 1507 begegnet, ist zumindest fraglich, da
schon die Tiroler Malefizordnung von 1499 eine ähnliche, allerdings nicht ganz
eindeutig zu verstehende Vorschrift enthält. Richtig ist dagegen, daß in der
Bambergensis zum ersten Mal die Bezeichnung Abtreibung für die Tötung
ungeborenen Lebens verwendet wird. Richtig ist auch, daß die einschlägige
Vorschrift der Bambergensis Ius commune enthält, insofern die
Bambergensis nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorrede sowohl auf dem
kaiserlichen Recht wie auf den anerkannten Gewohnheiten des Landes beruht,
wobei mit dem kaiserlichen Recht wohl auch das Ius commune gemeint war.
Die Bambergensis war übrigens nicht, wie der Verfasser meint, ein
Strafgesetzbuch, sondern eine Strafgerichtsordnung, d. h. ein Gesetz, dessen
Adressaten die bei Gericht tätigen Personen waren.
Ausführlich
setzt sich der Verfasser im zweiten Teil seiner Arbeit mit der Rechtspraxis in
Sachen Abtreibung auseinander, zunächst bei den bischöflichen Gerichten, sodann
in der päpstlichen Pönitentiarie und schließlich im weltlichen Prozeß, und zwar
sowohl im Akkusationsprozeß wie im Inquisitionsverfahren. Ob man den
Akkusationsprozeß, wie beim Verfasser geschehen, als Privatklageverfahren
bezeichnen kann, ist zumindest terminologisch zweifelhaft. Im Mittelpunkt der
weiteren Ausführungen steht für den Verfasser in erster Linie die Prozeßpraxis
in Frankreich, Italien und Spanien, die er als die Länder des Ius commune
bezeichnet, und erst in zweiter Linie die Praxis im Heiligen Römischen Reich.
Für die Rechtsprechung im Heiligen Römischen Reich führt er eine Reihe von
Schöffensprüchen städtischer Gerichte an, die unterschiedliche Sanktionen für
eine Abtreibung erkennen lassen, deren Deutung allerdings im einzelnen
überprüfungsbedürftig erscheint. In beiden Bereichen wie auch im Verhältnis der
Bereiche zueinander bedient sich der Verfasser einer vergleichenden Methode,
vor der allerdings gewarnt werden muß. Falls man nämlich Vergleiche zwischen
gerichtlichen Entscheidungen in den verschiedenen Teilen Europas ziehen will,
was sicherlich wünschenswert ist, wird man zuvor nicht nur eine genaue Analyse
der Einzelfälle, sondern auch der jeweiligen Rechtslage und der Gerichtspraxis
der Gerichte im allgemeinen unternehmen müssen, bevor man ein vergleichendes
Resumee zieht. Ansonsten läuft man womöglich Gefahr, Unvergleichbares
miteinander zu vergleichen. Daß bei der Verfolgung der für strafbar erklärten
Abtreibungen dem Prozeßrecht eine besondere Rolle zukam, wie der Verfasser
hervorhebt, ist nicht zu bestreiten, allerdings auch keine Besonderheit. Prozesse
wegen Abtreibung unterscheiden sich als solche in keiner Weise von anderen
Strafprozessen des frühneuzeitlichen Prozeßrechtes. Interessant sind die
Ausführungen des Verfassers über die sozialen Verhältnisse und die persönlichen
Umstände der an Abtreibungen Beteiligten, die er unter dem Gesichtspunkt der
mentalitätsgeschichtlichen Einblicke zusammenfaßt. Für den juristischen
Betrachter verbergen sich dahinter allerdings nichts anderes als die Fragen
nach den konkreten Umständen bei der Begehung der Tat und nach der
Schuldfähigkeit des Täters. Am Schluß behandelt der Verfasser die Verbreitung
der Kenntnisse über den medizinischen Sachverhalt bei der Abtreibung und
versucht mit Beispielen aus dem angelsächsischen Raum zu belegen, daß dort dem
ungeborenen Kind ab der Mitte des 14. Jahrhunderts kein eigenständiger Wert
mehr beigemessen wurde, was jedenfalls für die Rechtslage auf dem Kontinent
nicht behauptet werden kann.
Insgesamt
hinterläßt die Lektüre der Untersuchung jedenfalls bei einem rechtshistorischen
Leser einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite trägt der Verfasser
eine beachtliche Fülle von Quellenbelegen zur Entstehung und Ausbildung der
Lehre von der Strafbarkeit der Abtreibung und deren legislativer wie
prozessualer Realisation in Europa zusammen, auf der anderen Seite zeigt die
Behandlung der Quellen im einzelnen wie überhaupt das Verständnis der
rechtlichen Vorgänge und der rechtlichen Zusammenhänge vielfach Ungenauigkeiten
und Schwächen, als deren Folge die Ergebnisse im einzelnen nicht selten
anfechtbar erscheinen. Auf einige Fälle ist im Vorstehenden ‑ allerdings
nur beispielhaft ‑ hingewiesen worden. Vielleicht liegt dies auch an der
auf die Abtreibungsproblematik fokussierten Fragestellung der Arbeit, die den
Verfasser geradezu zwingt, die Quellenbelege nur für die Frage nach der
Strafbarkeit der Abtreibung auszuwerten. Hier wäre es vielleicht hilfreich
gewesen, wenn der Verfasser nicht die Frage nach der Kriminalisierung der
Abtreibung als solcher, sondern überhaupt die Frage nach dem Schutz des
ungeborenen Lebens im Ganzen in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt hätte,
bei der die Frage nach der Strafbarkeit der Abtreibung nur einen Teilaspekt
bildet. Denn es geht ja, wie eingangs ausgeführt, bei der Frage nach der
Strafbarkeit der Abtreibung um den strafrechtlichen Schutz des ungeborenen
menschlichen Lebens vor vorsätzlicher Tötung, um nicht mehr, aber auch um nicht
weniger.
Salzburg Arno
Buschmann