Müller, Tobias, Recht und Volksgemeinschaft. Zu den Interdependenzen zwischen Rechtspolitik und (instrumentalisierter) öffentlicher Meinung im Nationalsozialismus auf Grundlage der Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS (= Rechtsgeschichtliche Studien 1). Kovač, Hamburg 2001. 376 S.

 

Die von Heinz Boberach 1984 in 17 Bänden herausgegebenen, allerdings nicht vollständig erhalten gebliebenen Lageberichte des Sicherheitsdienstes (SD) der SS sind bisher noch nicht explizit Gegenstand rechtshistorischer Arbeiten gewesen. Maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgebietsberichterstattung hatten neben dem Staatsrechtler Reinhard Höhn der Leiter der Zentralabteilung im SD-Hauptamt und spätere Chef des Amtes III im RSHA Otto Ohlendorf, der als eigentlicher Organisator der Stimmungs- und Meinungsforschung des SD gelten kann. Mit dem Abschluss des Aufbaus des Inlandsnachrichtendienstes begann ab 9. 10. 1939 mit den „Berichten zur innenpolitischen Lage“ die regelmäßige und kurzfristige „Unterrichtung des Reichsführers SS, der Staatsführung und der Leitung der Partei über die politische Lage im Reich und über die Stimmung der Bevölkerung“ (S. 119; nach Boberach, Bd. 1, S. 20). Die Berichterstattung des Sicherheitsdienstes war um „Objektivität“ bemüht, was nach Meinung Müllers keinesfalls zu der Einschätzung verleiten darf, den Nachrichtendienst des Sicherheitsdienstes „als – überspitzt gesagt – Institution kritischer Vernunft und dementsprechend korrigierend rationalen Einflusses auf eine ansonsten ideologisch dominierte, irrationale und auf Radikalisierung angelegte Politik, der die Meldungen aus dem Reich ein fortwährendes Ärgernis waren, zu betrachten“ (S. 131). Der Nachrichtendienst stellte niemals das nationalsozialistische System in Frage, sondern war nur darauf bedacht, „defizitär begriffene strukturelle Missstände aufzudecken und geeignete Maßnahmen zu ihrer Behebung anzuregen“ (S. 121). Die Beobachtung der Stimmungen und Haltungen der Bevölkerung war vor allem auf das näherungsweise Erreichen idealer Systemfunktionalität ausgerichtet, so dass die „dergestalt ermittelte informelle öffentliche Meinung als – wenn auch zweifellos wichtiger – Rechnungsposten im Konzept der Machtsicherung und des Machtaufbaus“ aufgefasst wurde (S. 120). Als gegen Kriegsende die zunehmend negativen Berichte die Diskrepanzen zwischen der ideologischen Konstruktion der Volksgemeinschaft und ihrem tatsächlichen Zustand offenlegten, brachte Bormann Mitte 1944 die Berichterstattung in ihrer bisherigen Form zum Erliegen. – Gegenstand des Werkes Müllers sind die unter der Rubrik „Verwaltung und Recht“ erstatteten Berichte vornehmlich zur Strafgesetzgebung und Strafjustiz. Die Arbeit beginnt nach kurzen Abschnitten über die Begriffsbestimmungen und das Erkenntnisinteresse sowie über die Konkretisierungen am „Fall Schlitt“ (S. 26ff.; dieser Fall gab Anlass für die Reichstagsrede Hitlers am 26. 4. 1942) mit der Kennzeichnung der NS-Weltanschauung als komplementärer Bestandteil von Rechtsverständnis und Rechtspolitik. Erörterung u. a. des „neuen“ Volksbegriffs, des Gemeinschafts-, Rassen- und Führerbegriffs sowie des Verhältnisses von Führerprinzip und Volksgemeinschaft. Sodann entwickelt Müller einen Analyserahmen zur Ermittlung von Interdependenzen zwischen Rechtspolitik und öffentlicher Meinung. Erst dann folgt eine Kennzeichnung der Organisation des Sicherheitsdienstes und dessen Inlandsnachrichtendienst sowie eine Bewertung des Sicherheitsdienstes und der Funktionen seiner Berichtstätigkeit.

 

In den nächsten drei Abschnitten erfolgt die Detailanalyse der Lageberichte des Sicherheitsdienstes, zunächst unter dem Gesichtspunkt: „Reaktionen der Bevölkerung und der Rechtswahrer im Zusammenhang mit dem Funktionswandel der Norm im Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die Rechtsanwendung“ (S. 136ff.). Behandelt werden die Reaktionen auf das materielle und formelle Strafrecht. Müller spricht in diesem Zusammenhang vom „improvisatorisch-experimentellen Stil nationalsozialistischer Rechtspolitik, die Zwecktauglichkeit neuer Normierungen in einem evolutionären Prozess erproben lassen zu wollen“ (S. 138), was bereits bei den Justizbehörden zu erheblichen Schwierigkeiten in der Rechtsfindung führte. Der Öffentlichkeit war nicht klar zu machen, dass das neue Strafrecht „im besonderen Maße auf den bei der Tat zum Ausdruck kommenden verbrecherischen Willen des Täters abstellt und sich insbesondere daraus sehr oft auffällige Unterschiede im Strafmaß bei an sich gleichen Folgen der Tat ergeben können“ (S. 278 nach einem Nachrichtendienst-Bericht vom 19. 3. 1942). Hier gingen „Bekundungen des Unverständnisses“ gegenüber dem Willensstrafrecht mit den eher traditionellen Orientierungen an der Schuldproportionalität als maßstabgerechter Sühne Hand in Hand.

 

Der nächste Abschnitt befasst sich mit „Stimmungen und Haltungen in der Volksgemeinschaft zur sie betreffenden Rechtsanwendungspraxis“ (S. 178ff.), wobei Müller besonderes Augenmerk auf die Verfahren gegen Kriegswirtschaftsverbrecher richtet. Der letzte Sicherheitsdienst-Bericht zum Thema „Recht und Volksgemeinschaft“ vom 17. 9. 1944 erfolgte unter dem Titel „Stimmungsmäßige Auswirkungen der Strafrechtspflege. Zweierlei Maß“ (S. 218ff.). Es ging um zweierlei Maß in der Verfolgung, im Urteil und in der Urteilsveröffentlichung sowie in der Haftfrage und in der Strafvollstreckung. Alle diese Vorwürfe bezogen sich auf Straftaten und Strafverfahren gegen „höhergestellte Personen“, die nach der vom Nachrichtendienst erkundeten öffentlichen Meinung gegenüber dem einfachen Mann privilegiert behandelt wurden. Der letzte Abschnitt des Werkes („Kontextualisierung der SD-Berichterstattung zur Strafrechtspflege“, S. 228ff.) befasst sich zunächst mit der direkten und zentralisierten nichtnormativen Steuerung der Justiz nach der „Justizkrise“ im Frühjahr 1942 und den dazu entwickelten Vorstellungen des Nachrichtendienstes, sodann mit der Bedeutung der Presseberichterstattung über die öffentliche Wahrnehmung der Rechtsanwendung und endlich mit möglichen Einflüssen auf die Polenstrafrechtspflegeverordnung von 1941 am Beispiel der Berichte über die Polenstrafrechtspolitik (S. 287ff.).

 

Letztlich ist nach Müller der Anspruch des Nationalsozialismus, „über die Steuerung der Strafrechtspflege dieser zu einem einheitlicheren Erscheinungsbild zu verhelfen, ohne dabei die Akzessorietät der Rechtsanwendung zur wechselnden Verkündung des politisch angeblich Notwendigen aufgeben zu wollen“ gescheitert, da dieses Ziel „zwangsläufig utopisch“ sei (S. 334f.). Zwei ineinander verschachtelte und als strukturell zu bezeichnende Zielkonflikte hätten die „unübersteigbare Grenze eines solchen Vorhabens“ gezeigt. Zum einen sei es gerade die aus der erfahrenen Uneinheitlichkeit der Rechtsanwendung resultierende Vermutung weiter Teile der Bevölkerung gewesen, informelle Einflussnahmen auf die Strafverfahren bestimmten deren Ergebnisse, die die Rechtsprechung im Führerstaat in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer wieder diskreditierte. Diese Einheitlichkeit abstellen zu wollen durch eine Verstärkung der informellen Einflussnahme im Wege der Lenkung sei „wohl nur als untauglicher Versuch einzustufen“ (S. 334).

 

Insgesamt war es das Ziel der Untersuchungen Müllers, die strukturellen und latenten Einflüsse der Rechtspolitik auf die öffentliche Meinung und umgekehrt sichtbar zu machen. Die Studie versteht sich als Versuch, „Grundlagenforschung im Hinblick auf Strafrechtsverständnis, ­anwendung und ­politik im Nationalsozialismus unter Einbeziehung bisher unberücksichtigter zeitgenössischer Einflüsse und der heutigen Erkenntnisse außerhalb der Strafrechtsgeschichte liegender Wissenschaftsdisziplinen zu betreiben und damit Beiträge zur Historisierung liefern zu wollen. Gleichzeitig ging es um die Sensibilisierung für den Einfluss kollektiver Individualhaltungen auf die sonst voraussetzungslos untersuchten Gegenstände der Normen- und Institutionengeschichte, und damit auch um einen Beitrag „gegen die sich im heutigen gesellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor haltenden Theorien reiner Manipulation, Verführung und unbegrenzter Steuerung (S. 341). Die Einbeziehung außerrechtsgeschichtlicher „Wissenschaftsdisziplinen“ erweist sich einerseits als sehr fruchtbar, macht die Lektüre des Werkes mitunter aber etwas mühsam. Der Leser ist gut beraten, wenn er parallel zur Lektüre des Werkes auch die vom Autor ausgewerteten, nicht sehr umfangreichen Sicherheitsdienst-Berichte mit heranzieht. Es ist zu wünschen, dass weitere Untersuchungen dem komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Führung, Funktionseliten und Volksgemeinschaft auch für den Bereich der Zivilrechtspolitik nachgehen, etwa für das Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht von 1938, zu dessen geplanter Änderung der Nachrichtendienst noch am 18. 6. 1943 dem Reichsjustizministerium die Ergebnisse einer Umfrage übersandt hatte (wiedergegeben bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1993, S. 978ff.).

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert